Verzweifelt starrte ich hinab auf Artair, zur Untätigkeit verdammt.
Er konnte mich nicht wahrnehmen, das war offensichtlich, denn meine Angst war überwältigend - etwas, das er normalerweise aus meilenweiter Entfernung gespürt hätte und das mir schmerzhaft klarmachte, dass ich tatsächlich nicht mehr zu dieser Welt gehörte.
Und gleichzeitig war ich tief drinnen dankbar, dass er mich nicht spüren konnte - denn wie sollte er dieses verdammte Ritual überleben, wenn er von meiner Angst und Verzweiflung abgelenkt würde?
Eine Bewegung in der Menschenmenge erregte meine Aufmerksamkeit; Mártainn bahnte sich einen Weg durch die dicht an dicht stehenden Druiden und Priesterinnen hin zu Shainara, Neleia und Noreia.
Ich versuchte, ein wenig tiefer zu sinken, um besser sehen und hören zu können.
„Die Sonne wird bald aufgehen“, sagte er; er wirkte besorgt.
„Und ich habe eine Varianz im Machtfluss der Magie gespürt. Gibt es Nachricht? Hatte Neiyra Erfolg?“
Shainara und Noreia wechselten einen Blick. Schließlich nickte Shainara.
„Neiyra hat das vereinbarte Signal geschickt, dass die Kugel zerstört wurde. Und auch wir haben die Erschütterung im Machtfluss gespürt. Aber...“
Sie verstummte.
„Gibt es Zweifel daran?“, fragte Mártainn.
„Könnte es sein, dass Neiyra gescheitert ist und das Signal von Runcal kommt, und er uns in die Irre führen will?“
„Nein.“ Noreia schüttelte den Kopf.
„Die Kugel wurde zerstört, das ist klar zu erkennen. Aber Neiyra...“
Sie senkte den Kopf. „Wir haben den Kontakt zu ihr verloren. Neiyra ist fort.“
„Was soll das heißen?“, stieß Mártainn hervor, seine Stimme klang schockiert. „Ist sie tot?“
Wieder schüttelte Noreia den Kopf. „Sie ist nicht tot“, sagte sie leise.
„Wenn sie tot wäre, wäre sie immer noch da, ich könnte ihre Seele immer noch spüren. Aber sie ist nicht mehr da. Sie ist einfach... fort. Als hätte es sie niemals gegeben. Und das kann nur eins bedeuten.“
„Ihre Seele wurde vom Körper getrennt“, knurrte Mártainn, seine Stimme bebte vor unterdrückter Wut.
Über Neleias Gesicht rannen Tränen, sie weinte stumm.
„Was sollen wir tun?“, stieß sie hervor.
„Wir können nichts tun“, sagte Shainara tonlos.
„Ihr Körper ist nicht hier, und wir wissen nicht, was mit ihrer Seele geschehen ist. Ob sie frei ist, oder ob Runcal sie festhält. Wir stochern im Nebel.“
„Und deshalb müssen wir uns jetzt auf das konzentrieren, was wir tatsächlich tun können“, sagte Mártainn.
Neleia stieß einen Schrei aus.
„Aber wir müssen Neiyra doch helfen!“, stieß sie hervor. „Wir können sie doch nicht einfach im Stich lassen!“
„Das werden wir auch nicht“, erwiderte Noreia entschlossen.
„Wir werden sie auf keinen Fall einfach aufgeben. Aber Mártainn hat recht. Im Moment können wir nichts tun, und wir haben eine Aufgabe vor uns, die schwierig und gefährlich ist.
Neiyra hat alles getan, damit dies überhaupt erst möglich ist, und wir müssen jetzt unsere ganze Aufmerksamkeit darauf richten, die Kinder zu retten und dafür zu sorgen, dass Artair das Ritual überlebt.
Jetzt ist dafür unsere einzige Chance, der Zeitpunkt lässt sich nicht verschieben. Und danach...“
„Danach werden wir nicht eher Ruhe geben, bis wir auch Neiyra zurückgeholt haben.“ Shainaras Stimme war stählern.
„Allerdings.“ Mártainn klang entschlossen; begütigend legte er die Hand auf Neleias Arm, und sie senkte den Kopf und nickte.
„Artair darf es erst nach dem Ritual erfahren“, sagte Mártainn grimmig, „er braucht seine gesamte Konzentration für das, was vor ihm liegt.“
Müde fuhr er sich mit der Hand über die Stirn.
„Lasst uns anfangen“, sagte er dann entschlossen.
„Wir haben viel zu tun, und die Zeit wird knapp. Wir müssen Erfolg haben, das sind wir Neiyra schuldig.“
Verblüfft folgte ich ihm mit den Augen, als er sich abwandte und zu einer Gruppe junger Druiden ging.
Niemals, in all den Jahren, hatte ich irgendetwas aus Mártainns Mund gehört, das den Schluss zugelassen hätte, dass er mich möglicherweise
mochte.
Ich war zutiefst überrascht.
Und ich spürte, wie sich Ruhe und Zuversicht in mir ausbreiteten. Sie wussten Bescheid, und sie würden mir helfen. Sie würden mich nicht im Stich lassen, und so, wie ich sie kannte, würden sie niemals aufgeben.
Ich fühlte mich dankbar und getröstet.
Inzwischen waren Shainara und Noreia zu Artair getreten und redeten auf ihn ein.
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Er hörte aufmerksam zu, die Arme verschränkt, die Stirn gerunzelt und eine Augenbraue gehoben.
Er weiß, dass irgendetwas nicht stimmt, dachte ich.
Mártainn gab den Druiden knappe Anweisungen, und sie gingen in verschiedene Richtungen auseinander, zum Rand des Platzes.
Sie umschritten ihn weiträumig und zogen alle paar Schritte eine Art kleinen Stein aus einem mitgeführten Beutel, den sie auf die Erde legten.
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Die Steine waren fast durchsichtig, sie schimmerten und funkelten; und plötzlich wurde mir klar, dass es Edelsteine waren.
Auch Artair verließ die Mitte des Platzes.
Als ich ihm mit meinen Blicken folgte, fiel mein Augenmerk zum ersten Mal auf den Bereich außerhalb des Platzes, und plötzlich entdeckte ich Brayan, der alles wachsam und misstrauisch beobachtete.
Bei ihm standen Braghan, Braigh und Gowan, und hinter ihnen die Männer der Wache, die Artair und – vor ewigen Zeiten, so schien es mir – Mártainn und seine Druiden begleitet hatten.
Hinter ihnen konnte ich Torgar ausmachen und eine kaum überschaubare Menschenmenge.
Cul´Dawr, erkannte ich; sie alle wirkten unruhig und tief besorgt, viele weinten.
Artair hatte Brayan erreicht, er wechselte ein paar knappe Worte mit ihm, dann wandte er sich an Torgar und die Cul´Dawr.
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Ruhig und bestimmt redete er, obwohl ich seine Worte nicht verstehen konnte; aber die Cul`Dawr lauschten aufmerksam.
Die Eltern und Verwandten der verlorenen Kinderseelen, wurde mir klar, denn jeder von ihnen hielt ein Kind in den Armen.
Mein Blick glitt über die Kinder, ich konnte es nicht glauben. Es waren so viele, und alle waren blass, abgemagert und völlig reglos.
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Mein Herz krampfte sich zusammen.
Endlich hatten die Druiden ihr Werk beendet, den Platz einmal komplett umrundet und mit einem Kreis der kleinen Steine umgeben.
Auch Artair war zurück, und entschlossen nahm er seinen Platz in der Mitte wieder ein.
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Mártainn nickte Shainara und Noreia zu. „Lasst uns beginnen“, sagte er. „Es wird Zeit.“
Personenverzeichnis ~
Stammbaum ~
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