Kapitel 4
Kapitel 4
Ben weinte. „Es tut mir leid, Noah! Wirklich!“ Noah strich seinem kleinen Bruder übers blonde Haar. „Hey! Es war nicht deine Schuld ok!? Also red dir das nicht ein!“
„Aber du hast gesagt ich soll aufpassen und das hab ich ja nicht gemacht!“, schluchzte er weiter. Noah saß auf Ben`s weißem Krankenhausbett und schüttelte den Kopf: „Ich sag das jetzt zum letzten Mal: Es war nicht deine Schuld! Klar?“
Ben zog noch einmal die Nase hoch und nickte. „Wann kommt Papa?“ „Der ist bestimmt schon unterwegs! Sobald er hört, dass du beinahe abgesoffen bist, lässt er alles stehen und liegen, setzt sich ins Auto und fährt sofort her!“
Es klopfte. Erwartungsvoll reckte Ben den Hals, doch es war nur eine Schwester, die dennoch eine erfreuliche Überraschung mitbrachte, wie Ben fand. „Na? Hat hier jemand vielleicht Lust auf ein bisschen Eis?“ „Jaja!“, rief Ben munter und streckte die Hände nach dem Eisbecher aus. Noah musste unwillkürlich lächeln, denn so wie Ben das Eis hinunter schlang, konnte es ihm nicht schlecht gehen. Dann dauerte es auch nicht mehr lang, bis Michael ins Zimmer stürzte.
Als er jedoch sah, wie vergnügt Ben bereits sämtliche Krankenschwestern um den Finger gewickelt hatte und ein Eis nach dem anderen verdrückte, beruhigte er sich etwas. Noah verhielt sich Michael gegenüber jedoch noch distanzierter als sonst.
Hatte Markus ihm schon erzählt was passiert war? Michael ließ sich jedenfalls nichts anmerken. Als er sich von Ben`s Unversehrtheit überzeugt hatte, wandte er sich schließlich an Noah.
„Und wie geht es dir? Alles in Ordnung?“ Noah nickte, musste sich jedoch instinktiv an die immer noch schmerzende Nase fassen. Die Geschichte mit Markus wollte er lieber verschweigen. Michael stand mal wieder etwas verlegen vor Noah. Er wusste nicht was er sagen sollte und war fast froh, als Ben ihn etwas fragte und er sich ohne Gewissensbisse haben zu müssen, wieder seinem (anderen) Sohn zuwenden konnte. Gespräche mit Noah waren immer sehr kurz. Noah war auch froh, dass Michael sich wieder Ben zu wand und stand auf. „Ich geh mal was trinken!“, murmelte er. Michael sah auf: „Brauchst du Geld?“
Umständlich begann er in sein Portmonee aus der Hosentasche zu kramen, aber Noah winkte ab und verschwand schnell aus dem kleinen Zimmer.
Es kam ihm vor wie eine Befreiung und er konnte nicht umhin tief auszuatmen, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Er fröstelte etwas, obwohl es nicht kalt war. Aber er war müde. Dieser Tag war so erlebnisreich gewesen wie seit langem keiner mehr. Die Arme vor dem Bauch verschränkt und mit hochgezogenen Schultern tappste er über den Flur und ließ sich in der Besucherecke in einen der Sessel fallen.
Irgendwie war heute einfach alles eskaliert. Und er war hilflos gewesen. Wie er es hasste die Kontrolle über Dinge und Geschehnisse zu verlieren und das war ihm heute gleich mehrmals passiert. Noch immer klangen ihm Markus` Worte in den Ohren: „ ...oder hast du etwa geglaubt du könntest deiner Vergangenheit davon laufen?“ Ja! Ja, eigentlich hatte er das geglaubt. Eigentlich hatte er geglaubt, dass hier alles anders werden würde, dass er hier einen Neuanfang wagen könnte. Hatte Markus doch recht? Würde ihn das wirklich sein ganzes Leben lang verfolgen?
Ein Hüsteln ließ ihn aufblicken.
„Eure Sachen! Du...ihr habt sie vergessen...und da dachte ich, ich bringe sie einfach her, weil ich ja deine Adresse gar nicht kenne und Ben ja auf jeden Fall noch hier sein würde...“ Sie hielt ihm den Korb entgegen. Er nahm ihr den Korb ab und stellte ihn neben sich auf den Boden. Einen Augenblick stand sie unschlüssig vor ihm, dann zog sie sich einen Sessel heran und verkroch sich ebenso wie Noah darin. Ein paar Minuten vergingen bis einer von ihnen etwas sagte. Doch Shelly brannte die Frage auf der Seele.
„Warum, warum hat Markus dich geschlagen?“ Noah sah nicht auf, als er antwortete: „Weil ich dran Schuld war, dass Ben ins Wasser gefallen ist!“ Überrascht richtete sie sich auf. „Was? Wieso? Wie kommst du denn darauf?“
„Na weil ich doch auf ihn aufpassen sollte! Er ist doch noch so klein und er kann nicht schwimmen!“ Shelly schüttelte den Kopf. „Er ist doch auch Ben`s Bruder, wie kann er da behaupten, dass es allein deine Schuld sei und überhaupt war er es doch der dich abgelenkt hat! Es war ein Unfall! Wenn du mich fragst hatte niemand Schuld daran!“ Noah war noch nicht überzeugt, trotzdem nickte er einsichtig. Wieder schwiegen sie einige Minuten.
„Darf ich dich noch was fragen?“ Noah zuckte die Achseln, schlimmer konnte es nun nicht mehr werden. Er wusste nicht wieviel sie davon mitbekommen hatte, was Markus ihm alles an den Kopf geworfen hatte. Aber das spielte alles keine Rolle, wenn Markus damit recht hatte, dass Noah nie vor seiner Vergangenheit davon laufen konnte.
Sie druckste ein bisschen herum, spielte verlegen mit ihren Fingern. „Naja, ich war etwas irritiert, weil Markus so komische Sachen gesagt hat! Ok, er war sauer auf dich, aber ich denke ihr versteht euch so gut?“ Noah schüttelte den Kopf: „Das war alles gelogen! Er hasst mich und ich hasse ihn dafür!“ Er war bereit ihr alles zu erzählen, wenn sie es hören wollte. Ihm war jetzt alles egal. „Aber ihr seid doch trotz allem Brüder, oder? Er hat sich so komisch ausgedrückt: „Ich sag es MEINEM Dad“ und „hoffentlich schmeißt er dich bald raus“ und ....“Bastard“....ich meine...“ Noah unterbrach sie: „Wir sind nur Halbbrüder! Michael ist nicht mein Vater! Und Mam ...sie ist .... weg!“
Shelly ging langsam auf, dass sie sich auf äußerst gefährlichem Terrain bewegte. Sie war gerade dabei in eine tragische Familiengeschichte einzutauchen und sie war sich nicht sicher, ob sie das wollte. „Du musst nicht weiter erzählen!“, sagte sie schnell. Noah war es egal...er hatte verloren! Markus hatte Recht gehabt. Es dämmerte langsam und Noah fröstelte immer mehr, aber auch das war ihm egal. Am liebsten würde er hier sitzen bleiben und sterben. Viel Lebenswertes gab es für ihn nicht mehr. Er wollte nicht in die neue Schule. Hier würde er genau so wenig Freunde finden wie es in der alten Stadt der Fall gewesen war. Shelly hasste ihn jetzt sicher auch, so wie jeder der die Wahrheit kannte. Doch Noah hatte einfach nicht mehr die Kraft allein zu sein, wie die letzten 17 Jahre. Er hatte sich eingeredet, dass es ihm nichts ausmache und dass er niemanden brauche, aber plötzlich brach die Wahrheit aus ihm hervor. Es machte ihm etwas aus! Wahrscheinlich war das alles Teil der Strafe. Markus hatte ihm schon früh eingebleut, dass alles seine Schuld gewesen sei und dass ihn deshalb keiner mögen würde, als Strafe dafür, dass seine Mutter weggegangen war. Also hatte er die Strafe ertragen, er hatte sie verdient, aber jetzt war er fertig. Es ging einfach nicht mehr weiter. Noah fühlte sich müde, wie noch nie zuvor in seinem Leben und er wünschte er könnte einfach einschlafen und nie mehr aufwachen. Vermissen würde ihn sowieso niemand, außer vielleicht Ben, aber sobald Markus ihm die Wahrheit über Noah erzählt hätte, würde er ihn sicher auch hassen.
Überwältigt von all diesen Gedanken und Schuldgefühlen, gegenüber der ganzen Welt, stiegen ihm die Tränen in die Augen. Er hatte zuvor noch nie geweint, aber jetzt war er wieder so hilflos wie zuvor am See. Die Tränen bahnten sich unbeirrt ihren Weg ohne Rücksicht auf Noah`s Bestreben sie daran zu hindern.
Um so überraschter war er, als er plötzlich fühlte, wie jemand seine Hand auf seine Schulter legte. Er sah auf und durch den Tränenschleier erkannte er Shelly, die ihn mit ihren klaren grünen Augen ansah. Noah verstand zwar nicht, warum Shelly nicht schon längst verschwunden war, aber das Gefühl von jemandem in den Arm genommen zu werden, tat momentan einfach zu gut, als dass er sich noch länger darüber Gedanken machen konnte, warum sie noch immer da war.
Sie hielt ihn fest im Arm und wiegte ihn wie ein kleines Kind hin und her. Nach einem kurzem Moment des Zögerns hatte er es zugelassen und vergrub sein Gesicht an ihrem Hals.
Sie sagte gar nichts, war einfach nur da und hielt ihn fest, während er, überwältigt von allem was er in all den Jahren in sich aufgestaut hatte, einfach nur weinte.
Er wusste nicht wie lange das alles gedauert hatte, aber irgendwann wurde er ruhiger und sich wieder der Situation bewusst. Shelly sagte noch immer nichts. Er fühlte ihren gleichmäßigen Atem, der bisweilen sein Haar streifte und spürte wie warm ihre Haut war. Einerseits fühlte er sich wunderbar geborgen, wie damals bei seiner Mutter, aber andererseits war ihm die Situation nun in gewissem Maße recht peinlich und langsam löste er sich von ihr. Sie wischte ihm die letzten Tränen von der Wangen aber Noah vermied es ihr ins Gesicht zu sehen.
„Entschuldige!“, murmelte er. Sie legte den Kopf schief, das sah er aus den Augenwinkeln, und sah ihn wieder an. „Wofür entschuldigst du dich?“, fragte sie ruhig. Sie stellte wirklich blöde Fragen. Er fuhr sich nervös durch die wirren Haare und versuchte seinen Blick zu konzentrieren und ihn nicht länger unkontrolliert durch den Raum schweifen zu lassen. „Na, wegen grade...ich...“, er brach ab. Was sollte man dazu schon groß sagen. „Ist es dir peinlich?“ Sie wartete gar keine Antwort ab. „Das muss es nicht! Wirklich nicht! Du hast das gebraucht! Jetzt geht’s dir besser nicht wahr?!“ Er sah auf und musste lächeln: „Ja, abgesehen davon, dass ich mich jetzt in Grund und Boden schäme!“ Sie lächelte auch und stand auf. Noah sah zu ihr auf, weil er plötzlich wieder daran denken musste, dass sie geblieben war und ihn ganz offensichtlich doch nicht hasste.
Sie sah verlegen aus dem Fenster. „Es, es ist schon spät! Die Besuchszeit ist bestimmt auch bald vorbei!“ Er nickte. „Ich ... werd jetzt wohl mal besser gehen!“ Doch sie blieb noch stehen. Schließlich fasste sie sich ein Herz und fragte: „Rufst du mich mal an? Wir könnten zusammen was unternehmen, wenn du magst!?“ Sie spielte wieder mit ihren Fingern. Noch ein bisschen überrascht und gleichzeitig berührt, nickte er nur. Sie lächelte und griff nach einem Kugelschreiber der auf dem Tisch lag, riss ein Stückchen von einer Zeitung ab und schrieb hastig ihre Nummer auf. Noah nahm sie entgegen und fühlte sich wirklich gut dabei. Ihre Finger berührten sich dabei kurz und irgendwie war es wie ein kleiner Stromstoß. Sie ging einige Schritte rückwärts, bis sie sich herum drehte und durch die Tür verschwand.