Die Schockwelle, die von der zerspringenden Kugel ausging, war gewaltig.
01
Wir wurden von den Beinen gerissen und durch die Luft geschleudert, und ich sah bereits vor mir, wie mein Rückgrat beim Aufprall an die Wand zerbrechen würde.
Aber bevor es dazu kam, waren die Wände verschwunden, und wir waren von vollkommener Dunkelheit umgeben.
Ich prallte hart auf einem Boden auf, der kein Boden zu sein schien. Langsam wich die Finsternis einem giftiggrünem Licht, das um uns herum zu flirren und zu wabern schien.
Ich fühlte mich völlig verloren. Ich wusste nicht, wo wir waren; wann wir waren; warum und wozu wir waren. Panik stieg in mir auf.
Und dann konnte ich sie spüren. Auch Meduria war hier.
Ich versuchte, auf die Beine zu kommen; ich wollte weg, nur weg von diesem Ort. Aber mit einer einzigen Handbewegung sorgte Meduria dafür, dass ich mich nicht von der Stelle rühren konnte.
Runcal stürzte sich wütend auf mich, er ergriff mein Haar und zwang meinen Kopf in den Nacken.
Tränen schossen mir in die Augen, aber ich war dankbar für den Schmerz; es war, als ob er mich wieder mit mir selbst verband.
03
„Was hast du getan?“, zischte Runcal, sein Gesicht war kreidebleich vor Zorn.
„Wie hast du das gemacht?“
Ruhig sah ich ihn an.
„Lass mich los“, sagte ich leise.
Runcal kniff die Augen zusammen, aber dann ließ er mein Haar los und trat schwer atmend einen Schritt zurück.
Meduria, halb in den Schatten verborgen, bewegte sich leicht, und ich spürte, wie sie mir etwas mehr Raum ließ.
Ich stand auf, atmete tief ein und verschränkte die Arme.
„Als wir bemerkt hatten, dass du die Kugel geschützt hast“, begann ich, „hat uns Noreia den entscheidenden Hinweis gegeben.“
„Noreia?“, stieß Runcal ungläubig hervor.
„Diese alte Vettel? Aus diesem Volk, das sich schon seit Jahren im Wald verkriecht?“
Ein winziges Lächeln stahl sich auf mein Gesicht, als ich mich daran erinnerte, was Noreia über Runcals Überheblichkeit gesagt hatte.
„Noreia sagte uns, dass wir das Offensichtliche nicht übersehen sollten.“
Runcal runzelte die Stirn. Auch er konnte es nicht sehen.
Wie einfach, wie klug Noreias Plan gewesen war.
08
„Wir wussten nicht, wie du die Kugel geschützt hast“, fuhr ich fort.
„Wir wussten nicht, welchen Zauber du verwendet hast, und selbst wenn wir es gewusst hätten, wäre es unwahrscheinlich gewesen, dass wir in der Lage gewesen wären, ihn zu brechen. Also, was ist das Offensichtliche?“
Ich beugte mich vor und sah ihm direkt ins Gesicht.
„Du hast es selbst gesagt: niemand von uns kann etwas zerstören, das du geschaffen hast. Offensichtlich ist also: nur du kannst die Kugel zerstören. Also mussten wir dich genau dazu kriegen. Dass
du selber die Kugel zerstörst.“
Ich sah die Erkenntnis in Runcals Blick aufsteigen.
„Also habe ich dem Schutzschild ein paar Risse zugefügt. Wir wussten genau, dass sie überhaupt nichts bewirken würden, aber dass du in deiner unnachahmlichen Arroganz nicht würdest widerstehen können, mir zu zeigen, mit welcher Leichtigkeit du sie wieder verschließen kannst.“
„Du wolltest vor mir
verheimlichen, dass du hier eingedrungen bist und die Kugel beschädigt hast“, zischte Runcal.
„Ich habe dir diese Information mit Gewalt entrissen.“
„Das war das, was du glauben solltest“, sagte ich sanft.
„Kannst du sie nicht spüren? Elaria, Shainara, Noreia? Sie haben mein Wissen um unsere wahren Absichten hinter einem Schleier der Täuschung verborgen. Als ich die Mauer in meinem Geist aufgebaut habe, um meine Erinnerung daran, wie ich der Kugel Schaden zugefügt habe, zu verbergen, war das genau das, was du erwartet hast. Und wir sehen selten über das hinaus, was wir erwarten. Deshalb hast du nicht weiter gesucht, und die Täuschung, die darunter lag, nicht entdeckt.
Der Schleier, der das verborgen hat, was wir
wirklich vor dir verheimlichen wollten, ist dir entgangen. Weil du nicht in der Lage warst, über deine Erwartungen hinaus zu sehen. Mein Widerstand, mein Erschrecken, dass du das Datum des Rituals kennst, mein Entsetzen, dass du entdeckt hast, was ich mit der Kugel getan habe – all das war nur eine Ablenkung.
Das wahre Geheimnis lag darunter, verborgen durch einen Schutz, der nicht von mir stammte. Auch deshalb ist er deiner Aufmerksamkeit entgangen, weil dieser Schleier der Täuschung nicht zu mir gehört hat.“
Runcal war sehr blass, und er sagte kein Wort.
„Und so haben wir dich dazu verlockt, die Kugel zu berühren und deine Magie fließen zu lassen.“
„Ich habe die Risse
verschlossen“, knirschte Runcal.
„Natürlich“, erwiderte ich.
„Aber das war nicht wichtig. Wichtig war nur, dass du deine Macht, deine Magie und deine Kraft auf die Kugel gerichtet hast. Und als wir alle im Einklang waren – du, die Kugel und ich – habe ich deinen Kraftfluss umgekehrt. Zwei Minus ergeben ein Plus. Wenn das Pendel ganz oben ist, kippt es in die andere Richtung.“
Wütend stieß Runcal den Atem aus.
„Das Konzept der Umkehrmagie ist ein Mythos!“, spie er mir entgegen.
„Ach ja?“, schoss ich zurück.
„So wie Menschen aus der Zeit nehmen und Seelenkugeln? Nur weil du etwas nicht Wert achtest und nicht verstehst, bedeutet das nicht, dass es das nicht gibt.“
Runcal rang sichtlich um Fassung. Er ballte die Fäuste, aber dann atmete er ein paar Mal tief ein und aus und wurde ganz ruhig.
Er strömte eine Kälte aus, die mich frösteln ließ.
„Ein schöner Plan“, sagte er langsam. „Und er hat funktioniert, das gebe ich zu. Aber was wird es euch nutzen?“
Er beugte sich zu mir, seine Augen blitzten kalt.
„Glaubst du wirklich, ich gebe mich so schnell geschlagen? Ich habe einmal eine Seelenkugel erschaffen, und das wird mir auch ein zweites Mal gelingen.
Bis zur Tag- und Nachtgleiche sind die Seelen der Kinder wieder außerhalb eurer Reichweite; und diesmal werde ich dafür sorgen, dass nichts sie jemals befreien kann.
Und selbst wenn Artair sich dazu entschließen sollte, das Ritual doch nicht durchzuführen, so werde ich die Genugtuung haben, dass er die Kinder nicht retten konnte.“
Ich legte den Kopf schief.
„Die Tag- und Nachtgleiche“, sagte ich sanft.
„Wieder so eine Sache, bei der du über deine eigene, über alle Zweifel erhabene Meinung nicht hinaussehen kannst.“
Runcals Augen verdunkelten sich.
„Die Tag- und Nachtgleiche ist eine machtvolle Zeit“, fuhr ich fort, „aber sie ist eben genau das: eine Zeit, in der die Kräfte ausgeglichen sind.
Und eine der machtvollsten Zahlen ist die dreizehn, und dreizehn Tage vor der Tag- und Nachtgleiche, zum Vollmond – da überwiegen die Kräfte der Naturvölker.
Die Kräfte des Volkes, die eng mit den Göttern verwoben sind, und die sich seit Jahren in einem Wald verkriechen, wie du es nennst.“
Runcal atmete heftig.
„Heute?“, stieß er hervor, seine Stimme klang heiser. „Das Ritual findet
heute statt?“
Ich lächelte ihn an.
18
„Heute“, ließ ich ihn wissen. „Um genau zu sein:
jetzt.“
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