Kapitel 79
Erklärungsversuche
Es war nur wenige Tage nach dem recht erfolgreichen Treffen zwischen Jess und Tessas Eltern, als Tessa eines Nachmittags von der Uni nach Hause kam und schon beim Aufschließen der Türe hörte, dass ihr Telefon klingelte.
Freudig ließ sie ihre Tasche fallen und hastete ins Wohnzimmer; bestimmt war es Jess, und sie war gespannt zu erfahren, wie das Treffen im Nachhinein auf ihn gewirkt hatte, denn bisher hatte sich noch keine weitere Gelegenheit ergeben, um mit etwas Abstand darüber zu sprechen.
„Hallo“, rief sie freudig in den Hörer, doch ihre muntere Miene verflog, als sich ihr Gegenüber als jemand anders entpuppte.
„Oh, hallo… Niklas“, sagte sie weitaus gedämpfter und spürte, wie ihr Herz vor Schreck über seinen Anruf schneller zu schlagen begann. Zwar hatte er versprochen, sie anzurufen, nachdem dies aber in den letzten zwei Wochen nicht passiert, dafür aber so viele andere Dinge geschehen waren, hatte sie das Treffen im Park fast völlig vergessen und keinen echten Gedanken mehr daran verschwendet.
Nun, da sie ihn so unerwartet am anderen Ende der Leitung vorfand, fühlte sie sich befangen und nervös zugleich, ließ es sich aber nicht anmerken und versuchte, nicht zu freundlich, aber auch nicht zu kalt zu sagen: „Entschuldige, ich bin gerade erst nach Haus gekommen.“
„Macht doch nichts“, erwiderte Niklas langsam und man spürte, dass auch er unsicher war. „Störe ich dich denn auch nicht?“
„Nein, tust du nicht“, erwiderte Tessa wahrheitsgemäß und wartete schweigend darauf, dass er etwas sagte.
Langsam begann Niklas dann auch zu sprechen: „Nun… ich hab dir ja gesagt, ich würde dich gerne mal anrufen. Tut mir leid, dass ich das erst heute mache, aber die letzten zwei Wochen waren echt vollgepackt.“
„Ja, macht doch nichts“, antwortete Tessa und pusselte an einem Faden herum, der sich aus dem Bund ihres schwarzen Tops gelöst hatte.
„Ganz schön warm ist das heute, nicht?“, fragte Niklas und Tessa musste grinsen. Das Wetter mal wieder, der ultimative Gesprächsstoff, wenn man nicht wusste, was man sagen soll.
„Ja, ist es“, sagte sie dann. „Ich bin froh, dass ich zu Haus bin, in der Uni ist es bei diesen Temperaturen kaum auszuhalten. Wenn ich gleich noch geduscht habe und was lockeres angezogen, werde ich ein neuer Mensch sein.“
Sie schwieg einen Moment und sagte dann: „Aber du rufst mich doch sicher nicht an, um mit mir übers Wetter zu sprechen, oder, Niklas?“
Dieser schluckte am anderen Ende deutlich hörbar und sagte dann langsam: „Nein, natürlich nicht. Ich… Tessa, ich find es einfach so schade, dass alles so gelaufen ist, wie es nun mal gelaufen ist…“
„Nun…“, erwiderte Tessa zögerlich. „Was soll ich dazu sagen, Niklas? Ich hab´s mir nicht so gewünscht, weißt du.“
„Ich weiß, ja“, gab dieser langsam zurück. „Aber ich finde diesen Zustand unerträglich.“
„Welchen Zustand?“, hakte Tessa nach.
„Na, dass wir nicht mehr miteinander sprechen…“
„Tun wir doch gerade.“
„Tessa… komm schon, du weißt, was ich meine.“
Tessa seufzte. „Niklas, was willst du von mir hören?“
Dieser gab einen unsicheren Laut von sich und meinte dann: „Nichts, ich… ich will nur sagen, dass ich nicht weiter mit dir verstritten sein möchte und dass… du mir fehlst, seit wir uns verstritten haben. Und ich mich bei dir entschuldigen will und dir erklären, was damals los war mit mir.“
Tessa zögerte, ehe sie sagte: „Ich weiß nicht, Niklas… ich kann mir nicht vorstellen, wie du das erklären willst.“
Niklas seufzte. „Ja, du hast recht, eigentlich kann ich das, was ich damals gesagt habe, wohl eher nicht entschuldigen. Aber sollen wir uns deswegen für ewig böse sein? So bist du doch gar nicht, Tessa…“
Tessa schluckte und sagte dann: „Niklas, du weißt doch gar nicht mehr, wer ich bin oder wie ich bin. Es sind fast zwei Jahre vergangen seitdem.“
„Ich weiß, entschuldige“, stimmte er ihr zu. „Ich wollte damit nur sagen…“
„Ich weiß schon“, unterbrach ihn Tessa schnell. „Und ich finde es schön von dir, dass du dich entschuldigst… und ja, ich find es auch nicht schön, aufeinander böse zu sein.“
Niklas atmete offenbar erleichtert auf und sagte dann: „Das ist schön. Ich würde gerne mit dir darüber sprechen, was damals los war, Tessa.“
Tessa zögerte einen Moment. Sie war sich nicht sicher, ob sie zustimmen sollte, tat es dann aber doch: „Gut, Niklas, das können wir machen. An was hast du gedacht?“
„Ich würde mich gerne mit dir treffen, wenn´s dir recht ist.“
„Und wann?“
„Sag du etwas. Wann hast du denn Zeit?“
Tessa dachte einen Moment nach. „Diese Woche nicht mehr. Aber vielleicht nächste Woche einmal, nach der Uni, gegen Abend?“
„Das passt super“, erwiderte Niklas freudig. „Treffen wir uns doch am Dienstag um 18 Uhr im Eiscafé in der Schröderstraße. Kennst du das noch?“
„Natürlich“, erwiderte Tessa und dachte mit einem wehmütigen Lächeln daran, wie oft sie und Niklas früher in diesem Café Eis geschlemmt hatten, in der Schulzeit sogar oft gemeinsam mit ihren Freunden.
„Gut, dann bist Dienstag“, sagte sie schnell und legte auf.
Nachdenklich schaute sie dann aus dem Fenster. Ob es so eine gute Idee gewesen war, dem Treffen zuzustimmen?
Am folgenden Tag äußerte sie ihre Bedenken auch gegenüber Feli und Joshua, mit denen sie gemeinsam zwischen zwei Vorlesungen in einer ruhigen Ecke des Literaturgebäudes saß.
Am Abend waren schwere Gewitter über die Stadt gezogen und es hatte deutlich abgekühlt, aber in der Sonne, die inzwischen wieder durch die Glasfronten des alten Gebäudes fiel, begannen die drei bereits wieder zu schwitzen.
„Oh mann, hätte ich doch nur etwas leichteres angezogen“, stöhnte Feli und fächerte sich Luft zu. „Heute Morgen war es so kalt, dass ich gefroren habe und jetzt fließe ich dahin. Ich glaube, ich lasse das Germanistikseminar nachher sausen.“
„Du bist nicht die einzige, der es so geht“, erwiderte Tessa und zupfte an ihrem engen Oberteil herum, um etwas Luft darunter zu lassen. „Aber nun sagt mir doch mal, was ihr von dieser Geschichte mit Niklas haltet? Meint ihr, ich soll wirklich hingehen?“
Joshua sah sie verwirrt an. „Denkst du etwa darüber nach, nicht zu gehen? Das wäre nicht besonders nett, muss ich dir sagen.“
„Niklas war auch nicht nett zu mir“, gab sie trotzig zurück und seufzte dann. „Aber nein, eigentlich will ich schon hingehen, schließlich hab ich es ihm zugesagt. Ich weiß ja nur nicht, was ich davon halten soll. Er war für mich eigentlich gestorben, nach seinem Auftritt damals. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass er seine Meinung ernsthaft geändert hat.“
„Wenn du nicht hingehst und ihn anhörst, wirst du es nie raus finden“, stellte Feli fest. „Wieso machst du dich dann vorher so verrückt? Du verlierst doch nichts dabei. Wenn du merkst, er ist derselbe Hornochse wie früher, stehst du einfach auf und gehst. Aber dass er sich gemeldet hat, ist doch schon mal ein ganz netter Zug an ihm.“
„Vielleicht will er aber auch nur sein Gewissen beruhigen“, gab Tessa zu bedenken. „Und wünscht sich von mir, dass ich´s ihm nehme?“
Joshua zuckte mit den Achseln. „Wäre ein menschlicher Wunsch, oder?“
„Ja, aber so einfach mach ich es ihm nicht“, gab Tessa zurück. „Er hat damals Mist gebaut und damit muss er nun leben.“
„Schon, Tessa“, sagte Feli langsam. „Aber seit wann verurteilst du die Menschen denn so im Vorhinein? Wieso lässt du es nicht einfach auf dich zu kommen?“
Tessa zuckte mit den Achseln. „Ach, ich weiß auch nicht, Feli. Niklas und ich waren so gut befreundet und sogar noch mehr als das. Es tat damals sehr weh, was er getan hat und ich hab lange daran geknabbert. Es war mir jetzt endlich gleich und da taucht er wieder auf und wirbelt alles durcheinander. Ich… hab für so was jetzt gerade gar keinen Kopf. Ich muss mich um Jess kümmern, um die Uni und meine seit neustem so verwandelten Eltern, da fehlt es mir noch, mich wieder mit Niklas beschäftigen zu müssen.“
Joshua lächelte. „Dir bleibt wohl nichts anderes übrig“, sagte er. „Denn wie ich dich kenne, würdest du es dir selbst nie verzeihen, wenn du ihn jetzt nicht wenigstens anhörst. Das passt nicht zu dir.“
Tessa seufzte. „Was ihr nur immer alle denkt, was zu mir passt und was nicht. Vielleicht bin ich ja auch mal zickig und ungerecht, wie wäre das?“
Feli lachte. „Denkst du denn, das bist du nicht?“ Kichernd sah sie ihre Freundin an, die skeptisch die Augenbrauen hochzog.
„Bin ich das denn?“
„Ungerecht vielleicht nicht, aber zickig kannst du schon sein“, lachte Feli. „He, was kuckst du so. Du bist eine Frau, oder, das gehört dazu.“
Tessa streckte ihr die Zunge heraus. „Ihr seid mir ja eine echte Hilfe“, sagte sie sarkastisch.
„Nun“, stellte Joshua grinsend fest. „Wie gut, dass du niemals ungerecht bist, nicht wahr?“
Empört funkelte Tessa ihn an, woraufhin er nach seinem Rucksack griff und sagte: „Ich muss los, meine werten Damen. Man sieht sich – und, Tessa, ich bin gespannt, was Niklas dir sagen wird!“
Er zwinkerte und verschwand. Tessa warf Feli einen Blick zu und musste dann selbst grinsen.
„Nun, wir dürfen gespannt sein“, kicherte Feli dann philosophisch, griff ebenfalls nach ihrer Tasche und sagte: „Los, du Zicke, wir kommen sonst zu spät zu unserem Kolloquium.“
Lachend erhob Tessa sich, folgte Feli und schob den Gedanken an das Treffen fürs erste zur Seite.
Der Zeiger der Uhr zeigte bereits fünf nach sechs, als Tessa am Eiscafé ankam. Sie blieb einen Moment vor dem kleinen Häuschen stehen und lauschte den vertrauten Geräuschen von klappernden Löffeln und zischenden Espressomaschinen. Dann ging sie lächelnd durch das Gebäude hindurch, nickte den Kellnern, die zum Großteil noch dieselben waren wie vor Jahren, als sie hier nach der Schule Eis gegessen hatten, freundlich zu und betrat den kleinen, unspektakulären Terrassenbereich, wo sie Niklas schon an einem der hinteren Tische entdeckte.
Es war ein seltsames Gefühl, fast, als tauche sie in die Vergangenheit ein. Eine Vergangenheit, von der sie nicht sicher wusste, ob sie diese schön oder eher schlecht empfinden sollte. Ein Teil von ihr sehnte sich hier hin zurück, in diese Zeit, die noch so unbeschwert und naiv gewesen war, ein anderer war heilfroh, all dies schon lange hinter sich gelassen zu haben, gereift und gewachsen zu sein.
Langsam ging sie auf den kleinen Tisch zu und sagte: „Hei Niklas“, während sie den Stuhl nach hinten rückte. Auf dem Tisch stand eine fast geleerte Schale mit Beeren, die Niklas offenbar schon gegessen hatte.
Freudig blickte dieser sah an und sagte: „Schön, dass du es geschafft hast. Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“
Tessa lachte. „Ich musste erst noch einen Parkplatz finden. Früher sind wir immer hier her gelaufen oder mit dem Mofa gefahren, das war etwas einfacher.“
„Ja“, stimmte Niklas ihr zu. „Ich war schon ein Weilchen nicht mehr hier, und du?“
„Seit Jahren“, erwiderte Tessa. „Ich bin fast gar nicht mehr in dieser Ecke, weil ich ja nicht mehr bei meinen Eltern wohne. Schon lange nicht mehr.“
Niklas nickte langsam. „Ich weiß. Wie gefällt es dir in der Wohnung?“
„Gut“, gab Tessa zur Antwort und lächelte dem Kellner zu, der an ihren Tisch getreten war. „Ich hätte auch ganz gerne die frische Beerenschale, sonst nichts.“ Der Keller nickte, nahm die leere Schale mit und verschwand.
„Wie? Kein Eis?“, fragte Niklas erstaunt. „Seit wann isst du kein Eis, wenn sich dir die Gelegenheit dazu bietet?“
Tessa lächelte verbindlich und sagte: „Es hat sich einiges geändert, Niklas. Das sagte ich ja schon…“
Niklas wurde ernst und nickte. „Ja, stimmt. Es ist eine lange Zeit vergangen…“
Tessa nickte langsam, dann schwiegen beide eine Weile und starrten vor sich hin, bis der Kellern kam und eine große Schale mit frischen Beeren auf den Tisch stellte. Langsam begann Tessa daran zu knabbern und sagte dann: „Nun, Niklas… du wolltest mich sprechen, also rück mit der Sprache heraus…“
Niklas schluckte, starrte die Beeren an und sagte dann: „Ich denke, du weißt, worum es geht…“
Tessa wischte sich über den Mund und nickte. „Ich nehme es an, ja.“
„Nun…“, begann Niklas zögerlich. „Es tut mir echt leid, was damals passiert ist.“
Tessa nickte wieder. „Das sagtest du aber schon.“
Niklas seufzte. „Das ist nicht so einfach, Tessa. Ich… ich war damals ein ziemlicher Idiot. Ich hab viel gesagt und getan, was Unsinn war.“
Tessa dachte einen Moment nach und sagte dann spitz: „Das müsstest du mal genauer definieren, Niklas. Was davon war denn genau Unsinn? Dass du mich beleidigt hast? Dass du mich verfolgt hast, dass du mich bei meinen Eltern an den Pranger gestellt hast, dass du meinen Freund aufs härteste beleidigt hast, oder war es vielleicht viel mehr deine allgemeine Einstellung zu solchen Dingen?“
Niklas schluckte betroffen. „Du bist wohl doch noch ganz schön sauer“, stellte er fest.
Tessa seufzte. „Nicht sauer, Niklas. Enttäuscht, noch immer… und… nicht wirklich bereit, das zu vergessen und vergeben. Du hast dich ja nicht einfach nur mit mir gestritten, du hast dich völlig inakzeptabel verhalten und mein Vertrauen aufs gröbste missbraucht, das muss dir klar sein.“
Niklas nickte. „Ja, das ist mir schon klar, Tessa. Auch wenn mir nicht ganz klar war, wie schlimm es für dich gewesen ist. Ich dachte, du wärst sauer, weil ich dich verpetzt habe und weil ich mich so unfair verhielt.“
„Das ist nur einer der Punkte, Niklas“, erklärte Tessa. „Ich meine… deine Einstellung… was ist mit der? Würdest du heute wieder so handeln, so reden?“
Niklas schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht, Tessa. Es war falsch, wie ich mich verhalten habe und was ich sagte.“
„Aber was ist mit deiner grundlegenden Einstellung dazu? Zu Menschen wie Jess?“, wollte Tessa wissen.
Niklas seufzte und sagte dann ratlos: „Ich weiß es nicht, Tessa. Ich kann es dir nicht sagen. Ich denke nach wie vor, dass das, was du damals gemacht hast, nicht allzu ratsam war… aber ich hätte mich nicht so einmischen dürfen. Ich habe völlig falsch gehandelt.“
„Das hast du“, gab Tessa ihm recht. „Aber du solltest wissen, dass ich nach wie vor mit Jess zusammen bin. Und wie sollte ich normal mit dir reden können, wenn ich den Eindruck habe, du denkst über Menschen wie ihn noch immer so wie du es damals gesagt hast?“
Niklas schüttelte den Kopf. „Nein, das ist nicht so. Ich … ich denke doch gar nicht schlecht über diese Menschen, jedenfalls nicht so wie du das meinst. Natürlich finde ich es nicht gut, ganz und gar nicht. Und nimm mir nicht übel, wenn ich sage, dass man einer guten Freundin nicht unbedingt einen Freund wünscht, der drogensüchtig und obdachlos ist, Tessa. Du hättest andersherum auch nicht gerade vor Begeisterung aufgejuchzt, wäre ich mit dieser Offenbarung zu dir gekommen, sei ehrlich…“
Tessa dachte einen Moment nach und räumte dann ein: „Das nicht, nein. Und ich kann ja verstehen, dass du besorgt warst und beunruhigt. Aber ich bot dir damals mehrmals an, Jess selbst kennenzulernen. Dir mehr über ihn zu erzählen, damit du verstehst, was ich an ihm finde und warum deine Sorge zumindest zum Teil unbegründet ist.“
„War sie das denn?“, fragte Niklas. „Gab es in eurer Beziehung nie eine Situation, in der es gefährlich war für dich? Oder in der man sich um dich hätte sorgen müssen?“
Tessa schluckte und kämpfte gegen die Bilder aus jener Nacht an, in der sie in der Ruine angegriffen wurde.
„Nein“, antwortete sie dann ehrlich. „Diese Situationen gab es durchaus. Aber … das berechtigte dich dennoch nicht dazu, mir diese Beziehung verbieten zu wollen.“
Sie funkelte ihn an und wunderte sich, wie viel alte Wut da noch in ihr war. „Ich kann gar nicht verstehen, dass du dir das heraus genommen hast, Niklas…!“
Niklas nickte langsam. „Ja, ich weiß, Tessa. Ich weiß, das war nicht richtig. Aber ich will es dir erklären, wenn du mich lässt…“
Tessa nickte zustimmend und Niklas fuhr fort: „Tessa, ich… wir waren so lange befreundet, wir waren lange zusammen und… ich war nie richtig über dich hinweg. Ja, ich weiß, wir hatten gesagt, wir sind nur Freunde. Und ich war mir auch nicht bewusst darüber, dass da noch mehr ist, was ich für dich empfinde. So wie es war, war es gut für mich. Wir waren so nah befreundet, dass ich dich immer an meiner Seite hatte. Ich konnte dich umarmen, wenn ich wollte, ich konnte dich praktisch sogar küssen, du hast nie etwas gesagt…“
Er sah sie lange an. „Du weißt, dass es so war. Was zwischen uns bestand, war nie reine Freundschaft. Es war ein seltsames Zwischending…“
Tessa schluckte und musste ihm recht geben.
Wie oft hatten sie sich auf eine Art und Weise berührt, die durchaus Spekulationen über die Art und Weise ihrer Beziehung zugelassen hätte.
Aber sie beide waren frei gewesen und hatten sich wohl nur langsam voneinander gelöst.
„Ja“, gab Tessa zu, auch wenn es ihr schwerfiel. „Aber zu jenem Zeitpunkt, als ich Jess kennen lernte, hattest du doch schon eine neue Freundin. Es war anders, wir waren beide voneinander weg.“
Niklas seufzte. „Das dachten wir. Oder ich. Es war etwas anderes, dass ich eine Beziehung hatte, Tessa. Ich… das klingt furchtbar, aber… ich wollte dir keine zugestehen. Und dann auch noch mit so einem… so einem Kerl. Bitte nicht mir das nicht übel. Ich denke heute nicht mehr so. Aber damals erschien es mir so. Ich dachte mir, was findest du nur an ihm, wenn du mich haben könntest?“
„Aber du wolltest mich doch auch gar nicht mehr!“, rief Tessa verwirrt aus.
„Das dachten wir beide. Aber ich wollte dich noch“, gab Niklas zu und starrte auf seine Schuhspitzen. „Und irgendwie glaube ich, ich hatte Besitzansprüche auf dich.“ Er seufzte. „Ich muss echt irre gewesen sein. Wenn ich das heute so höre, wie ich das sage, denke ich, das gibt es doch nicht. Aber es war so. Ich glaube, ich dachte irgendwie, es geht immer so weiter… dass ich mal hier und mal da eine Freundin habe, aber du ständig mein Hinterhalt bist…“
Tessa schnaubte. „Das ist ziemlich harter Tobak, Niklas. Ich war also immer dein Trostpflaster?“
„Nein… nein, wirklich nicht!“, bestritt dieser. „Du warst viel mehr immer meine große Liebe…“
Betreten schwiegen beide einen Moment, dann sprach Niklas weiter. „Ich hab das erst bemerkt, als du nicht mehr da warst, als wir verstritten waren. Bettina machte bald mit mir Schluss, denn sie merkte ja, dass ich gar nicht so viel für sie empfand, wie ich es gemusst hätte. Und dann wurde mir nach und nach alles klar.“
„Und heute?“, fragte Tessa bange. „Heute empfindest du aber nicht mehr so?“
Niklas schüttelte den Kopf. „Nein, heute nicht mehr. Aber ich bedaure, dass unsere Freundschaft zerbrochen ist. Die war nämlich viel wert.“
Tessa seufzte. „Und du denkst, wir können wieder Freunde sein?“
„Ich weiß es nicht. Sag du es mir…“
„Nein“, erwiderte diese. „Oder … ich weiß nicht. Niklas, ich… ich kann das alles nicht vergessen. Okay, ich verstehe nun eher, wieso du damals so ausgetickt bist. Aber deine Einstellung zu Jess, dein anmaßendes Verhalten… ich meine… ich hätte das nie von dir gedacht.“
Niklas sah sie betreten an, nickte aber. „Ja, ich kann dich ja irgendwie verstehen.“
„Dass du mir sogar nachspioniert hast… und dachtest du etwa, du kriegst mich zurück, wenn du mich bei meinen Eltern anschwärzt?“
„Nein,“ erwiderte Niklas. „Das nicht. Aber ich hatte dich an jenem Tag mit ihm gesehen und das, was ich befürchtet hatte, war Wahrheit geworden – ihr hattet euch verliebt. Mir war das von Anfang an klar, Tessa.“
Tessa sah ihn irritiert an. „Wieso? Wir waren anfangs nur befreundet, Jess und ich.“
Niklas lachte trocken auf. „Hach, Tessa, da kannte ich dich wohl besser als du dich selbst. Schon vom ersten Moment an, wo du mir von ihm erzählt hast, habe ich gemerkt, dass du etwas für ihn empfindest.“
„Na, dann hast du mehr gewusst als ich.“
„Mag sein“, erwiderte er. „Und als ich euch dann sah, sind mir die Sicherungen durch gebrannt. Ich dachte, wenn ich deine Eltern mit ins Spiel bringe, werden sie dir den Umgang verbieten. Ich hätte nie gedacht, dass du dich über sie hinweg setzt.“
„Tja, da siehst du mal“, erwiderte Tessa leicht spöttisch. „Aber wieso hast du ihnen nichts gesagt, als ich behauptete, Jess wäre weggegangen? Und du hast auch nicht gesagt, dass wir zusammen sind.“
„Das hab ich mich nicht getraut“, erwiderte Niklas langsam. „Es wäre zu hart gewesen. Auch für deine Eltern. Und… ich war mir nicht sicher, ob du wirklich lügst, als du sagtest, er ginge fort. Es hätte ja sein können. Außerdem dachte ich mir, dass deine Eltern nun sicher alarmiert wären und darauf achten, was du so machst.“
Tessa schnaubte entrüstet. „Niklas, ich war doch kein Kind mehr, ich war fast zwanzig, dachtest du, sie schleichen mir nach – so wie du?“ Sie lächelte. „Das war total abwegig!“
„Ich weiß“, gab Niklas zu. „Aber ich habe mit so etwas gerechnet. Ich hätte nicht gedacht, dass du so ausrastet, muss ich zugeben. Oder zumindest nicht, dass du dich tatsächlich von mir abkapselst.“
„Das war doch klar, Niklas. Wie hätten wir danach nur noch ein Wort sprechen können?“
„Ehrlich gesagt dachte ich, das mit dir und Jess geht ohnehin in die Hose, früher oder später. Ich habe darauf gewartet, dass du kommst und dich mir anvertraust und … ich dich trösten kann.“
Tessa schluckte. „Das war also mehr oder weniger ein gut zurecht gelegter Plan, mh? Nur leider hat er nicht funktioniert.“
Niklas grinste schief und betreten. „Nein, hat er nicht. Du bist nicht gekommen, und ich wusste nicht, was los war. Ich hätte nie gedacht, dass das zwischen euch so lange hält. Ich meine… ich dachte nicht einmal, offen gestanden, dass er es so lange überleben wird… nachdem du von Heroin sprachst.“
Tessa wusste zuerst nicht, was sie sagen sollte. Zu heftig war Niklas´ Geständnis.
Letztlich sagte sie: „Wir beide haben es überlebt, Niklas. Und wir sind sehr glücklich.“
Von den Problemen und Schwierigkeiten sagte sie bewusst kein Wort.
„Das freut mich für euch. Wirklich“, sagte Niklas und er klang aufrichtig dabei. „Nun, jetzt weißt du, was mich damals geritten hat. Natürlich hab ich mich auch um dich gesorgt, Tessa, das sei nicht außer Acht gelassen. Ich meine, ich wusste ja nicht, ob du nicht eines Tages aus Solidarität auch etwas nimmst. Oder in welchen Kreisen ihr euch bewegt.“
„Ich hätte nie etwas genommen“, sagte Tessa entschieden. „Du weißt, ich habe damals nicht einmal wirklich den Pott mitgeraucht.“
„Ja, aber das war etwas anderes“, räumte Niklas ein. „Man tut viel für jemanden, den man liebt.“
„Jess hätte mich verflucht, hätte ich auch nur einmal an einem Joint gezogen“, gab Tessa kalt zurück. „Und überhaupt, wenn man sieht, wie kaputt ein Mensch durch Drogen werden kann, kommt man niemals auf die Idee, etwas anzurühren. Niemals. Eine bessere Schocktherapie kann es nicht geben.“
Niklas nickte langsam. „Kann ich mir vorstellen…“, sagte er dann. „Naja. Jetzt weiß du jedenfalls alles. Und ich kann verstehen, wenn du sauer bist. Aber trotzdem möchte ich dich bitten, dass wir uns nun nicht mehr ignorieren und hassen.“
„Ich hab dich nie gehasst“, erwiderte Tessa aufrichtig. „Ich war nur verletzt und gekränkt und wütend.“
Niklas erwiderte nichts. Tessa starrte auf die verbliebenen Beeren in der Schale vor sich. Ihr war der Appetit vergangen. Eine Weile saßen beide mehr oder weniger schweigend beieinander und hielten das Gespräch mühsam im Gange, in dem sie ein wenig über die Uni und ihre Familien sprachen.
Schließlich seufzte Tessa und sagte lächelnd: „Sei mir nicht böse, Niklas. Aber ich habe noch einiges zu tun heute. Ich muss dann los, ich hoffe, das ist okay.“
Niklas nickte. „Ja, natürlich. Ich muss dann auch los.“
„Gut, dann werde ich mal zahlen…“
„Lass schon, ich mach das.“
Unbequem sah sie ihn an. „Niklas…“
„Als eine kleine Wiedergutmachung… auch wenn das so einfach nicht geht, ja, aber trotzdem…“
Tessa seufzte und nickte dann. „Gut, von mir aus.“
„Tessa?“
„Mh?“
„Treffen wir uns bald mal wieder?“, wollte Niklas wissen.
Tessa sah ihn unsicher an und sagte dann: „Niklas, ich … ich muss das erstmal alles verdauen und sacken lassen. Ich bin dir jetzt nicht unbedingt böse, aber… weißt du, mein Leben hat sich ohnehin geändert und ich habe viel zu tun und… lass mir Zeit, ja? Du kannst mich ja mal anrufen, wenn du magst. Oder wir chatten mal abends, irgendwann demnächst. Okay?“
Niklas nickte. „Ja, ich verstehe… ist okay, Tessa. Dann komm mal gut nach Hause.“
Tessa lächelte und stand auf. „Macht´s gut, Niklas. Grüß zu hause.“
„Du auch.“
„Mach ich“, sagte Tessa und dachte sich insgeheim, dass es wohl keine so gute Idee sein würde, gegenüber ihrer Eltern in der momentanen Situation Niklas wieder ins Spiel zu bringen und am Ende alte „Ideen“ zu erwecken.
Sie winkte eben jenem noch einmal zu und verließ dann schnellen Schrittes das Eiscafé.
Als sie im Auto saß und den Ort ihrer Jugend im Rückspiegel verschwinden sah, atmete sie tief durch.
Es war wie eine Befreiung. Es war gut gewesen, Klarheit zu bekommen. Aber je mehr Entfernung sie zwischen dem Café und sich ließ, desto deutlicher wurde ihr, dass Niklas ihre Vergangenheit war. Er passte nicht mehr zu ihr und ihrem Leben. Und das war gut so.
Fortsetzung folgt.