Fotostory Caged

@Juls: :D

@Lynie: Hihi, ob Du recht hast, wirst du heute sehen... ;)

22.

„Du bist doch krank! Krank!“
Eileens Stimme überschlug sich förmlich.

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Marcel stand ihr gegenüber, nur bekleidet mit T-Shirt und Boxershorts und sah ein wenig wie ein Häufchen Elend aus.
„Eileen, es… es tut mir leid, ich habe die Zeit vergessen und…“
„Das ist mir doch völlig egal! Die Zeit vergessen – zwei Stunden lang?“ Eileen funkelte ihn zornig an. „Aber selbst das wäre nicht schlimm! Nur wie…wie kannst du es wagen… hier… mit ihr????! Auf unserem… auf meinem Bett?!“

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„Es… ist einfach so passiert“, erwiderte Marcel achselzuckend. „Ich gebe zu, der Zeitpunkt und der Ort waren nicht der beste, aber… du weißt doch, wie das ist, wenn man frisch verliebt ist, Eileen… das war bei uns doch damals…“
„Wag es nicht!“, schrie sie ihn an. „Wag es nicht, diese Vergleiche anzustellen und wag es noch viel weniger, von mir Verständnis für deine verliebten Gefühle zu erwarten! Wer bist du eigentlich, Marcel??? Ich dachte ja schon, ich könnte mich gar nicht noch mehr in dir täuschen, aber – Überraschung: da ist mehr drin!“

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Sie lief aufgebracht im Zimmer auf und ab. Marcel stand nun nur noch da und schwieg. Schließlich sagte er: „Es tut mir leid, Eileen, aber es nun einmal nicht mehr zu ändern. Ich ziehe mich jetzt an, packte die restlichen Kleider ein und gehe.“
„Und vergiss nicht, das Bettzeug abzuziehen und am besten mitzunehmen! Sonst verbrenne ich es nämlich!“, rief sie ihm zornig hinterher.
Dann wurde es still im Wohnzimmer, nur ihren eigenen schweren Atem hörte sie noch. Sie fühlte sich, als sei ihr die Kehle zugeschnürt und versuchte krampfhaft immer wieder, das eben gesehene Bild aus dem Kopf zu bekommen.

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Als sie die Geräusche gehört hatte, war sie von allem ausgegangen – einem Dieb, einem Einbrecher oder vielleicht auch doch noch Marcel, der eben noch nicht fertig war und den sie vorher nicht bemerkt hatte.
Aber das, was sich ihr geboten hatte, als sie die Türe zum Schlafzimmer aufstieß, wäre ihr in den wildesten Träumen nicht eingefallen.
Marcel lag mit seiner neuen Freundin fasersplitternackt im Bett und schlief.

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Das Geräusch selbst war nicht von den beiden gekommen, sondern durch zwei Bücher verursacht worden, die nacheinander von dem Stapel, den Marcel vor einen der Umzugskarton gesetzt hatte, um ihn einzupacken, gerutscht waren.
Eileen schnaubte entsetzt auf. Die beiden hatten es tatsächlich in ihrem Bett getan!
Das war derart unerhört und dreist und unverschämt, dass ihr sprichwörtlich die Worte fehlten.
Bevor sie jedoch noch weiter darüber nachdenken konnte, hörte sie ein Räuspern von der Türe. Marcel stand dort, er war inzwischen wieder vollständig bekleidet.
„Eileen, ich bin… wir sind dann fertig und würden dann fahren. Gibt … es noch irgendetwas, das wir besprechen müssen?“
Eileen stand auf und versuchte trotz all ihrer Wut, ihrer Empörung, ihre Gedanken zu ordnen und zu Marcel in den Flur zu gehen.
Sie wollte gerade sagen, dass sie sich noch einmal wegen der Finanzierung des Hauses besprechen mussten, als sie die Frau hinter Marcel im Flur wahr nahm.

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Ihr Herz begann ihr bis zum Hals zu schlagen und zwar so schnell und kräftig, dass ihr fast schwindelig davon wurde und es in ihren Ohren zu rauschen begann.
Einen Moment standen sich die beiden Frauen gegenüber und starrten sich an, dann wand Bettina den Blick ab.
Argwöhnisch musterte Eileen jene, die dafür verantwortlich war, dass ihr eigenes Leben in Scherben vor ihr lag.

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Ihre Haut war braun gebrannt und das blonde Haar fiel ihr in einem seidig glänzenden Schwanz über die Schultern. Vermutlich war sie auch um einige Jahre jünger. Das Gesicht selbst sagte Eileen nichts – was sie darauf schließen ließ, dass Bettina noch nicht lange in Marcels Firma arbeiten konnte, denn die meisten dort kannte Eileen von Betriebsausflügen und Weihnachtsfeiern.
„Eileen?“, wollte Marcel wissen. Sie wandte den Blick von Bettina, die unbequem in eine Ecke starrte, als gäbe es dort etwas überaus Spannendes zu sehen, ab und blickte Marcel mit kalten Augen an.

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Messerscharf fuhr die Erkenntnis durch sie hindurch: Genau in diesem Moment hatte sie endgültig aufgehört, Liebe für ihn zu empfinden.
Jetzt war da nur noch Verbitterung, Gram und so etwas wie… ja, wie Hass.
„Hast du alles?“, fragte sie kalt und warf ihre frisch geschnittenen Haare in den Nacken.
Marcel sah sie lange an und bedeutete Bettina dann, schon einmal vor zu gehen, was diese ohne ein weiteres Wort tat.
„Ja“, antwortete er dann und kam ein Stück auf sie zu. „Eileen, hör mal… das mit eben tut mir leid, ich… ich glaube nicht, dass es dafür eine Entschuldigung gibt, aber… es ist eben einfach passiert und…

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„Hör auf dich zu entschuldigen“, schnitt Eileen ihm das Wort ab. „Du brauchst mir nichts zu erklären, da gibt es nichts zu erklären – die Sache erklärt sich sozusagen von selbst. Ich möchte nur eines klar machen: Ich kann dir vorerst nicht verbieten, dieses Haus noch zu betreten, denn es gehört nach wie vor uns beiden. Aber hör mir gut zu: Wenn ich noch einmal erlebe, dass du diese Frau mit in unser Haus nimmst, egal wofür und wie lang, dann wirst du das bereuen.“
Marcel starrte sie an, als habe er einen Geist gesehen.
„Was willst du damit sagen?“, erwiderte er dann leicht angesäuert. „Wie du selbst schon sagst, es ist auch mein Haus und ich nehme mit hinein, wen ich möchte.“
„Nein, das tust du nicht, denn ab sofort wohnst du nicht mehr hier“, sagte Eileen bestimmt. „Ich würde dir empfehlen das zu akzeptieren, ansonsten müssen wir vielleicht doch auf dem Rechtsweg miteinander kommunizieren – wenn dir das lieber ist.“

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Sie lächelte kalt.
Marcel schluckte und schüttelte den Kopf. „Nein – ist schon gut. Du hast ja recht.“
Er seufzte und versuchte dann schief zu lächeln.
„Sieht toll aus“, sagte er dann.
Eileen sah ihn verwirrt an. „Wie bitte?“
„Deine neue Frisur“, erwiderte er schlicht, dann hob er die Hand zum Gruß und ging zur Haustür hinaus, während Eileen ihm wie vom Donner gerührt hinterher sah.

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„Der hat doch einen Vollknall“, schnaubte sie dann. „Mir auch noch Komplimente zu machen!“
Sie schloss die Tür hinter sich und beobachtete Marcel, wie er die letzten Kartons gemeinsam mit Bettina im Van verstaute. Dann zog er sie lächelnd an sich heran und küsste sie.
Eileen schluckte, es fühlte sich bitte an.
„Und dann raus und die Olle küssen!“, zischte sie. Wie konnte man sich nur jahrelang so in einem Menschen täuschen? Aber- und abermals fuhr ihr diese Frage durch den Kopf.

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Langsam ging sie die Treppen nach oben und öffnete die Türe zum Schlafzimmer, wo sie aufs Bett starrte und dann schauderte.
Ohne weiter nachzudenken, raffte sie die Kissen und Decken zusammen und trug sie in den Hauswirtschaftsraum, wo sie direkt in die Waschmaschine und danach in den Trockner wanderten.
Dann zog sie das Bett erst ab und bezog es dann wieder neu, saugte, wischte alle Flächen mit einem nassen Tuch ab und seufzte dann, während sie noch einmal über die frischen Laken strich.

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Erst jetzt fühlte sie sich wieder halbwegs wohl. Es erschien ihr fast, als sie das ganze Zimmer beschmutzt und immer wieder hatte sie das Gefühl, als hätten die Wände Augen, weshalb sie noch rasch die Fenster öffnete.
Draußen war es jetzt schon dunkel. Eileen seufzte tief. Sie fühlte sich unendlich müde und erschöpft, aber es wartete noch viel Arbeit auf sie.
Sie trat auf den kleinen Balkon vorm Schlafzimmer und starrte in den Himmel, während sie herauszufinden versuchte, was sie eigentlich gerade fühlte.

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Es war kein Schmerz, es war keine Trauer, es war nicht einmal Wut.
Sie fühlte sich wie ausgebrannt, wie leer gesogen. Fast stumpf.
Ja, sie fühlte sich taub und leer an, wie abgestorben.
Gefangen in ihrer eigenen inneren Kälte.
Schaudernd ging sie wieder in zurück ins Zimmer, schloss die Fenster und setzte sich müde aufs Bett. Morgen war auch noch ein Tag. Für heute war genug geschehen.


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Reaktionen: julsfels
Huhu Innad,

also hatte ich doch recht :polter:.. Ich wäre genau so wie Eileen ausgerastet.. So etwas tut man einfach nicht.. Die können das auch in ihrem Bett machen :scream: :polter:
Aber wenigstens knallt sie ihm ihre Meinung vors Gesicht wie die Ansage mit dem Haus :nick:

Natürlich bin ich jetzt gespannt, wie es weiter geht und wie und ob sie alles ohne rechtliche Schritte geregelt kriegen..

Ich freue mich auf das neue Kapitel :)
lg lyn :hallo:
 
23.

Lene starrte Eileen an, als habe diese den Verstand verloren.
„Er hat… was?!“

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Eileen nickte.
„Ja, du hast ganz richtig gehört.“
„Also, also, das ist ja un-er-hört!“, rief Lene aufgebracht aus und schlug mit Wucht auf den Tresen, so dass der mürrische Barmann, der gerade dabei war, Tequila in einige Gläser zu schütten, zusammenschreckte und ihr dann einen böse funkelnden Blick zuwarf.
„Du musst das deiner Anwältin mitteilen! Sie wird diesen … diesen… Möchtegern-Gigolo in… in Grund und Boden stampfen!!!“, rief Lene weiter aus und sah Eileen funkelnd an, ihr Gesicht war ganz rot geworden vor Wut.
Doch Eileen winkte ab.

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„Was soll das bringen? Es gibt kein Gesetz, das ihm verbietet, in seinem eigenen Haus mit seiner neuen Partnerin … du weißt schon…“
Lene biss sich auf die Lippen, dachte einen Moment nach und rief dann aus: „Ich bin mir da nicht so sicher! Vielleicht gilt es als eine Art seelischer Grausamkeit? Oder…“, sie dachte weiter nach und verkündete dann mit sich überschlagender Stimme: „Ich hab´s! Ich hab´s! Unzucht!“

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Eileen musste trotz der eigentlich wenig amüsanten Situation lachen. „Unzucht? Lene, wir sind nicht im Mittelalter! Und abgesehen davon wäre es wohl nur Unzucht, wenn die beiden es auf dem Marktplatz getan hätten und nicht in ihrem eigenen Schlafzimmer.“
„In deinem! In deinem Schlafzimmer!“
„Ja, in meinem, aber rein rechtlich gesehen in unserem.“
Eileen seufzte. „Ich sollte vielleicht wirklich bald versuchen, aus dem Haus auszuziehen. Was meinst du?“

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Lene zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, Eileen. So einfach wird das alles ja nicht, oder? Du kannst wohl kaum die Raten abbezahlen und dir eine Wohnung leisten, oder?“
Eileen schüttelte den Kopf. „Ich denke nicht. Ich muss offen zugeben, dass ich noch nicht ganz dazu gekommen bin, alles haarklein durchzurechnen. Ich meine, ich weiß schon, wie unsere Belastungen sind, aber so lange Marcel mir nicht sagt, wie viel er dazugeben wird…“
Lene unterbrach sie: „Eileen, ich sage dir das nur ungern, aber ich finde, darauf solltest du nicht mehr warten. Mach Nägel mit Köpfen und gehe gerichtlich gegen ihn vor.“

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Eileen aber schüttelte den Kopf.
„Noch nicht, Lene. Selbst meine Anwältin sagte, ich solle es erst einmal auf dem guten Weg versuchen und mit einer normalen Kommunikation. Und weißt du, es ist ja auch alles noch relativ frisch. Schau mal, es ist erst drei Wochen her, seit Marcel gegangen ist. Noch vor einer Woche habe ich selbst überhaupt nicht begriffen, was los war, erinnerst du dich? Es ist alles so wahnsinnig schnell gegangen.“
Sie seufzte. „Ich brauche selbst noch ein bisschen Zeit.“

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Marlene nickte und strich ihr über den Rücken.
„Ja, das kann ich verstehen. Weißt du, es ist so viel geschehen in dieser knappen einen Woche, seit ich bei dir vor der Tür stand, dass es mir vorkommt, als seien schon Monate vergangen. Wahrscheinlich bin ich dem ganzen deswegen immer einige Schritte voraus.“

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Sie nippte an ihrem Getränk, während Eileen nickte.
„Ja, mir geht es genauso. Wenn ich mir überlege, dass wir heute vor einem Monat praktisch noch alle vier zusammen ausgegangen sind, dass mein Leben mehr oder minder ganz normal war, erscheint es mir wie ein verrückter Traum. Ich meine, das kann doch nicht erst einen Monat her sein, oder? Es kommt mir vor, als sei seitdem ein halbes Leben an mir vorbei gezogen.“
Lene zuckte die Schultern. „Vielleicht ist das ja auch so“, erwiderte sie dann.
Eine Weile schwiegen beide, bis jemand hinter ihnen an das Mikrofon trat und sagte: „So, und heute findet unser allwöchentlicher Karaoke-Abend statt. Wer hat Lust, mit zu machen?“
Marlene klatschte in die Hände und Eileen seufzte. Marlene liebte Karaoke, war geradezu süchtig danach. Wie hatte sie nur vergessen können, dass heute Sonntag war und in einer ihrer liebsten Bars von zehn bis zwölf Uhr Karaoke-Singen statt fand?
Wieder einmal wurde Eileen klar, wie schlecht ihr Zeitgefühl geworden war.
„Nein, vergiss es, Lene“, sagte sie übellaunig. „Wenn mir heute nach allem ist, dann nicht nach Karaoke. Wir sollten lieber zahlen und gehen, es ist auch schon spät und…“
„Ach komm, Eileeeeeen! Bitte, bitte, bitte – nur ein winzig kleiner Song!“

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Eileen seufze ergeben. „Na gut, wenn du meinst…“
„Was magst du singen?“
„Ich?!“ Eileen verschluckte sich fast vor Schreck an ihrem Getränk. „Ich will gar nichts singen! Wenn mir heute nach allem ist, nur nicht nach Singen!“
„Ach komm schon, das hilft dir vielleicht, deine Aggressionen los zu werden!“, schlug Lene vor-

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Sie wartete kaum eine Antwort ab, sprang vom Stuhl und verschwand. Eileen kratzte sich am Kopf. „Diese Frau macht mich wahnsinnig!“, murmelte sie, woraufhin der Barkeeper ihr einen Blick zuwarf, der fast „nicht nur dich“ hätte bedeuten können.
Nur wenige Sekunden später tauchte Marlene wieder auf und nahm zufrieden grinsend auf dem Barhocker platz.
„Wo warst du?“, zischte Eileen ihr zu, doch Marlene macht nur „schhhh“ und schenkte ihre ganze Aufmerksamkeit dem Moderator des Abends, der nun ans Mikrofon trat und ankündigte: „Und hier haben wir heute unsere erste Interpretin des Abends – Eileen singt für uns *Zu spät* von den Ärzten!!“

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Die Besucher klatschten und Eileen verschluckte sich vor Schreck an ihrem Cocktail
„Lene… du…. du … ich….!“, zischte sie ihrer Freundin zu, die sie grinsend vom Barhocker bugsierte und in Richtung Mikrofon schob.
Eileen wäre am liebsten im Erdboden versunken!
Puderrot versuchte sie, die neugierigen Blicke der Gäste zu ignorieren. Ihr war klar, dass es jetzt kein Zurück mehr gab, und obwohl sie Lene am liebsten gevierteilt hätte, griff sie tapfer nach dem Mikrofon und heftete ihren Blick auf den Bildschirm, während die ersten Akkorde des Liedes aus den Boxen dröhnten.
Warum hast du mir das angetan? Ich hab’s von einem Bekannten erfahren: Du hast jetzt einen neuen Freund“, sang sie mit noch schüchterner Stimme, die von der gedämpften Hintergrundstimme des eigentlichen Sängers Bela fast übertönt wurde.

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Dann fing sich ihre Stimme langsam und die Bedeutung des Textes ergriff Besitz von ihr und mit lauterer Stimme sang sie: „Zwei Wochen lang hab ich nur geweint!
Jetzt schaust du weg, grüßt mich nicht mehr, und ich lieb dich immer noch so sehr! Ich weiß, was dir an ihm gefällt: Ich bin arm und er hat Geld! Du liebst ihn nur, weil er ein Auto hat,
und nicht wie ich ein klappriges Damenrad!
Aus den Boxen dröhnten die heftigen Schlagzeugbeats der aufgepeppten Karaokeversion des Klassikers und Eileen musste grinsen und spürte, wie sie ein Kribbeln erfasste, während sie mit lauter und klarer Stimme sang:
Doch eines Tages werd' ich mich rächen, ich werd die Herzen aller Mädchen brechen.
Dann bin ich ein Star, der in der Zeitung steht, und dann tut es dir leid, doch dann ist es zu spät! Zu spät, zu späääät, Zu spät, zu späääät, Zu spät, zu späääät, doch dann ist es zu spät. Zu spät, zu späääät!! Dann ist alles viel zu spät!“

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Sie grinste Lene zu, die lachend aufstand und wie viele andere Gäste freudig in die Hände klatschte.
Eileen spürte sie wieder, die heilende Wut, die in ihr aufstieg und sang weiter:
Du bist mit ihm im Theater gewesen, ich hab dir nur Fix und Foxi vorgelesen.
Du warst mit ihm essen, natürlich im Ritz, bei mir gab’s nur Currywurst mit Pommes frites!
Der Gedanke bringt mich ins Grab!Er kriegt das, was ich nicht hab!“
Oh ja, sie hätte das haben sollen – sie hätte diejenige sein sollen, die sich mit Marcel an einem regnerischen Samstagnachmittag im Bett wälzte. Sie hatte es verdient, geliebt und bewundert zu werden! Und nicht diese… andere!!!
Die Wut bahnte sich ihren Weg in ihrer Stimme, mit voller Kraft sang sie weiter:
„Ich hasse sie, wenn es das gibt, so wie ich dich vorher geliebt!!“

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Lene hüpfte jetzt auf und ab und Eileen lachte so laut auf, dass sie einige Wörter des Textes verschluckte, die Gäste fanden das jedoch nicht weiter schlimm und lachten einfach klatschend mit.
Fast schon aggressiv und doch auf ihre Weise freudig sang Eileen sich weiter durch das Lied, bis der letzte Akkord aus der Box dröhnte.
Verschwitzt und mit rotem Gesicht gab sie dem Moderator das Mikrofon zurück und ging lachend und unter dem Applaus der versammelten Gästeschar zu ihrem Platz zurück.
„Und? Und?! Fühlst du dich besser?!“, fragte Lene grinsend.

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„Sei froh, dass ich meine Aggression gerade in das Lied gepackt habe und nicht an dir auslasse!“, gab Eileen zwinkernd zurück. Lene lachte laut auf, sagte jedoch nichts dazu.
„Ich bin völlig fertig, ich muss mal auf die Toilette!“, rief Eileen schnell und Marlene nickte.
Rasch rutschte sie vom Barhocker, ihr Rock klebte am Nylon der Strümpfe und sie wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Das war anstrengend gewesen!
Schnell machte sie sich auf den Weg zur Toilette, wo sie sich ein wenig erfrischte.

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Kaum war sie aus der Türe stieß sie jedoch hart mit jemandem zusammen, der gerade in die Männertoilette gehen wollte.
„Autsch!“, entfuhr ihr, denn sie rammte sich den Ellenbogen des anderen mit Wucht in die Rippen.

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„Entschuldigen Sie!“, sagte eine warme, männliche Stimme. „Ist alles okay?“
Eileen sah auf und erblickte ein Paar unglaublich blau funkelnder Augen, das sie freundlich musterte.
„Oh… ich… ja, kein Problem!“, erwiderte sie rasch und trat einen Schritt zurück, um ihr Gegenüber besser im gedämpften Licht sehen zu können.
„Haben Sie sich weh getan?“, der Mann blickte sie freundlich an.
„Nein, nein – Sie hoffentlich auch nicht?“ Eileen lächelte verlegen. „Ich bin wohl zu schnell um die Ecke gesaust!“

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„Vermutlich ist das noch Rest-Energie aus ihrem sagenhaften Auftritt“, sagte die weiche, aber tiefe Stimme und der Mann lächelte freundlich. „Ich muss sagen, ich habe selten jemandem dieses Lied derart abgekauft wie Ihnen!“
Eileen lachte leise. „Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Ich hoffe, ich habe Sie und die anderen Gäste damit nicht zu sehr schockiert.“
„Ganz und gar nicht“, lachte der Mann.
Eileen lächelte wieder und fühlte sich plötzlich nervös. „Ja… dann… entschuldigen Sie nochmals“, sagte sie rasch. Der Mann nickte und verschwand hinter der Tür zu den Toiletten.
Als Eileen weitergehen wollte, merkte sie, dass ihre Beine sich seltsam weich anfühlten.

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Sie war froh, als sie den Barhocker wieder erreicht hatte und Platz nehmen konnte.
„Du warst lange weg!“, sagte Marlene vorwurfsvoll. „Du hast meinen ganzen Auftritt auf der Toilette verbracht. Alles in Ordnung mit dir? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“

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Eileen schaute auf. „Was? Nein… ich… du sag mal, wollen wir dann gehen?“
Sie warf einen Blick auf die Uhr. „Es ist schon fast halb elf und wir müssen morgen früh raus.“
Lene nickte. „Ja, ich hab schon bezahlt, weil ich auch müde bin. Geht´s dir gut?“
Eileen nickte und versuchte, das verwirrend-kribbelnde Gefühl in sich zu verdrängen, während sie sich vom Barhocker gleiten ließ.
„Ja, alles okay. Lass uns gehen.“
Doch als sie die Bar verließ, konnte sie nicht umhin sich dabei zu ertappen, wie sie sich noch einmal suchend umschaute, als die Tür hinter ihr zufiel.

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Fortsetzung folgt​
 
  • Danke
Reaktionen: julsfels
Huhu Innad :)
wieder ein super tolles Kapitel..

Ich musste ja die ganze Zeit schmunzeln :D.. Ich finde, der Abend mit Lene war wieder sehr gelungen und so konnte sie auch wieder für einige Minuten abschalten.. Das Lied war auch total passend, welches Eileen gesungen hat :D.. Und der Zusammenstoß mit dem Fremden war ja auch noch mal so ein "Higlight" :D .. Jetzt will ich natürlich wissen, wer der Fremde ist und ob Eileen ihn vielleicht nochmal trifft.. Natürlich ist sie erst frisch getrennt, aber neue Bekanntschaften würden ihr gut tun und sie würde auch mehr unter Leuten raus kommen ;)

Ich freue mich schon sehr auf das neue Kapitel :)
lg lyn :hallo:
 
Hallo Juls,
doch, das ist er :D Nur mit einer anderen Frisur, die Haaren durften bis zum Tag X noch wachsen :D


Hallo Lynie,
ja, das stimmt, neue Bekanntschaften würden ihr durchaus gut bekommen. Aber es war ja nur ein Zusammenstoß :)


24.


Da war es wieder. Das leere Haus.

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All die Energie, Kraft und das Kribbeln, die sie bis vor einigen Minuten noch erfüllt hatten, schienen aus ihr zu weichen wie die Luft aus einem angestochenen Luftballon.
Sie hörte das Motorengeräusch von Lenes altem VW in der Ferne verschwinden. Dann war es still, nur der Regen trommelte gleichmütig aufs Dach, als sei alles in bester Ordnung.
Eileen spürte, wie sich ihr Magen und ihr Herz gleichzeitig zusammen schnürten und wieder ergriff sie das mulmig-unschöne Gefühl der letzten Nächte.
Vorsichtig stellte sie ihre Tasche ab und betrat das leere Wohnzimmer. Es war so still, man hätte fast eine Stecknadel fallen hören können.
Eine unbehagliche, dunkle Stille war es. Rasch drückte sie wie schon an jedem vergangenen Abend der letzten Woche auf sämtliche Lichtschalter in Wohnzimmer und Küche.

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Um die unerträgliche Stille irgendwie zu durchbrechen, schaltete sie sofort den Fernseher ein. Während der Wettermann vergnügt verkündete, dass der Herbst endgültig Einzug gehalten habe, stand sie wieder auf und setzte eine ihrer zahllosen einsamen Wanderungen durchs Haus fort.
Sie wusste gar nicht recht, wo sie es hintrieb. Es schien ihr nur so, als ertrage sie keinen Platz in diesem Haus, in dieser Stille und Einsamkeit länger als fünf Minuten.
So stieg sie die Wendeltreppe nach oben, machte auch hier wieder in fast allen Zimmern, abgesehen von Marcels altem Arbeitszimmer, das nun so leer und verwaist auf das hinwies, was fehlte und was so falsch war, Licht und ließ die Rollos herunter.

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Dann ging sie ins Badezimmer, schälte sich aus den Kleidern und während heißes, dampfendes Wasser plätschernd in die Badewanne lief, drehte sie sich ihr Haar zu einem kleinen Dutt auf, den sie mit einem Stäbchen fixierte.
Dann stieg sie vorsichtig in die Badewanne und lehnte sich seufzend zurück.
Das hatte schon immer ihre Gedanken beruhigt. Langsam ließ sie sich in dem heißen Schaumbad nieder und versuchte für einen Moment die Augen zu schließen, um zu entspannen.
Obwohl sie todmüde war, erfüllte Eileen genau wie in den letzten Tagen diese furchtbare Anspannung und Nervosität, die sie kaum schlafen ließen. Vermutlich hatte sie seit mehr als einer Woche keine Nacht mehr hinter sich gebracht, in der sie nicht mehrmals aufgeschreckt war, die benachbarte Bettseite betastet und nach dem warmen Männerkörper neben sich gesucht hatte, nur um dann diesen bitteren Schmerz in sich aufsteigen zu fühlen und nur mühsam zurück in den Schlaf zu finden.
Die wildesten Träume verfolgten sie dann, teilweise gruselig, teilweise einfach unsinnig, selten auch schöne Träume, Erinnerungen an vergangene Zeiten, Illusionen dessen, was eigentlich noch sein sollte und nicht mehr war.

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Müde pustete Eileen einige Schaumblasen in die Luft und sah ihnen nachdenklich nach, wie sie schillernd für einen kurzen Augenblick nach oben schwebten und dann zerplatzten.
Ganz so wie ihre Träume, ihre Wünsche und ihre Hoffnungen – wie ihr ganzes Leben, zumindest mehr oder weniger.
Sie schloss die Augen und die Erinnerungen stiegen in ihr auf. Wie oft hatte sie es genossen, abends nach der Arbeit hier zu entspannen.
Marcel hingegen war der klassische „Dusch-Typ“. Er sagte immer, dass er in der Badewanne gar nicht sauber werden könne, weil ihn schon alleine die Vorstellung, sich in derart heißes Wasser zu tauchen, in Schweiß badete.
Bei diesem Gedanken musste Eileen gegen ihren Willen lächeln. Meist war sie dann nach dem heißen Bad hinunter ins Wohnzimmer gegangen, hatte ein leichtes Abendbrot zubereitet und es sich gemeinsam mit Marcel gemütlich gemacht.

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Gerade an den Sonntagabenden war dies oft so gewesen, wenn sie nicht gerade mit Lene und Dirk oder anderen Freunden unterwegs gewesen waren.
Aber jetzt – wer wartete jetzt unten auf sie? Der Wettermann mit seinen Regenprognosen? Nein, nicht einmal der würde jetzt noch über die Mattscheibe flimmern.
Alles was unten auf sie wartete, war ein Wohnzimmer, dem man bei genauem Hinsehen die Lücken, welche Marcels Auszug hinterlassen hatten, durchaus ansah – das und die Stille der verregneten Herbstnacht.
Seit Tagen hatte sie nicht mehr geweint, doch jetzt konnte sie nicht mehr gegen die Tränen ankämpfen. Sie vermischten sich mit dem duftigen Badewasser und brachten die um sie herumschwebenden und –schwimmenden Seifenblasen zischend zum Platzen.
Es war alles so ungerecht, so unglaublich, so unerträglich geworden!
Seit Tagen hatte sie versucht zu funktionieren, ihren Kopf einzuschalten und das nötigste zu tun und mit der immer stärker werdenden Erkenntnis, dass dies gerade wirklich geschah, dass ihre Ehe vor dem Aus stand und ihr Mann zu einer anderen gezogen war, waren auch die Verbitterung und die Wut gekommen. Sie hatten den tiefen Schmerz und die Fassungslosigkeit, das Gefühl von machtloser Hilflosigkeit, von Einsamkeit eine Weile zu verdrängen verstanden.

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Doch an diesem Sonntagabend war alles wieder so, als sei es gerade eben erst geschehen. Und war es das nicht irgendwie auch? Noch vor einer Woche hatte sie kaum realisiert, was geschehen war. Wie konnte es nur sein, dass sich in einer Woche das Leben so grundlegend veränderte?
Manifeste, die seit Jahren die Säulen des Daseins waren, plötzlich ohne weiteres pulverisiert zu Boden fielen. Wie sollte sie nur weiterleben ohne diese Manifeste?
Eileen wischte sich schniefend mit schaumbedeckten Händen die Tränen aus dem Gesicht, zog den Stopfen und ließ das Wasser ablaufen.
Sacht rubbelte sie sich ab und schlüpfte in ihren Pyjama.
Dann ging sie hinunter ins Wohnzimmer.

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Im Fernsehen flimmerte irgendeine nächtliche Talkshow, in der sich zwei Politiker über die kommenden Steuererhöhungen stritten und der eine dem anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben versuchte, während die Moderatorin vergeblich versuchte, stichhaltige Antworten auf konkrete Fragen zu bekommen.
Eigentlich war also alles wie immer. Und doch so ganz und gar nicht.
Doch die Welt um sie herum drehte sich gleichmütig genauso weiter wie bisher. Eileen seufzte, nahm die Fernbedienung zur Hand und stellte einen anderen Kanal ein, der nicht viel amüsanteres verkündete. Doch der Fernseher vertrieb wenigstens die unangenehme Stille - die Stereoanlage hatte Marcel mitgenommen.

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Als sie auf den leeren Platz neben dem Fernseher starrte, zerbrach sich Eileen einen Moment lang den Kopf darüber, ob dies so vereinbart gewesen war. Sie wusste es beim besten Willen nicht mehr.
Müde stand sie auf und wanderte hinüber in die Küche. Ihr Magen knurrte, obwohl sie vorhin mit Marlene zusammen zu Abend gegessen hatte.
So wenig wie sie in den ersten drei Wochen nach der Trennung hatte essen können, umso mehr Hunger hatte sie seit gestern.
War das nun das große Frustfressen?
Ganz ihrem unglaublichen Appetit entsprechend hatte sie gestern den halben Supermarkt leer gekauft und fand sich nun zum ersten Mal seit langer Zeit vor einem gut gefüllten Kühl- und Gefrierschrank, aus dem sie sich eine Tiefkühltorte nahm, die sie am Morgen schon angeschnitten hatte.

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Vielleicht war es wirklich Futter für die Seele?
Hungrig aß sie gleich zwei Stücke der Leckerei, räumte das Geschirr zur Seite und setzte sich wieder vor den Fernseher. Ihr Rücken schmerzte nach wenigen Minuten auf der weichen Couch und sie rutschte in den Schneidersitz und nahm den harten Holzboden in Kauf. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie dringend ins Bett gehen sollte. Doch ein Schauder überlief sie bei diesem Gedanken.

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Immer noch konnte sie das gestern gesehene Bild nicht verdrängen. Eine Weile überlegte sie, ob es nicht vielleicht klug sei, morgen nach der Arbeit ins Möbelhaus zu fahren und sich nach einem günstigen neuen Bett umzuschauen. Ein Einzelbett würde ja vorerst reichen.
Mit diesem Bett da oben waren einfach zu viele Erinnerungen verbunden – und nicht nur die des vorigen Tages.
Letztlich war ihr Kind in diesem Bett entstanden, aber es waren noch so viel mehr Erinnerungen in ihr.
Sie wusste noch genau, wie es in der ersten Nacht in diesem Haus gewesen war.
Nach einem Tag voller Plackerei und Umzugsstress hatte in dem ganzen Haus bis auf die bereits eingebaute Küche noch nichts seinen Platz gefunden – nichts außer dem Bett.
So hatten sie beide sich abends darauf ausgestreckt, glücklich aneinander gekuschelt und sich ihr Leben in diesem Haus in den schönsten Farben ausgemalt. Wie sie einmal Kinder haben würden, wie man es ausbauen könnte und wie man den Garten bepflanzen wollte.

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Es schien Ewigkeiten weit weg zu sein und doch so nah. Eileen lächelte schmerzerfüllt und stand ruckartig auf, ganz als könne sie die Erinnerung damit verscheuchen.
Es war so leer. Es war so still.
Wenn sie doch wenigstens ein Haustier gehabt hätte! Und wenn es nur ein schlichter Fisch im Aquarium gewesen wäre, mit dem sie nun hätte plaudern können – ganz gleich ob er sie verstand oder nicht – oder der mit einem „Blubb“ im Wasser die klamme Stille im Haus vertrieben hätte und ihr das Gefühl gegeben hätte, nicht das einzige Lebewesen auf der Welt zu sein… zumindest auf dieser kleinen Welt innerhalb ihrer vier Wände, die gerade so groß und erdrückend zu sein schien wie ein ganzer Kontinent.
Eileen seufzte tief auf. Marcel hatte immer etwas gegen Haustiere gehabt. Als Kind hatte Eileen einen Hund gehabt, Annie, eine süße Mischlingshündin.

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Diese war aber gestorben, bevor Eileen ausgezogen war.
Marcel hatte eine Katzen- und Hundehaarallergie und damit kam weder eine Samtpfote noch ein Folgehund jemals in Frage.
Aber auch von Fischen, Vögeln oder anderen Tieren hielt Marcel nichts. Sie würden ja doch nur Arbeit machen und „nichts bringen“, hatte er immer gesagt.
Wieso hatte sie ihn nie vom Gegenteil überzeugen können? Nachdenklich fragte Eileen sich, ob sie Marcel eigentlich jemals klar gesagt hatte, wie viel ihr an einem Haustier gelegen wäre.
Eigentlich hatte sie das nie geäußert, denn seine Haltung war so überdeutlich gewesen. Ob das auch in anderen Punkten so gewesen war?
Erstaunt stellte sie fest, wie sich ihr Blickwinkel auf viele Dinge in der Beziehung allmählich zu wandeln begann. Hatte sie Marcel vielleicht in noch viel mehr anderen Dingen in besserem Licht gesehen als er verdient hatte?

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Sie gähnte und zuckte mit den Schultern, auch wenn niemand da war, der sie sehen konnte.
Es half alles nichts, es war schon deutlich nach Mitternacht und morgen klingelte der Wecker in aller Herrgottsfrühe. Sie musste schlafen gehen.
Zögerlich schaltete sie den Fernseher aus und rieb sich schaudernd die Arme, als die Stille wieder ohrenbetäubend laut zu werden schien.
Sie ließ vorsorglich eine Stehlampe an, zwang sich jedoch dazu, die anderen Lichter zu löschen. Immerhin musste sie die Stromrechnung ab sofort ganz alleine begleichen und konnte es sich nicht erlauben, zu viel Geld dafür auszugeben.
Sie musste morgen unbedingt Zeit finden, alles haarklein durchzurechnen, um sich ihrer finanziellen Situation ganz sicher sein zu können.
Aber jetzt war es zu spät, und sie war viel zu müde.
Leise tappte sie nach oben ins Schlafzimmer. Sie ahnte bereits, dass sie am Morgen nicht gut aus den Federn kommen würde und nahm sich sicherheitshalber schon ihre Kleider aus dem Schrank.

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Sie konnte es sich nicht erlauben, auch noch zu spät zur Arbeit zu kommen.
Eileen drehte sich um und betrachtete das Bett mit erneuter Abscheu. Dann atmete sie tief durch und schlug die Bettdecke zurück.
„Morgen wird ein neues Bett gekauft!“, sagte sie entschieden in die Stille des Raumes hinein.
Jetzt war sie dankbar für den Regen, der die Stille zumindest ein bisschen durchbrach und mit seinem eintönigen, beruhigenden Trommeln eine einschläfernde Wirkung auf sie hatte.
In ihrem Kopf wurden die Gedanken schwerfälliger und träger und sie spürte, wie der Schlaf sie zu übermannen begann und die angespannte Nervosität in ihr zumindest für den Moment zu besiegen schien.
Und das letzte Bild, das sie wahrnahm, bevor sie in den Schlaf sank, waren ein Paar funkelnder Augen – funkelnd blau.


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Huhu Innad,
das Kapitel ist wieder sehr gefühlvoll geschrieben..

Ich kann Eileen ganz gut verstehen.. Nach einer Trennung lässt man sich zuerst total hängen und wenn man sich wieder aufrafft, das Leben in die Hand zu nehmen, kommen aber wieder diese Momente, in denen man sich einsam und alleine fühlt und auch alte Erinnerungen wieder hochkommen.. Sie wird solche Momente auch noch öfters haben, aber die Zeit heilt alle Wunden :)

Ich bin auch gespannt, welche blaue Augen sie da sieht.. Die von Marcel sind es nicht, da die ja braun sind.. Habe im Moment da echt keine Idee..

Ich freue mich schon auf das nächste Update :)
lg lyn :hallo:
 
Lynie: Das stimmt, die Erinnerungen kommen immer wieder hoch. Und letztlich sind es ja auch erst wenige Wochen seit der Trennung, und Eileen muss sich erst noch an ein Leben als Single gewöhnen.

Eines kann ich verraten: es gibt einen deutlichen Hinweis im vorherigen Kapitel zu dem Punkt "Blaue Augen" ;)



25.

Zufrieden stemmte Eileen die Hände in die Hüften und betrachtete ihr Werk.
Ein Gefühl von Erleichterung nahm sie ein, als sie langsam durch das veränderte Schlafzimmer schritt.

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Sie hatte sämtliche Möbel und Wanddekorationen aus dem Zimmer verbannt und sich – ganz wie sie es vor einer Weile beschlossen hatte – im Möbelhaus ihres Vertrauens ein neues, günstiges Bett, einen neuen Schrank und Nachttisch gekauft.
Zuerst hatte sie ein kleines Einzelbett kaufen wollen, doch Lene – die sie begleitet hatte – war energisch dagegen gewesen.
„Du wirst nicht dein Leben lang alleine bleiben, Eileen!“, hatte sie empört ausgerufen. „So ein Bett ist viel zu klein, selbst für dich alleine!“

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Also hatte sie sich breitschlagen lassen, ein großes Bett zu nehmen.
Gestern war ihr Vater da gewesen, hatte einen großen Farbeimer mitgebracht und – obwohl sie ihn nicht darum gebeten hatte – ohne große Kommentare angefangen, die Böden und Wände abzukleben und das Zimmer anders zu streichen.
Dabei hatte sie nur am Rande in einem Telefonat erwähnt, dass sie die Wandfarbe auch gerne ändern würde, dazu aber zurzeit nicht recht die Kraft hatte – mal ganz abgesehen davon, dass sie mit ihren zwei linken Händen vermutlich alles andere im Raum mit Farbe beglückt hätte als die Wand selbst.
Eileen ließ sich nachdenklich auf das neue Bett sinken und sah sich um.

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Nun war es noch offizieller, dass ihre Ehe zu Ende war, denn diese Farbe hätte Marcel sich um nichts in der Welt gefallen lassen!
Ein Lächeln huschte bei dieser Vorstellung über ihr Gesicht und einen Moment dachte sie darüber nach, das neue Zimmer mit dem Handy zu fotografieren und das Bild per MMS an Marcel zu schicken, tat dies aber im nächsten Moment als kindisch und unnütz ab.
Dennoch musste sie alleine über die Vorstellung noch weitere fünf Minuten lächeln, während sie sich auf den Weg nach unten ins Wohnzimmer machte. Auf dem Boden lagen einige Unterlagen ausgebreitet – Rechnungen, Auflistungen, Verträge.

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Marcel hatte sich – obwohl er es versprochen hatte – seit fast fünf Wochen nicht mehr gemeldet, um ihr mitzuteilen, wie sie finanziell weiter machen wollten. Eileen hatte ihn etliche Male zu erreichen versucht – er hatte sie immer wieder vertröstet: er habe zu viel Stress auf Arbeit, um sich damit zu befassen. Er müsse es sich erst noch einmal überlegen. Er sei gerade dabei, alles durchzurechnen. Dann hatte er angeblich eine Woche mit Grippe im Bett gelegen, in dieser Zeit war er nicht einmal ans Telefon gegangen.
Es musste schnell eine Lösung gefunden werden. Sie verdiente nicht ausreichend, um das Haus mit allen Kosten alleine zu halten und von dem Rest auch noch zu leben.
Viel mehr reichte ihr Gehalt gerade einmal, um die laufenden Kosten zu decken, aber für Lebensmittel und Haushaltskosten blieb dann nichts mehr übrig, geschweige denn von Luxusartikeln wie neu erstandenen Kleidern oder dem neuen Bett.

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Eileen biss sich nervös auf der Unterlippe herum, als sie ihren Blick erneut über die Zahlen schweifen ließ. Wenn sie sich nicht schleunigst etwas überlegte, würde sie in wenigen Wochen bankrott sein. Noch hatte sie einige Reserven auf ihrem Konto, denn sie hatte sich bereits wenige Tage Marcels Auszug einen kleinen Teil des dort gesparten Guthabens auf ihr Konto überwiesen. Das war absolut rechtens, wie ihre Anwältin ihr versichert hatte. Des Weiteren schlummerte noch ein kleines Sparbuch in sicherem Gewahrsam. Darauf befand sich Geld, das Eileen schon als Kind und Teenager angespart und glücklicherweise nie benutzt hatte. Aber es würde ihr nicht viel länger als ein oder zwei Monate ermöglichen, sich mit Essen und allem Notwendigen zu versorgen. Und das Polster auf ihrem Konto würde auch bald erschöpft sein. Der Gedanke daran ließ sie ein Gefühl von Panik empfinden.
Langsam stand sie auf und rieb sie sich über die Augen, obwohl es erst vier Uhr am Nachmittag war. Sie schlief nachts offenbar immer noch zu schlecht, denn es hatte seit der Trennung keinen Tag mehr gegeben, an dem sie sich nicht müde und schlapp gefühlt hatte.

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War das aber ein Wunder, bei allem, was geschehen war? Auch wenn die Trennung von Marcel nun schon fast acht Wochen her war, so schien das alles immer noch gerade erst gestern geschehen zu sein. Zwar hatte sich der Großteil, vor allem ihr Verstand, von ihr inzwischen damit abgefunden, dass es aus war, dass das alles wirklich passiert war… aber es gab einige Stellen ihrer Seele, die dieser Erkenntnis noch weiter hinterher hinkten.
Vermutlich war das ganz normal so. Oder nicht?
Sie wusste es nicht, und sie konnte auch niemanden fragen.
Lene war für sie da, aber irgendwie fühlte sich Eileen oft zu sehr gedrängt von ihr. Wenn sie einmal ansprach, dass sie Marcel vermisste, schnaubte Lene immer wie ein wilder Bulle, was Eileen das Gefühl gab, dass diese Empfindungen nicht normal seien.
Aber auch wenn die Liebe zu ihm inzwischen so gut wie erloschen war – alleine durch alles, was er ihr seither „angetan“ hatte – so gab es doch immer noch die Bindung zu ihm. Gewohnheiten, Vertrautheiten, die sich nach etlichen Jahren nicht mit einem Wimpernschlag null und nichtig machen ließen.
Sie öffnete die Terrassentür und trat hinaus auf die bereits im Winterschlaf befindliche Terrasse.

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Heute regnete es ausnahmsweise einmal nicht, aber es war in den vergangenen Nächten klirrend kalt geworden. Kein Wunder, es war ja bereits November.
Sie fürchtete sich vor den bald anstehenden Vorweihnachtstagen – eine Zeit, in der sicher niemand gerne alleine und schon gar nicht frisch getrennt war.
Marcel hatte jedoch nie viel für Weihnachten übrig gehabt. Er hatte diese Zeit als „Konsummacherei“ verdammt – und es auch so mit seiner Schenkenslust gehalten. Nach einigen Jahren hatte Eileen die Hoffnung darauf aufgegeben, einmal etwas „schönes“ von ihm zu bekommen.
Meistens hatte er sich mit der Aussage „aber wir haben doch uns“ aus der Affäre gezogen. Dabei hatte sie ihm jedes Jahr etwas geschenkt, meist hatte sie schon im frühen Herbst dafür gesorgt. Sie hatte es immer geschafft, ihn am Heiligabend zu überraschen.

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Dieses Jahr war ihr jedoch nichts eingefallen. In der Regel schaffte sie es im Laufe des Jahres einen Wunsch von Marcel „aufzuschnappen". In diesem Jahr war dies nicht so gewesen – nun, und dann war ohnehin die Trennung gekommen.
Aber wenn sie heute darüber nachdachte, hatte es nicht zu ihr gepasst, dass sie so gar nichts wusste. Das zeigte einmal mehr, dass auch sie sich bereits von ihm entfremdet hatte. Vielleicht war er für sie wirklich weniger bedeutsam gewesen als sie realisiert hatte?

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Sie zuckte die Achseln, auch wenn sie niemand sehen konnte und schloss die Tür wieder.
Ihre Gedanken wanderten wieder zum Haus und den damit verbundenen Kosten.
Zorn stieg in ihr auf, wenn sie daran dachte, dass Marcel sich immer noch nicht gemeldet hatte. Zwei Kurzmitteilungen hatte sie ihm in der vergangenen Woche bereits geschickt – auf die erste war gar keine Reaktion gekommen, auf die zweite – die sie gestern losgeschickt hatte – hatte er an diesem Morgen geantwortet. „Ja, weiß schon. Bin im Stress, melde mich asap.“

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„As soon as possible“, zischte sie in den leeren Raum und ballte die Faust. Was hatte er schon so wichtiges zu tun? Seine blonde Bettina glücklich machen, sich von ihr die Füße massieren lassen oder was auch immer?
Eileen schnaubte. Sie würde morgen erneut ihre Anwältin anrufen. So konnte es nicht weitergehen. Einen Moment überlegte sie, ob sie Marcel noch ein letztes Mal damit drohen sollte. Doch dann schüttelte sie den Kopf.
Sie hatte ihren Standpunkt mehr als einmal klar gemacht und ihm auch mehrmals gesagt, dass sie nicht zögern würde, rechtlich das einzuklagen, was ihr nun einmal zustand.

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Marcel konnte nicht erwarten, dass seine Entscheidungen ohne Konsequenzen blieben.
Eileen seufzte und sah sich um. Über kurz oder lang würde sie das Haus auf jeden Fall verkaufen müssen, es blieb ihr gar nichts anderes übrig.
Alles andere war auch unsinnig, was sollte sie schon mit so viel Platz? Sie konnte ihn alleine nicht ausfüllen und darum schien ihr in dem vielen Raum jeden Tag erneut die große Leere entgegen zu starren.
Eigentlich mochte sie das Haus, es zerriss ihr das Herz, sich vorzustellen, es einem anderen glücklichen Paar zu verkaufen und es in einigen Monaten unter deren liebevollen Händen zu etwas neuem wachsen zu sehen.

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Es gab hier auch so viele Erinnerungen, sie war noch nicht bereit für eine weitere Veränderung.
Und doch waren es auch genau diese Erinnerungen, die so schwierig waren. Darum war auch die Veränderung im Schlafzimmer so nötig gewesen, in den anderen Räumen hätte sie am liebsten auch aufgeräumt.
Plötzlich piepste ihr Handy. Es war eine erneute SMS von Marcel.
Sie öffnete sie und sog die Luft tief ein.

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Ihr Herz begann so schnell zu pochen, dass sie dachte, sie ersticke jeden Moment. Ihre Wangen begannen zu glühen.
Rasend vor Wut schnappte sie sich den Autoschlüssel, schlüpfte in Stiefel und Jacke, schwang sich rasch ihren Schal um den Hals und stülpte eine warme Mütze über den Kopf. Dann eilte sie zur Haustür hinaus.

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Wenige Sekunden später war sie mit quietschenden Reifen davon gefahren.
 
Huhu Innad :)

Ich finde es gut, dass Eileen Veränderungen durchnimmt.. Zuerst ihr Haar und neue Kleidung, jetzt das Schlafzimmer.. Es ist auch typisch Frau, nach einer Trennung, sich zu verändern oder die Wohnung etc.. Ich denke mal, wenn einiges anders aussieht, dass es doch ein wenig hilft, über die Trennung hinweg zu kommen, auch wenn sich Gefühle nicht einfach abschalten lassen..

Ehrlich gesagt, finde ich, dass Marcel sich etwas kooperativer zeigen sollte.. Dass das unangenehm ist, mit seiner Ex über den ganzen finanziellen Kram und die nötigen Dinge zu sprechen, kann ich verstehen, weil die Ex ja zur Vergangenheit hört und somit nichts mehr mit der Gegenwart zutun hat, aber es ist immer seine Noch-Ehefrau.. Wenn man etwas regeln muss, dann sollte man es so schnell wie möglich regeln, damit es aus der Welt geschaffen ist.. Ich kann es echt nicht verstehen :nonono:

Was das Haus angeht, denke ich auch, dass das früher oder später verkauft wird.. Es verläuft meistens immer darauf hinaus, dass Ehepaare, die sich trennen und scheiden lassen, dass somit das Haus verkauft wird, aber Eileen kann es ja auch unmöglich alleine finanzieren..

Das mit den blauen Augen habe ich jetzt verstanden :D.. Vielleicht hat das ja was zu bedeuten und die beiden treffen sich irgendwann nochmal.. Ich bin gespannt :D und auch natürlich gespannt, wohin Eileen fährt.. Ich denke ja mal zur Marcel, aber ich lass mich überraschen ;)

lg lyn :hallo:
 
Lynie: danke für Deinen Kommi. Ja, auf jeden Fall sollte MArcel kooperativer sein, immerhin hat er einfach noch Verpflichtungen, egal, was er inzwischen fühlt.



26.

„Nun beruhige dich doch erstmal, Eileen-Schätzchen“, versuchte Anita ihre Tochter zu besänftigen. Doch Eileen war dazu viel zu aufgeregt.
„Ich weiß nicht, was ich dazu noch sagen soll!“, rief sie außer sich. „Was… was denkt sich dieser Mensch nur?“

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Ihr Vater kam erstaunt ins Zimmer.
„Ich habe deine Stimme gehört“, sagte er und sah fragend von Eileen zu deren Mutter. „Was ist denn los? Ist etwas passiert?“
„Nun…“, begann Anita, doch Eileen fiel ihr ins Wort: „Das kann man wohl so sagen! Ich… ich fahre zu ihm, Mama, ich… ich sag ihm ins Gesicht, was für ein egoistisches, blödes Ar…“
„Nun mal ganz langsam, ich verstehe nur Bahnhof“, unterbrach ihr Vater sie. „Was ist denn los?“

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„Schätzchen, jetzt setz dich erstmal, ich koche uns einen Tee und dann reden wir in aller Ruhe, ja?“, sagte Anita sanft.
Eileen atmete tief ein und sah von ihrem Vater zu ihrer Mutter hin und her, die sie beide besorgt musterten. Vermutlich befürchteten beide, sie habe nun endgültig den Verstand verloren.
„Ja… gut“, sagte Eileen langsam und versuchte, ihre zitternden Hände unter Kontrolle zu bringen. Ihr Herz schlug ihr noch immer bis zum Hals und ihr war übel geworden vor lauter Aufregung.
Ihr Vater schob sie in die Küche, wo sie sich auf den Stuhl fallen ließ. Er nahm neben ihr Platz. „Jetzt erzähle mal Schritt für Schritt“, sagte er sanft.

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Eileen kramte ihr Handy aus der Handtasche, öffnete die Kurzmitteilung und gab das Handy stillschweigend ihrem Vater.
Dieser flog über die Mitteilung und wurde plötzlich rot im Gesicht. Zornig legte er das Handy zur Seite, sah seine ratlose Frau an und stieß dann hervor: „Also… das… das ist ja… ungeheuerlich!“
Nun, da ihr Vater den wütenden Part übernommen zu haben schien, fühlte Eileen sich plötzlich nicht mehr wütend und ärgerlich, sondern müde und hilflos. Am liebsten hätte sie sich in eine Ecke verkrochen und wie ein kleines Kind geweint.
„Kann mich bitte jemand aufklären?“, sagte Anita, während sie Tee in die Tassen füllte - und nun schwang auch in ihrer Stimme leichte Ungeduld mit.

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„Es ist ganz einfach, Mama – Marcel hat sich endlich zu meinen wiederholten Aufforderungen, mir zu sagen, wie wir mit den Zahlungen fürs Haus weitermachen sollen, geäußert.“
„Er hat das Haus zum Verkauf gestellt!“, rief Günther aus und sah Anita fassungslos an. Diese sah erschrocken von einem zum anderen und sagte dann: „Aber… aber das ist doch nicht möglich!“
„Doch“, sagte Eileen müde. „Er hat mir mitgeteilt, dass er kein Geld mehr für ein Haus zahlen wird, in dem er nicht mehr lebt und darum einen Makler gebeten hat, das Haus zu verkaufen.“
„Halt dich morgen ab drei Uhr bereit, damit der Makler das Haus besichtigen und bewerten kann“, zitierte Günther zornig aus der gesendeten Mitteilung. „Was denkt der sich eigentlich?“

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Eileen schwieg und starrte ins Leere. Ja, was dachte er sich nur dabei? Marcel war nicht dumm, er wusste genau, dass er sich noch an der Rate zu beteiligen hatte, komme was da wolle. Er wusste auch, dass er das Haus nicht alleine verkaufen konnte, da sie beide Eigentümer waren, sowohl beide die Schulden hatten als auch die eingetragenen Besitzer im Grundbuch. Er konnte nicht einfach über ihren Kopf hinweg entscheiden; und sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er sich dessen nicht bewusst war.
Was war also der Grund für diesen Schritt? Hoffte er, sie würde sich fügen, wie sie es in den vergangenen Jahren fast immer getan hatte?
Hoffte er, sie würde Angst bekommen und ihm die finanziellen Verpflichtungen ersparen?
Oder wollte er ihr einfach nur zusetzen, weil er sich über ihre kühle Vorgehensweise in den letzten Wochen geärgert hatte?

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Sie fand keine Antwort auf diese Frage.
„… da besteht gar kein Zweifel. Eileen?? Hörst du?“
Sie sah ihren Vater verwirrt an und stellte fest, dass sie nichts von dem, was ihre Eltern gerade gesagt hatten, mitbekommen hatte.
„Was… was hast du gesagt, Papa?“, fragte sie beschämt. „Ich… war gerade in Gedanken.“
„Marcel hat dazu keinerlei Rechte, da bin ich mir ganz sicher“, erwiderte ihr Vater aufgebracht. „Du solltest trotzdem direkt morgen deine Anwältin anrufen. Anita, sollten wir nicht doch lieber Hans einschalten?“

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„Das ist Eileens Entscheidung“, sagte Anita sanft, aber bestimmt.
Da sie nun beide fragend ansahen, holte Eileen Luft und schüttelte dann den Kopf: „Nein, Papa, wirklich – ich möchte nicht, dass Onkel Hans das macht.“
„Onkel“ Hans war eigentlich der Cousin zweiten Grades ihres Vaters, er war Notar und Anwalt und beriet die Familie seit Jahr und Tag in allen Rechtsfragen. Doch Eileen wollte ihn nicht dabei haben, auch wenn sie keine Antisympathien gegen ihn hegte – aber alleine der Gedanke, sich ihm anvertrauen, ihm ihre Probleme eingestehen zu müssen, bereitete ihr schon das größte Unbehagen. Sie hätte sich vermutlich in Grund und Boden geschämt.
„Meine Anwältin ist auf Scheidungs- und Familienrecht spezialisiert, sie kriegt das schon hin.“

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„Aber Hans würde dir sicher finanziell sehr entgegen kommen“, wandte ihr Vater ein, woraufhin er einen bösen Blick seiner Frau erntete.
„Das ist nicht so wichtig“, sagte diese entschieden. „Wichtiger ist, dass Eileen ihrer Anwältin vertraut und diese Frau einen kompetenten Eindruck macht. Abgesehen davon behagt mir der Gedanke, Hans in diese Angelegenheit zu verwickeln, selbst nicht. Zum einen ist er nicht mehr der jüngste…“,
„Hör mal, er ist nicht älter als ich“, protestierte Günther, schwieg dann aber, um Anita weitersprechen zu lassen.
„Und dann ist die Gelegenheit auch viel zu persönlich, als dass die halbe Familie und deren Bekannten sie bis in kleinste Detail mitbekommen müssen. Eileen tut ganz recht daran, sich an eine jüngere Anwältin zu wenden, die sich mit solchen Themen ständig auseinandersetzt.“
Anita drückte die Hand ihrer Tochter. Eileen seufzte, stellte die Tasse zur Seite und stand auf.
„Schatz, du weißt, dass Marcel so nicht durchkommen wird, oder? Du brauchst keine Angst zu haben, nun auch noch dein Zuhause zu verlieren. Das wird nicht passieren, das werden wir nicht zulassen.“
Sie lächelte ihre Tochter aufmunternd an.
Eileen seufzte und zuckte die Schultern. „Ja… ja, ich weiß, dass es nicht so einfach werden wird, wie Marcel sich das so vorstellt. Es ist nur so… ich begreife nicht, was in ihm vorgeht… und… ach, ich weiß auch nicht.“

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Eileen rieb sich über die Stirn, während ihr Blick durch den ordentlichen, schon für den Winter gerüsteten Garten schweifte. Draußen war es bereits dunkel.
Sie seufzte und ging unruhig auf und ab, während ihre Eltern sie besorgt beobachteten und ihr schließlich wieder ins Wohnzimmer folgten.
„Wenn du möchtest, kann ich dich morgen zur Anwältin begleiten“, bot Anita schließlich an, als wolle sie damit die Stille durchbrechen. Eileen schüttelte jedoch den Kopf.
„Nein, ist schon gut. Ich weiß ohnehin nicht, ob ich direkt morgen einen Termin bekomme und außerdem kann ich nicht schon wieder frei nehmen. Ich muss jetzt besonders gut auf meinen Job achten. Ich habe ohnehin schon so viel gefehlt in den ersten Wochen nach der Trennung.“

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Sie lächelte gequält. „Ich werde der Anwältin heute Abend noch eine E-Mail schreiben und ihr den Sachverhalt erläutern. Es wird bestimmt auch genügen, sich telefonisch darüber zu unterhalten.“
Anita und Günther nickten zustimmend.
Dann sagte Eileens Vater langsam: „Ich hätte nie gedacht, dass ich mich in Marcel so täuschen würde.“
Er seufzte, stand auf und ging im Zimmer auf und ab.
Eileen nickte und sagte bitter: „Ja, das geht mir genauso…“
„Manchmal ändern sich Menschen“, erwiderte Anita langsam. „Und niemand bemerkt es – zumindest anfangs.“
„Ich hätte es merken müssen, Mama“, antwortete Eileen und sah sie traurig an. Wenn nicht ich, wer dann?, führte sie ihre Gedanken weiter.
Müde rieb sie sich über die Augen. Plötzlich fragte sie sich, wieso sie hergekommen war. Ihre Eltern konnten ihr ja doch nicht weiter helfen. Aber vermutlich hatte sie nur nicht alleine sein, ihre Wut mit irgendjemandem teilen wollen.
Und Marlene hätte das vermutlich nur weiter darin bestätigt, dass Eileen Marcel keine einzige Träne mehr nachzuweinen hatte.

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„Ich… werde jetzt nach Haus fahren und die Mail schreiben“, sagte Eileen müde und versuchte, sich ein Lächeln abzuringen. „Ich rufe euch morgen dann an, wenn ich weiß, was sie vorschlägt.“
„Du kannst doch noch hier bleiben“, wandte ihr Vater ein. „Zum Abendessen. Deine Mutter kocht Lachsauflauf, den magst du doch so…“
Beim Gedanken an Auflauf wurde Eileen übel. Sie hatte sich so sehr aufgeregt, dass ihr regelrecht schwindelig war und sie merkte, wie ihre Beine immer weicher wurden. Sie musste sich dringend hinlegen, aber nicht hier – sie wollte nur noch nach Hause.
„Nein, Papa, danke – ich habe gerade erst gegessen“, schwindelte sie darum. „Und ich muss noch ein bisschen was für die Arbeit vorbereiten.“
„Seit wann arbeitest du auch am Wochenende?“, fragte er nach. „Dein Chef nutzt doch nicht etwa die Situation aus, dass du jetzt finanziellen Druck hast und überredet dich zu Überstunden?“
Eileen schüttelte den Kopf. „Nein, nein – es war nur viel los die letzten Wochen, und ich bin froh, wenn ich Ablenkung habe.“
Ihre Mutter lächelte ihr zu. „Das ist ganz richtig so, Schatz. Nun fahr schnell nach Hause und mach, was du noch erledigen möchtest. Und wenn du doch noch Hunger bekommst, ruf einfach an.“

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Eileen nickte dankbar, umarmte ihre Eltern kurz und verließ dann rasch das Haus.
Draußen war es windig geworden, und die zum Großteil schon kahlen Äste der Bäume wiegten sich teils knarzend im Wind. Eileen schauderte und zog sich den braunen Schal enger um den Hals. Es war bitterkalt geworden.
Der große beleuchtete Kürbis, der seit Jahren um diese Zeit auf der Veranda stand, grinste sie hämisch an und sie zitterte. Ihre Beine schienen sie kaum noch zu tragen und schnell ging sie die Stufen hinunter.

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Die Fahrt nach Hause überstand sie nur mühsam und schaffte es nur unter größter Anstrengung, bis zum Bett zu kommen, wo ihr die Beine versagten.
Müde streckte sie sich aus und schloss die Augen.
Sie hatte geglaubt, Marcel könne ihr gar nicht noch weher tut, sie nicht noch mehr aus dem Tritt bringen. Sie hatte wirklich gedacht, das alles sei nun so regelbar, wie es zwischen zwei Erwachsenen regelbar sein sollte – mit Vernunft und Bedacht.

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Aber Marcel schien ein Spiel mit ihr zu spielen. Die Frage war nur, wer als Sieger vom Spielfeld gehen würde. Und im Moment fühlte sie sich nicht in der Lage, genug Kraft dafür zu haben.

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Fortsetzung folgt.
 
Huhu Innad :),

also ich finde es dreist, dass Marcel einfach so das Haus verkaufen will.. Ich habe zwar damit gerechnet, dass es früher oder später darauf hinauslaufen wird, aber ich hätte nicht gedacht, dass Marcel das einfach mal so über Eileens Kopf hinweg entscheidet.. Aber man merkt, er ist ein Feigling.. Zuerst ist er bereit, sich mit ihr auseinanderzusetzen, weil er nicht wollte, dass alles über die Anwälte läuft, aber jetzt hat er noch nicht mal die Eier, um sich mit ihr an einem Tisch zu setzen und mit ihr über alles zu reden (sorry für den Ausdruck, aber der musste sein)..

Ich hoffe ja, dass sie sich das nicht gefallen lässt, obwohl es auch unrealistisch ist, dass sie das Haus behält, da sie nicht genug Geld verdient, um es abzubezahlen.. Ich bin jetzt echt gespannt, wie sie die Situation meistert..

lg lyn :hallo:
 
Hallo Lynie,
ja, das stimmt - das ist schon echt daneben von Marcel. Er denkt eben mal wieder, er hat alles in der Hand oder so? Auf jeden Fall hat er offenbar nicht so ganz den Mut, das ganze zu einem sinnvollen Ende zu bringen und trotzt herum.



27.


„Hast du inzwischen wieder etwas von Marcel gehört?“
Lene streckte ihren Kopf seitlich an ihrem Flachbildschirm vorbei, um Eileen besser sehen zu können, die konzentriert Zahlen tippte.
„Eileen?“

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Diese sah zerstreut aus und antwortete dann langsam: „Nein – bisher noch nichts.“
„Er müsste den Brief deiner Anwältin doch aber erhalten haben, oder?“
„Hat er, sie hat ihn vorsorglich per Einschreiben losgeschickt und die Bestätigung bereits erhalten“, erwiderte Eileen und versuchte wieder, sich ihren Zahlen zu widmen.
Doch nach wenigen Sekunden sprach Marlene weiter:
„Und darauf kam noch gar keine Reaktion?“
Eileen seufzte, drückte auf „Speichern“ und sah Marlene dann an.
„Nein, gar nichts.“
„Ist das gut oder schlecht?“, fragte Marlene nachdenklich, woraufhin ihr Gegenüber die Achseln zuckte.
„Ich weiß es nicht“, sagte Eileen unsicher. „Was denkst du?“
„Mh…“, Marlene lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und warf einen nachdenklichen Blick zum Fenster hinaus. „Ich bin mir auch nicht sicher. Vielleicht hat es ihm einfach die Sprache verschlagen.“
„Er wird sich aber bald äußern müssen“, erklärte Eileen nach einer kleinen Pause. „Meine Anwältin hat ihm ein Ultimatum gesetzt.“
Marlene sah sie erstaunt an. „Das hattest du ja noch gar nicht erwähnt.“

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Eileen nickte und schob einige der auf ihrem Schreibtisch liegenden Kugelschreiber hin und her, ohne es recht zu bemerken. „Ja, sie hat ihm eine Frist gesetzt, in der er zu antworten hat. Laut ihr ist er verpflichtet, einen Anteil an der Rate zu bezahlen und hat natürlich auch kein Recht, alleine über einen Verkauf zu entscheiden. Er könnte höchstens darauf bestehen, seinen Anteil zu verkaufen, aber dafür muss ich wohl auch einstimmen. So ganz verstanden hab ich das nicht.“
„Wer soll das auch schon, das ist lauter juristisches Fachwissen, ein Dschungel aus Paragraphen, nehme ich an“, erwiderte Marlene seufzend. „Ich hätte niemals Jura studieren wollen, ich wäre verrückt geworden.“
Eileen lächelte. „Das glaub ich dir aufs Wort, mal abgesehen davon, dass du für eine Anwältin ein bisschen zu impulsiv wärst.“ Sie zwinkerte und Lene lachte leise auf.
„Ja, da wirst du wohl recht haben. Aber zurück zum Thema – bis wann muss Marcel denn dann reagieren?“
Eileen griff nach ihrer Tasse und nahm einen Schluck Tee, der schon kalt geworden war. „In drei Tagen“, erwiderte sie und warf einen Blick auf den Kalender.
„Nicht gerade eine lange Zeit, oder?“
Sie nickte. „Ja, aber es ist nötig. Die Raten werden immer zum Monatsende abgebucht, und bis dahin sind es nur noch knapp zwei Wochen. Das klingt viel, ist es aber nicht. Ich muss bis dahin wissen, wie viel er bezahlt – ansonsten muss ich irgendwie mit der Bank reden, denn für mich alleine ist die Rate einfach zu hoch.“ Sie seufzte. „Sie war ja auch auf Marcels Gehalt ausgerechnet und nicht auf meines. Ich hätte mir so ein Haus niemals leisten können.“ Sie schnitt eine Grimasse. „Vermutlich nicht einmal eine kleine Mansardenwohnung.“

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Marlene sah sie mitleidig an. „Es ist bestimmt nicht einfach, jetzt auch noch diese ganzen finanziellen Sorgen am Bein zu haben. Da bin ich doch wieder froh, dass Dirk und ich noch ganz einfach zur Miete wohnen. Wenn wir uns wirklich einmal trennen würden, müssten wir einfach nur die Kündigungsfrist einhalten und dann könnte sich jeder von uns etwas Kleineres suchen.“
„Tja“, Eileen lächelte bitter. „Das ist eben das Problem, wenn man davon ausgeht, ein Leben lang zusammen zu bleiben und derartige Verpflichtungen eingeht.“
Marlene schnaubte mal wieder und sagte dann: „Das wäre aber vermutlich erstmal gar kein Problem, wenn der feine Herr nicht denken würde, dass er sich einfach so dazu entscheiden kann, neben der Beziehung auch eben all diese Verpflichtungen in den Wind schießen zu können.“
„Wie gut, dass das nicht ganz so einfach ist“, sagte Eileen und lächelte müde. „Aber davon will er vermutlich nichts wissen.“
Marlene brummte zustimmend und nach einigen Sekunden, in denen beide geschwiegen haben, wandten sie sich wieder ihrer Arbeit zu.

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Eileen hatte sich gerade wieder in ihren Zahlen vertieft, als das Telefon klingelte.
„Ist dein Apparat“, murmelte Marlene konzentriert und widmete sich weiter den Berichten, die sie gerade erstellte.
Eileen nahm den Hörer in die Hand.
„Hallo Eileen, ich bin´s“, meldete sich eine vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung.
Ihr fiel vor Schreck fast der Hörer aus der Hand.
„Hallo Marcel“, sagte sie dann mit so fester Stimme wie möglich.
Marlene riss den Kopf hoch und die Augen auf, ließ Bericht Bericht sein und lehnte sich weiter nach vorne, als hoffe sie, so jedes Wort von Marcel mithören zu können.
„Was gibt´s?“, fragte Eileen so kühl wie möglich.
„Ich habe deinen Brief bekommen.“

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„Das war nicht mein Brief, sondern der von meiner Anwältin“, korrigierte Eileen ihn bissig, woraufhin Marlene grinsend und zustimmend den Daumen nach oben hielt.
„Ja – wie auch immer“, erwiderte Marcel am anderen Ende der Leitung. „Ich bin damit jedenfalls nicht einverstanden.“
Eileen schluckte ihre Wut hinunter und versuchte sachlich und kühl zu bleiben: „Das mag ja alles sein, Marcel… ich war auch mit vielem nicht einverstanden, was du so zu bieten hattest in letzter Zeit. Trotzdem ist die Rechtslage nun einmal so wie sie ist.“
„Das sehe ich anders“, entgegnete er ihr. „Ich habe nun auch einen Anwalt“, fügte er mit triumphierender Stimme hinzu.
Einen Moment rutschte Eileen das Herz in die Hosen. Er hatte sich nun auch einen Anwalt genommen? Vermutlich konnte er sich einen doppelt und dreifach so guten leisten wie sie selbst…
„Dieser sieht die Sache ganz anders“, sprach Marcel weiter. „Ich werde nichts zur Rate dazu bezahlen und laut ihm kann ich darauf bestehen, dass du mir meinen Anteil vom Haus auszahlst.“
„Wie bitteschön stellst du dir das vor?“, rief Eileen aufgebracht. „Bin ich über Nacht schwerreich geworden?“

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„Tut mir leid, du hast damit angefangen“, war seine Antwort.
„Ich… ich habe womit angefangen?“ Eileens Stimme überschlug sich fast. „Du warst doch derjenige, der gegangen ist, du warst derjenige, der alle Verpflichtungen einfach ignoriert hat.“
Marlene fuchtelte wild mit den Armen herum, anscheinend um Eileen irgendetwas sagen zu wollen, doch diese winkte nur ab und stand aufgebracht mit dem Telefon in der Hand auf.
„Du warst aber diejenige, die es für notwendig hielt, noch vor einer ersten Aussprache von uns eine Anwältin einzuschalten“, sagte Marcel scharf. „Statt erst einmal mit mir zu reden.“
„Tut mir schrecklich leid, dass ich dir zu unsensibel vorgegangen bin“, zischte Eileen. „Ich bin ja auch ganz bestimmt der Part von uns beiden, der sich damit schmücken kann, unsensibel und unfair gehandelt zu haben.“

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„Gefühlsduselei können wir jetzt nicht brauchen“, erwiderte Marcel belehrend. „Da deine Anwältin ja eine Antwort haben wollte: hier hast du sie.“
„Die Antwort kannst du meiner Anwältin zu kommen lassen, nicht mir persönlich. Das war auch deutlich so formuliert. Du hast schriftlich zu ihren Händen zu antworten.“
„Nun, ich hab´s nicht so mit Briefen, das weißt du ja“, erwiderte er in gehässigem Tonfall. „Ich denke, diese Antwort sollte dir genügen. In drei Tagen kommt der Makler noch einmal vorbei und ich möchte dir raten, dann auch anwesend zu sein. Ansonsten kannst du dir schon mal Gedanken machen, wie du das Geld fürs Haus zusammen bekommst – und zwar um mich auszubezahlen.“
Eileen schnappte nach Luft, doch ehe sie etwas erwidern konnte, sprach Marcel weiter – nun mit sanfterer Stimme: „Oder wir lassen diesen ganzen Mumpitz sein, Eileen, und regeln das untereinander. Vergisst du etwa, was wir einmal hatten und wie nah wir uns standen?“
Nun fiel Eileen vor Empörung fast der Hörer aus der Hand.

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„Ich wäre ja grundlegend bereit, mich weiter am Haus zu beteiligen – vielleicht mal eine Stromrechnung bezahlen oder so. Bis du eben was anderes hast. Will dich da nicht drängen. Aber dieses ganze Anwaltgedöns ist wirklich völlig daneben, Eileen. Das bist doch gar nicht du.“ Er schien zu lächeln. „Mensch, ich weiß doch, dass dein Gehalt nicht reicht, um alles zu bezahlen. Ich will dich da nicht hängen lassen, aber auf diese Weise, wie du mir vorkommst, bin ich nicht bereit, zu kommunizieren. Entweder du hältst deine Anwältin ab sofort da raus und wir regeln das unter uns – dann bin ich auch bereit, dich zu unterstützen. Oder wir machen es auf die harte Tour und kämpfen. Das musst du wissen. Und jetzt muss ich auflegen, ich muss wieder arbeiten. Schönen Tag.“

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Und ehe Eileen noch irgendetwas sagen konnte, hörte sie ihn auflegen.
Marlene starrte sie fragend an.
„Was… was hat er gesagt?“, fragte sie gespannt.
Eileen jedoch konnte nicht antworten. Sie ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen und stützte die Hände in den Kopf. In ihrem Hals bildete sich ein Kloß, der so dick war, dass es schmerzte. Sie schluckte gegen die aufsteigenden Tränen an, hilflos, erfolglos.
Da klopfte es an der Tür und Herr Kuhrmaier trat ins Büro.

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„Hallo die Damen. Ich würde gerne mit Ihnen die Oktoberstatistik durchgehen. Himmel, ich habe fast vergessen, dass ich in einer Stunde den Termin mit Arnold habe. Vorher brauche ich noch die Zahlen. Kommen Sie bitte direkt mit in mein Büro?“ Er lächelte die beiden an.
Marlene warf Eileen einen besorgten Blick zu, doch diese atmete tief ein, hob den Kopf und lächelte ihrem Chef zu - als sei überhaupt nichts vorgefallen.
„Natürlich, Chef – wir kommen“, sagte sie dann mit fester, unbeschwerter Stimme, griff sich den nötigen Ordner, stand auf und folgte Herrn Kuhrmaier nach draußen, während Lene sie unsicher beobachtend aufstand und es ihr nach tat.

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Fortsetzung folgt.
 
*ausdemgebüschhüpfe*

Hallo, Innad!

Deine Bilder sind sehr schön, du gibst dir mit der Deko soviel Mühe! :love:Und deine Art zu schreiben mag ich auch sehr.
Wie ich schon mal schrieb, ich bin keine begabte Kommischreiberin, aber so ganz ohne Kommi wollte ich dann diesmal doch nicht.

Dass Marcel einen Rosenkrieg beginnt, hatte ich so nicht erwartet. Ich hatte ihn anfangs eher für jemanden gehalten, der unangenehme Dinge gern lange aufschiebt.
Naja, verletzter Männerstolz - frau kennt das ja. =)

Ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht!

Liebe Grüße, Liadan
 
Huhu Innad :),

irgendwie hätte ich mir denken können, dass Marcel sich querstellt.. Er hatte ja auch schon über Eileens Kopf hinweg entschieden, dass Haus zu verkaufen.. Aber dadurch wird mir Marcel immer unsympathischer.. Wie stur kann man nur sein?? Er hat sich von ihr getrennt, also sollte er auch wissen, auf was er sich da eingelassen hat.. Ich finde, Marcel sollte viel kooperativer sein und das Eileen ihre Anwältin verständigt hatte, ist ja wohl mehr als verständlich..

Jetzt bin ich aber gespannt, ob Eileen sich auf das Angebot einlässt, welches Marcel ihr gemacht hat oder ob es wirklich zu einem Rosenkrieg führt und alles über die Anwälte geregelt wird..

lg lyn :hallo:
 
Entschuldigt, dass es eine sooooooooo lange Pause gab, aber es ging bei mir einfach in den letzten 1,5 Jahren nicht, ich war kaum am PC.

Hier nun das nächste Kapitel

28.

Zuhause angekommen steuerte Eileen zielstrebig das Schlafzimmer an, knallte die Türe hinter sich zu, warf sich ins Bett und vergrub ihr Gesicht in den Kissen.
Sie fühlte sich sogar zum Weinen zu erschöpft.
Sie wollte niemanden mehr sehen, niemanden hören. Am liebsten einfach hier liegen, sich einfach weigern, an irgendetwas teilzunehmen, sich zu sorgen, zu kümmern, zu fragen, zu ärgern, aufzuregen.

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Dieses ganze Leben ging ihr nur noch auf die Nerven, hatte jeden Sinn, jede Freude, jeden Spaß, jeden Lichtblick verloren.
Sie fühlte sich, als ginge sie seit Wochen oder sogar schon seit Monaten kontinuierlich über ihre Grenzen, verbrauche ihre Kraftreserven von mal zu mal mehr, weit über das eigentlich erlaubte Maß hinaus.
Was, wenn sie jetzt einfach am Ende war? Keine Kraft, keinen Mut, keine Veranlassung, keine Ressourcen mehr – zum Kämpfen, zum Weitermachen, zum Neu-Anfangen, zu allem.
Müde setzte sie sich wieder auf. Es war bereits dunkel geworden und draußen roch es nach dem ersten Schnee des Jahres, auch wenn der Himmel noch sternenklar war.
Ihr fuhr der Gedanke durch den Kopf, dass sie kein Streusalz mehr im Haus hatten und dass Marcel den Schneeschieber aus irgendwelchen Gründen mitgenommen hatte.

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Wenn es heute Nacht schneien würde, musste sie morgen den Gehweg räumen. Nur mit was, mit bloßen Händen? Selbst den Besen hatte Marcel eingepackt.
Ob er nun in seiner neuen Bleibe darauf wartete, dass es endlich schneite und er die wertvollen Gegenstände benutzen konnte, gehässig darüber lachend, dass sie – Eileen – zu Hause aufgeschmissen war, genau wissend, dass seine „Noch“-Frau natürlich nicht rechtzeitig daran gedacht haben würde, sich neue Materialien zu besorgen?
Vor Eileens geistigem Auge tauchte sein schadenfroh-gehässiges Gesicht auf, während sie sich selbst mit erfrorenen Händen im Schnee wühlen sah.

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Eileen stand auf und rieb sich die Stirn. Vielleicht wurde sie bereits verrückt? Wer wusste das schon.
Stöhnend öffnete sie den Knopf ihrer Hose und atmete erleichtert auf. Das ständige Frustessen der letzten Woche schien sich langsam an ihren Hüften zu zeigen, denn immer öfter zwickten ihre Hosen. Aber sie hatte weder Muße noch das nötige Geld, um sich neu einzudecken. Stattdessen, so dachte sie bei sich, sollte sie lieber ein wenig auf ihre Ernährung achten, dann würden die überflüssigen Pfunde sicher schnell wieder purzeln. So viele waren es ja nun auch noch nicht. Gewogen hatte sie sich schon lange nicht mehr, nur die enger werdenden Hosen und die zwickenden BH´s verrieten ihr, dass die vielen Abende voller Fast-Food vom Chinesen, Pizzaservice und mit Torten und Plätzchen langsam ihre Wirkung entfalteten.

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Sie seufzte und ließ sich unmotiviert erneut auf der Bettkante nieder. Sie sollte wirklich wieder anfangen zu kochen, aber für sich alleine zu kochen fand sie unendlich frustrierend und schaffte es nahezu nie, sich dazu aufzuraffen.
Wie viel einfacher war es da, einfach eine Pizza zu ordern und sich zur Not den Hunger mit Plätzchen oder fertigen Kuchen zu überbrücken. Ab und an hatte sie mit ihren Eltern gegessen, das dürften in den letzten Wochen aber die einzigen Male gewesen sein, an denen sie „richtige“ Nahrung zu sich genommen hatte.

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Müde schälte sie sich aus den Kleidern und schlüpfte in eine gemütliche Trainingshose.
Dann ging sie nach unten ins Wohnzimmer. Immer noch fühlte sie sich viel zu ausgelaugt, um über Marcel, das Haus, über einfach alles nachzudenken.
Es schien alles so grau zu sein, so sinnlos, so hoffnungslos. Und sie war so furchtbar, furchtbar einsam!
Die Menschen um sie herum versuchten zwar, ihr zu helfen, waren dabei aber selbst oftmals so hilflos, dass Eileen sich wiederum fast genötigt sah, sie zurück zu trösten und zu beschwichtigen.
Ihre Eltern versprachen ihr zwar jede Unterstützung, aber praktisch helfen konnten sie ihr auch nicht wirklich. Sie hatten ihre eigenen Vorstellungen, wie die Dinge zu lösen seien – ihre Mutter plädierte für den sanften Weg, während sie ihren Vater immer wieder nur mühsam davon abhalten konnte, zu Marcel zu fahren und ihn zu verprügeln.

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Beide Wege waren gleichermaßen ungeeignet. Eileens Mutter empfahl immer wieder, sie solle sich mit Marcel treffen, mit ihm sprechen, mit ihm einen Kompromiss finden.
Aber Eileen wollte keine Kompromisse, die letztlich nur zu ihren ungunsten ausfielen!
Die aggressive Vorgehensweise ihres Vaters war aber genau so wenig eine Lösung, da sie zu nichts und wieder nichts führte.
Marlene hingegen hatte keine „echten“ Ideen und schimpfte meist nur wild über Marcel oder empfahl Eileen, kurzen „Prozess“ zu machen. Eileen derweil wusste, dass es so einfach nicht war. Trotzdem war sie froh, Lene zu haben, die sie tags und nachts anrufen konnte.
Und doch merkte sie auch bei ihr, dass der Schock über die Trennung langsam nachließ und Marlene – natürlich – wieder ihr eigenes Leben zu leben begann.
Anfangs hatte sie Eileen fast täglich angerufen, öfters etwas mit ihr geplant, viel mit ihr gesprochen. Allmählich war Eileens Zustand aber auch für Marlene offenbar „Alltag“ geworden, die Anrufe erfolgten seltener und an den Wochenenden meldete sie sich nicht mehr, um Eileen zu einem spontanen „Frauenabend“ einzuladen.

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Kein Wunder, sie war schließlich noch genauso zufrieden und glücklich in ihrer Beziehung wie zuvor. Und gemeinsam mit ihr und Dirk auszugehen, war für Eileen nicht denkbar.
Viel zu sehr hätte es sie – und nicht nur sie, sondern alle – an vergangene Zeiten erinnert und als fünftes Rad am Wagen hätte sich Eileen nur noch einsamer gefühlt.
Dann blieb sie lieber zu Hause, auch wenn ihr oftmals die Decke in dem großen, stillen Haus auf den Kopf fiel.
Gerade abends war es schlimm, vor allem jetzt, in dieser dunklen und ungemütlichen Jahreszeit.

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Ihre Ängste hatte Eileen inzwischen weitestgehend überwunden, dennoch war es ihr nachts immer noch oft unheimlich und sie ließ das ein oder andere Nachtlicht brennen – und schlief grundlegend immer, einfach immer schlecht.
Müde ließ sich Eileen auf einem der Barhocker vor dem Küchentresen nieder und überlegte, was sie essen sollte. Ihr Magen knurrte unfreundlich vor sich hin, aber sie beschloss, nicht schon wieder eine Pizza zu bestellen oder den China-Imbiss anzurufen, sondern sich etwas zu kochen. Viel war nicht im Kühlschrank zu finden, schon gar nicht viel Gesundes. Aber ein überbackenes Toast war wohl immer noch besser als Pizza und Co.

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Nachdenklich begann Eileen sich ihr Essen zuzubereiten und führte sich noch einmal das Telefonat mit Marcel vor Augen.
Immer noch begann ihr Herz vor Empörung, aber auch vor Angst heftig zu pochen, wenn sie sich seine Worte in Erinnerung rief.
Was, wenn er recht hatte? Vielleicht konnte sie wirklich nicht alleine über das Haus bestimmen und sich gegen einen Verkauf sperren. Oder er hatte wirklich keine Verpflichtung, den Kredit weiter zu bezahlen, da er nicht mehr hier wohnte?
Ihre Anwältin hatte dies zwar klipp und klar ausgeschlossen – den Kredit hatten sie gemeinsam aufgenommen, völlig ohne Zusatzklauseln. Kredit war Kredit. Und auch das Haus zu verkaufen ging nicht ohne weiteres, da es auf sie beide lief. Zumindest konnte er sie nicht dazu zwingen.

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Aber was, wenn ihre Anwältin sich hierin geirrt hatte? Sie machte zwar einen äußerst professionell-kompetenten Eindruck, aber Eileen war sich natürlich bewusst, dass sie nicht die beste der besten war. Das sagte alleine schon die Tatsache aus, dass sie einen sehr viel niedrigeren Stundensatz hatte als viele andere ihrer Kollegen.
Genau aus diesem Grund hatte Eileen sich ja auch für sie entschieden. Und schon jetzt fraßen die Anwaltskosten sie fast völlig auf.
Eileen ließ die Hände sinken und begann zu weinen. Die Last der Schulden, die Last der Frage, wie es weiterginge, schien sie bis ins Erdreich zu drücken.
Sie wusste kaum, wie sie sich in den nächsten zwei Wochen noch Essen und Haushaltssachen kaufen sollte.
Natürlich war ihr bewusst, dass ihr ständiges Essen beim Lieferservice auch nicht unschuldig daran war. Gerade jetzt, wo es ihr jedoch so schlecht ging und sie so durcheinander war, fiel es ihr aber noch viel schwerer zu haushalten denn je.

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Und doch war es dringend erforderlich.
Sie schniefte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie brachten sie ja auch nicht weiter.
Langsam begann sie, den Toast in der Pfanne zu wenden, damit er von allen Seiten braun wurde.
Sie hatte keine andere Wahl, als morgen noch einmal ihre Anwältin anzurufen. Sie konnte das ganze ja nicht auf sich sitzen lassen.
Oder sollte sie auf Marcels Angebot eingehen? Er hatte am Ende des Gespräches ja doch recht sanft und vernünftig gewirkt. Gar nicht so, als wolle er ihr etwas Böses.
Vielleicht war es wirklich der falsche Weg gewesen, direkt mit der Anwältin aufzurücken? Vielleicht hätte sie erst einmal in Ruhe mit Marcel reden sollen?
„Ich würde dich unterstützen“, hatte er gesagt. Eileen verzog das Gesicht, das hörte sich irgendwie nach Wohlfahrt an. Als sei sie obdachlos und eine Bettlerin, die ihren tollen, reichen Mann um etwas Geld anbettelte.
Aber war es in gewisser Hinsicht nicht so?

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Eileen fühlte sich verwirrt und wusste nicht mehr, was sie denken oder entscheiden sollte.
Wenn sie morgen wieder ihre Anwältin anriefe, würde dies nicht nur zusätzliche Kosten für sie bedeuten, sondern auch, dass Marcel konsequent seine uneinsichtige, harte Schiene fahren würde.
Dazu kannte sie ihn zu gut – er konnte unnachgiebig wie ein Fels sein, wenn er wollte. Und er gab niemandem mehr als ein oder zwei Chancen. Sie war da ganz anders, schon immer.
Wenn sie es sich jetzt mit ihm verdarb und er mit seinen Anwälten auf sie schießen würde – vermutlich würde sie untergehen. Sie hatte nicht seinen Eigensinn, seinen Biss und vor allem nicht seine finanziellen Mittel – und: im Gegensatz zu ihr hatte er fast nichts zu verlieren.
Die Rate weiter zu bezahlen würde ihm nicht allzu weh tun.
Erst vor wenigen Wochen, kurz vor der Trennung, hatte er angedeutet, dass er bald wieder befördert wurde, was natürlich eine saftige Lohnerhöhung mit sich gebracht hätte.
Vielleicht war dies sogar schon geschehen.
Es ging ihm letztlich also nur ums Prinzip.
Was sollte sie nur tun? Aufgeben, sich ihm unterordnen, so wie sie es wohl schon immer
getan hatte? Oder kämpfen, auch wenn es ganz klar so aussah, als würde sie verlieren.
Erneut kamen ihr die Tränen und wütend wischte sie mit der Hand über ihre Augen.

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Weinen half auch nichts!
Sie musste sich irgendeine Möglickeit überlegen, Marcels Forderungen entgegen zu treten.
Mitten in ihre Gedanken hinein klingelte das Telefon. Sie ignorierte es. Es war ihr nicht danach, mit jemandem zu sprechen. Es war ihr nach gar nichts. Am liebsten hätte sie das Haus verriegelt und wäre nie wieder vor die Türe gegangen.
Nach einer halben Minute hörte das Telefon zu klingeln auf. Es war etwa zehn Sekunden still, dann klingelte es wieder. Eileen seufzte, ignorierte es jedoch immer noch und widmete sich weiter ihren trübsinnigen, aussichtslosen Gedanken und ihrem Toast, der in der Pfanne schon fast schwarz wurde.
Als das Telefon zum drittenmal klingelte und auch ihr Handy kurz darauf zu ringen anfing, seufzte sie und ging ins Wohnzimmer.

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Wer war da nur so aufdringlich?
Schlecht gelaunt nahm sie den Hörer ab und meldete sich mit ihrem Namen.
„Spreche ich mit Frau Eileen Viersen?“, fragte eine unbekannte Stimme am anderen Ende der Leitung.
Eileen widerstand nur mit Mühe dem Impuls, sofort wieder aufzulegen. Sicherlich war dies wieder nur irgendeine Telemarketing-Agentur, die ihr die beste Creme für den teuersten Preis im „Sonderangebot“ verkaufen wollte oder irgendwelche Zeitschriften-Abonnements. Dazu hatte sie gerade gar keine Nerven!
Aber irgendetwas in ihr widerstand dem Impuls und sie sagte missmutig: „Ja, bin ich. Was ist?“
„Hier spricht das Kreiskrankenhaus West. Es geht um Ihren Mann.“
Eileen schluckte. Plötzlich fühlte sie sich eiskalt.
„Was… was ist mit ihm?“
„Er hatte einen Unfall. Wir wollten Sie informieren.“
Eileen schnappte nach Luft und hielt sich mit der Hand an der Couchlehne fest.

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„Was… was ist passiert?“, stammelte sie mühsam.
„Es war ein Autounfall, auf dem Weg nach Hause“, erklärte die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Wir haben Ihre Nummer in seinem Geldbeutel gefunden, dann informieren wir immer die Angehörigen. Außerdem brauchen wir einige Angaben. Es wäre wohl das vernünftigste, wenn Sie vorbeikommen. Melden Sie sich einfach in der neurologischen Ambulanz bei Schwester Helling.“
„Ich… ja, natürlich“, sagte Eileen rasch und versuchte, ihre zitternden Knie in den Griff zu bekommen. „Ich komme sofort vorbei.“

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Rasch legte sie den Hörer auf und blieb für einen Moment wie erstarrt neben der Couch stehen, unfähig sich zu bewegen.
Dann schreckte sie zusammen, als habe sie gerade erst begriffen, was man ihr gesagt hatte, warf einen gehetzten Blick an sich herunter und eilte dann so schnell es ging die Treppe hinauf. Im Schlafzimmer sprang sie in eine Jeans – ignorierte das Stechen im Bauch, das entstand, als sie die inzwischen zu enge Hose mit aller Macht zuknöpfte – und streifte sich einen Pullover über, dann lief sie wieder die Treppe hinunter.

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Ihr Herz pochte ihr bis zum Hals, das Blut rauschte in ihren Ohren und sie zitterte am ganzen Körper. Was war nur geschehen, was war mit Marcel?

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Fortsetzung folgt.
 
Huhu Innad! Schön, dass Du wieder da bist! :lalala:

Entschuldigt, dass es eine sooooooooo lange Pause gab, aber es ging bei mir einfach in den letzten 1,5 Jahren nicht, ich war kaum am PC.
Du hattest ja auch einen richtig guten Grund! ;)

Aber nun mal zum neuen Kapitel!
Tja, da ist Eileen wohl am Tiefpunkt angelangt. Es ist sicher schwer für sie, jetzt einen Grund zu finden, wieder nach vorne zu blicken, aber ich schätze, durch dieses Tal der Tränen muss sie einfach durch.
Dass sich ihre Umgebung wieder langsam der Normalität zuwendet, ist für sie sicher bitter - wo sie noch weit entfernt ist davon, sich auch nur wieder mal "normal" zu fühlen, geschweige denn glücklich - aber wohl unvermeidbar.
Immerhin hat sie trotzdem das Gefühl, von Lene Unterstützung zu bekommen.
Dass sie die "Lösungsansätze" :D ihrer Eltern nicht teilt, kann ich gut nachvollziehen. Marcel zu verprügeln hat sicher wenig Sinn (und würde ihr in der gegenwärtigen Misere ja auch gar nicht helfen), und dass sie keinen Kompromiss schließen will, finde ich auch richtig. Sie hat sich all die Jahre Marcel mehr oder weniger angepasst und untergeordnet, das ist es wichtig für sie, dass sie jetzt in dieser für sie schlimmen Situation ihre eigenen Interessen in den Vordergrund stellt.

Und dieser Anruf vom Krankenhaus... :rolleyes:
Dass Eileen die Anruferin nicht gleich an die "Neue" in Marcels Leben verweist, ist nachvollziehbar. Bei so einem Schock denkt man bestimmt nicht sofort daran, und sie ist ja auch noch daran "gewöhnt", dass sie jahrelang Marcels Frau war. Und außerdem knipst man seine Gefühle ja nicht automatisch ab, nur weil man jetzt nicht mehr "zuständig" ist.
Und Marcel hat noch Eileens Adresse im Portemonnaie - interessant. :D
Dass er da nicht unbedingt gleich dran gedacht hat, den auszutauschen - ok. Aber entweder er ist so schwer verletzt, dass er nicht bei Bewusstsein ist, oder man muss sich fragen, warum er selbst im Krankenhaus nicht gesagt hat, dass eigentlich jemand anderes zu informieren wäre. :D
Na, das bleibt jedenfalls spannend! :lalala:

Nochmal OT: ich fasse es nicht, aber ich hab Dir tatsächlich drüben nicht geantwortet. :polter::schäm::heul: Ich hab extra nochmal meinen Postausgang gecheckt, und da ist nix drin, nada. Ich war mir ganz, ganz sicher, dass ich Dir geantwortet habe, aber offenbar hab ich´s verbaselt.
Das ist.... skandalös. :D Und unentschuldbar. Keine Ahnung, wie das passieren konnte, aber ich entschuldige mich vielmals, und Antwort erfolgt dann pronto. Mit nur einem halben Jahr Verspätung. :lol:

Sei lieb gegrüßt!

 
29.


Sie hatte eine Weile nach einem Parkplatz suchen müssen und war dann vor lauter Aufregung kaum in die einzige enge Parklücke gekommen. Nachdem sie Blut und Wasser geschwitzt hatte, schaffte sie es letztlich doch, den Wagen ohne eine Schramme zu parken.

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Es waren einige hundert Meter zum Krankenhaus zurück zu legen, die sie so schnell es ihre zittrigen Beine zuließen hinter sich brachte.
In letzter Minute hatte sie zu Hause noch daran gedacht, die Pfanne vom Herd zu nehmen und ihn auszustellen.

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Dafür war sie noch einmal zurück ins Haus gesprintet und es schien ihr, als haben ihr Herz und ihr Atem sich davon immer noch erholt, so schnell pochte ersteres zwischen ihren Rippen und so schwer hob und senkte sich ihre Brust. Nicht auszudenken, was alles hätte passieren können, wäre sie nicht noch einmal zurück gerannt…
Während sie durch den kalten, dunklen Novemberabend eilte, schossen ihr Unmengen an diffusen Gedanken und Fragen durch den Kopf, die sich wie ein schwerer Stein in ihrem Herz abzulagern schienen und sie nach unten zu ziehen drohten.

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Was war geschehen? Wo und wann und wie?
Sie sah etliche Bilder vor ihrem inneren Auge, ein Horrorszenario schlimmer das andere.
Seit Jahren war genau solch ein Anruf ihre größte Angst gewesen – wie auch nicht? Ging es nicht vielen Menschen so, Angst davor zu haben, das Liebste auf der Welt zu verlieren?
Eileen schluckte, während sie auf ihren hohen Haken zittrig weiter hastete.
All das erinnerte sie furchtbar an jenen Tag vor vielen Monaten, als man ihr gesagt hatte, dass das Leben in ihrem Bauch verwelkt war.
Das innerliche Erstarren schien auch jetzt wieder Besitz von ihr zu ergreifen. Ein Augenblick, der alles verändern konnte, und noch wusste sie nicht, in welche Richtung dieser Weg führte.

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Sie atmete keuchend aus, als sie endlich das Krankenhaus erreicht hatte. Das Licht der fahlen Laternen spiegelte sich auf zwei vor dem Haupteingang parkenden Krankenwagen. Für einen Moment fragte sich Eileen, ob einer von ihnen ihren Noch-Mann wohl hergebracht hatte?
Was war in seinem Inneren geschehen? Ihr Herz pochte ihr laut in den Ohren vor Aufregung und Angst.

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Als sie auf die Eingangshalle zuging, durchzuckte sie für einen kleinen Augenblick der Gedanke, dass sie ja eigentlich gar nicht so aufgeregt zu sein brauchte, dass sie vielleicht noch nicht einmal hätte kommen müssen – oder sollen? Schließlich waren sie „eigentlich“ ja gar nicht mehr Mann und Frau in eben jenem Sinne, den die Schwestern beim Durchforsten von Marcels Geldbeutel und dem Finden ihrer Daten vorausgesetzt hatten.

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Doch dann wischte sie diese Gedanken fort; vielmehr verschwanden sie ohne ihr Zutun sofort von selbst und für einen weiteren Augenblick schämte sie sich ihrer sogar.
Es war im Moment nicht wichtig, darüber nachzudenken, wie der Stand zwischen ihnen war, wie es weitergehen sollte- im Augenblick zählte nur, dass es Marcel gut ging oder dass er zumindest nicht lebensgefährlich verletzt worden war.
Eileen eilte wie automatisch dem Schilderdickicht durch die Klinik hinterher, verlief sich zweimal, eilte wieder zurück, schien eine kleine Ewigkeit auf den Fahrstuhl zu warten und kam letztlich endlich auf der richtigen Station an.
Keuchend folgte sie dem Licht, das aus einem am Ende des langen Flures gelegenen Zimmer mit Glasscheiben kam.
Im Krankenhaus war es ruhig, die Nachtruhe hatte sich bereits über die Flure gelegt. Nur aus ein oder zwei Zimmern waren die gedämpften Geräusche eines Fernsehers zu vernehmen.

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Eileen klopfte vorsichtig an die Glastür, die zu dem Schwesternzimmer führte. Eine hellblonde Frau erhob sich, öffnete die Türe und fragte freundlich:
„Kann ich Ihnen helfen?“
„Ja – ich… Sie haben mich angerufen, wegen meines Mannes.“
„Ach, Sie sind Frau Viersen, richtig?“
Eileen nickte.
„Geht es ihm gut?“, fragte sie schnell.

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„Den Umständen entsprechend ja“, erwiderte die Schwester und als sie sah, wie kreidebleich Eileen wurde, berührte sie sanft deren Arm und sagte: „Keine Angst, es ist nicht schlimm, Sie müssen sich nicht sorgen. Sie sind ja ganz blass. Vielleicht sollten Sie sich besser setzen.“
Und sanft führte sie Eileen zu einem Stuhl.
„Was… können Sie mir sagen, was geschehen ist?“, fragte Eileen und schluckte gegen den trockenen Hals an. Ihr war furchtbar schwindelig.
Die Schwester nickte. „Ja, ihm muss jemand die Vorfahrt an der Kreuzung genommen haben, die Polizei wusste aber noch nichts Genaues.“

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„Er… war er zu Fuß unterwegs?“, fragte Eileen verwirrt und dachte im gleichen Moment daran, dass diese Frage Unsinn war, schließlich hatte die Schwester von Vorfahrt gesprochen.
„Nein, er war im Auto unterwegs“, beantwortete die Schwester ihre Frage jedoch sanft und tat, als habe sie den Widerspruch darin nicht bemerkt. „Der Fahrer des anderen Wagens kam von links und ist mit recht hoher Geschwindigkeit in die Seite des Wagens Ihres Mannes gerauscht.“
„Was… was ist jetzt mit ihm?“, fragte Eileen.
„Er hatte eine Weile das Bewusstsein verloren“, erwiderte die Schwester. „Aber seit einigen Minuten ist er wieder wach. Er hat nur relativ leichte Verletzungen, die Untersuchungen sind jedoch noch nicht ganz abgeschlossen. Er ist noch drüben im Untersuchungsraum, und wenn der Arzt fertig ist, wird er herkommen und Ihnen alles erklären.“

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Eileen nickte und versuchte, tief und gleichmäßig zu atmen, um gegen den Schwindel und die Übelkeit anzukommen.
„Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?“, fragte die Schwester besorgt.
„Ja… ja, gerne“, erwiderte Eileen dankbar und sah ihr zu, wie sie aus einem kleinen Schrank ein Glas nahm und es an dem neben dem Fenster angebrachten kleinen, metallenen Waschbecken mit Wasser füllte. Sanft reichte sie es Eileen, die es in kleinen Schlucken leerte und spürte, dass der Schwindel ein klein wenig zurück ging.

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„Frau Viersen, wir bräuchten noch einige Angaben – da Ihr Mann nicht ansprechbar war, als wir ihn einlieferten, wissen wir nur wenig.“
Sie wandte sich ihrem Schreibzeug zu und begann Eileen Fragen nach Marcels Versicherung, nach bekannten Allergien, Erkrankungen und Medikamenten zu fragen.
Eileen gab ihr so weit sie konnte Auskunft und fragte sich dabei mehrmals, ob sie denn eigentlich noch auf dem aktuellen Stand war?
Aber in zwei Monaten würde Marcel wohl kaum die Krankenversicherung gewechselt und etliche Allergieschübe bekommen oder Medikamente eingenommen haben.
Dennoch quälte sie die Frage, ob sie der Schwester nicht sagen sollte, dass sie und Marcel eigentlich getrennt waren.
Aus irgendeinem Grund schaffte sie dies jedoch nicht zuzugeben und blieb darum einfach, nachdem die Schwester alle Auskünfte bekommen hatte, still und versunken sitzen.

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Plötzlich klingelte das interne Telefon, das neben der Schwester auf dem Schreibtisch stand. Eileen hörte sie sagen: „Ja, sie ist hier…“, dann – nach einer Weile Schweigen – „ach so, das wusste ich nicht. Ja, gib mir die Nummer. Ja, ich kann da anrufen.“ Sie warf Eileen einen seltsamen Blick zu.
„Aber… Frau Viersen ist auch hier“, setzte sie dann an und machte dabei einen bedeutungsvollen Blick, als könne ihr Gesprächspartner diesen durchs Telefon sehen und deuten.
Eileen merkte, wie ihr heiß und kalt wurde und kleine Pünktchen vor ihren Augen zu tanzen begannen.

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Die Schwester legte auf und wandte sich Eileen zu, die sich nun aus irgendeinem Grund dazu genötigt fühlte, sich zu erheben, obwohl ihre Beine sich wie Pudding anfühlten.
„Frau Viersen, das war eben der Arzt. Er…“
„Wie geht es ihm? Ich meine, wie geht es meinem Mann?“, fiel ihr Eileen ins Wort und biss sich auf die Lippen. Ihr Mund war so furchtbar trocken, egal wie sehr sie dagegen anschluckte.
„Gut, es ist alles soweit in Ordnung“, beruhigte die Schwester sie. „Er hat nur einige leichtere Verletzungen und Prellungen und eine böse Gehirnerschütterung, die natürlich beobachtet werden muss. Aber… nachdem er wieder das Bewusstsein erlangt hat, bat er den Arzt darum, jemanden anzurufen und herzubestellen.“

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Sie machte eine Pause, als hoffe sie, dass Eileen den Satz für sie vollendete.
Diese schwieg eine Weile und sagte dann leise und müde: „Ja, ich vermute, er möchte, dass eine gewisse Bettina angerufen wird…“
Die Schwester nickte.
„Ja, es tut mir leid, dass… Frau Viersen, ist alles in Ordnung?“

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Eileen nickte, obwohl die Punkte vor ihren Augen nun zu flattern begannen. In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken, überstürzten sich, vermischten sich mit dem Gefühl aus Erleichterung, dass es Marcel gut ging, aus Schock, dass sie überhaupt hier war, aus Scham, dass sie sich vor der Schwester so bloßstellen lassen musste.
Sie wollte nur noch so schnell es geht weg von hier, nach Hause.
„Ich… ich muss nach Hause“, stammelte sie darum und ging in Richtung der Tür.

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„Frau Viersen… Frau Viersen, warten Sie. Sie sollten…“
Die Stimme der Frau wurde immer dumpfer und seltsam dunkel. Eileen hörte, wie eine Tür ins Schloss fiel und drehte den Kopf. Verschwommen sah die Silhouette eines Mannes auf sie zukommen.
„Ich… muss nach Hause“, sagte sie noch einmal, aber ihre Knie wollten sie nicht mehr tragen.
Das letzte, was sie vernahm war, wie jemand ihren Namen rief, dann wurde es dankbar schwarz, dunkel und ruhig um sie.

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30.


„Frau Viersen!“
Irgendjemand tätschelte ihre Wange.
„Frau Viersen, wachen Sie auf!“
Eileen versuchte die Augen zu öffnen, aber ihre Lider waren furchtbar schwer. Sie war müde, so müde.

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„Kommen Sie schon, geben Sie sich Mühe“, sagte die Stimme energisch, aber doch sanft, fast als rede sie mit einem kleinen Kind, das bockig war.
Sie versuchte erneut die Augen zu öffnen, einen kleinen Spalt weit.
Das Licht erschien ihr gleißend hell und sie hatte das Gefühl, Tränen in die Augen zu bekommen.
„Können Sie mich hören?“, fragte die Stimme von irgendwo her.
Eileen versuchte zu nicken, aber in ihrem Kopf drehte sich immer noch alles, was dieses Manöver unmöglich werden ließ.
Zumindest bekam sie ein schwaches Brummen zustande.
„Versuchen Sie die Augen aufzumachen“, sagte die Stimme sanft, aber doch energisch.
Zu schwer, zu müde.
Sie befeuchtete sich die Lippen mit der Zunge und flüsterte leise: „Ich bin so müde…“
Erst jetzt spürte sie, dass jemand ihren Hinterkopf hielt. Die Hand fühlte sich fest und warm an. Sie fühlte sich gut an.
„Ich weiß, dass Sie müde sind. Sie dürfen auch gleich schlafen. Aber jetzt müssen wir uns erst einmal anschauen“, sagte die Stimme aufmunternd.
Eileen schluckte und versuchte erneut die Augen zu öffnen.
Verschwommen nahm sie das Gesicht eines Mannes in seltsamer Kleidung über sich wahr. Das Licht um sie war grell und sie kniff die Augen sofort wieder zusammen.

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„Wir brauchen die Laborwerte, es ist nicht nur der Blutzucker, dafür ist sie viel zu sehr weggetreten“, hörte sie die Stimme sagen, aber die Worte erschienen nicht wirklich Sinn für sie zu ergeben.
„Das war doch schon etwas“, sagte die Stimme dann wieder aufmunternd und an sie gerichtet. „Jetzt versuchen Sie es noch mal, ja?“
Eileen öffnete die Augen erneut, das Licht schien ihr nun nicht mehr so grell und langsam begann das Gesicht über ihr Konturen anzunehmen.

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Sie zwinkerte mehrmals und erkannte dann einen Mann, der über ihr gelehnt stand, aber gerade in die andere Richtung sah, aus der die Stimme einer Frau kam.
„Ich bringe es ins Labor“, sagte die Stimme und eine Tür fiel ins Schloss.

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Eileen blickte zu beiden Seiten und merkte, dass sie auf einer Liege lag. Um sie herum war ein weiß gestrichener Raum mit irgendwelchen medizinischen Utensilien. Und es roch nicht gut. Es roch nach Krankheit.

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„Ich…“, sie drehte den Kopf wieder in Richtung des Mannes, der sie nun ansah.
Verwirrt brach sie den Satz ab, den sie mit heiserer Stimme hatte sagen wollen und starrte irritiert in das Augenpaar.
Ein Lächeln überflog das Gesicht des Mannes.
„Sehr gut“, sagte er lobend. „Da sind Sie ja wieder.“
Eileen jedoch konnte nichts sagen. Ihr Herz begann schneller zu pochen und sprachlos starrte sie den Mann an, der sie mit seinen tiefblauen Augen anlächelte.

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Und sie wusste, dass sie diese Augen schon einmal gesehen hatte.
Und mehr als einmal von ihnen geträumt.

31.


Müde drehte Eileen sich zur Seite und griff nach ihrem Kissen.
Doch dann stutzte sie. Es fühlte sich seltsam an. Viel rauer und ungemütlicher als sonst. Es knisterte regelrecht. Sie sog die Luft durch die Nase ein. Und es roch nicht gut.
Es roch nach Krankenhaus.

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Erschrocken riss sie die Augen auf und wollte sich ruckartig aufsetzen, doch in diesem Moment hörte sie die beruhigende Stimme ihrer Mutter, die sie sanft in die Kissen zurück drückte.
„Nicht, Schätzchen, bleib noch ein bisschen liegen.“
Eileen rieb sich die Augen und sah sich um. Sie befand sich offensichtlich in einem Krankenzimmer. Es musste noch Nacht sein, das Licht war gedämpft und durch das herunter gelassene Rollo drang ebenfalls kein Sonnenstrahl.
Sie wandte den Kopf zur Seite und sah ihre Mutter neben ihrem Bett sitzen.
Diese lächelte sie sanft an, sah aber müde und erschöpft aus.
„Mama?“, fragte Eileen verwirrt und strich sich das Haar aus dem Gesicht. „Was… was ist passiert?“
„Das Krankenhaus hat uns angerufen, dass es dir nicht gut geht“, erklärte ihre Mutter und lehnte sich ein Stück nach vorne. „Du bist wieder ohnmächtig geworden.“

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„Ich…“, Eileen dachte nach. „Ja, es… es war wegen Marcel und… was ist mit ihm?“
„Es geht ihm wohl gut.“
„Hat der Arzt das gesagt?“
„Nein, ich habe mit… seiner … du weißt schon… gesprochen“, sagte Anita unsicher.
Eileen schluckte hart. Ihr Hals fühlte sich trocken an und schmerzte.
„Ich hab Durst“, sagte sie schlicht statt einer Erwiderung. Ihre Mutter nickte und reichte ihr ein Glas Wasser, das Eileen langsam und in kleinen Schlucken trank.
Dann sah sie sich im Zimmer um und schauderte.
„Ich will nach Hause“, sagte sie dann und sah ihre Mutter fest an.
„Schätzchen, das geht noch nicht“, erwiderte diese, strich über die Hand ihrer Tochter und stand auf. „Die Ärzte müssen erst noch herausfinden, wieso du schon wieder ohnmächtig geworden bist.“

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„Wieso ich…“, Eileen lachte fast auf. „Mama, das war sicher einfach alles zu viel. Ich – hatte heute kaum gegessen und getrunken, dann dieser Schreck, dass was mit Marcel ist und dann das Warten und dann… diese Blamage, als er aufwachte und nach… ihr… fragte.“
Sie biss sich zornig auf die Lippen und richtete sich – die Proteste ihrer Mutter geflissentlich überhörend- doch im Bett auf. Leichter Schwindel überkam sie, doch schnell fing sie sich wieder.

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„Und dann noch dieser Streit am Nachmittag“, fügte sie an.
Ihre Mutter sah sie aufmerksam an.
„Was für ein Streit?“
„Marcel“, erklärte Eileen. „Er hat sich jetzt auch einen Anwalt genommen und will mich unter Druck setzen. Er… er hat gesagt, ich muss ihm seinen Anteil des Hauses ausbezahlen.“
„Was?“ Ungläubig sah ihre Mutter sie an. „Wie kommt er denn nur auf so was?“
Eileen zuckte mit den Achseln und spürte, wie der Zorn und die Verzweiflung erneut in ihr aufstiegen. Prompt schien sich der Schwindel zu verstärken.
„Ich… ich will nach Hause“, sagte sie noch einmal und schwang die Beine über die Bettdecke. Erstaunt stellte sie fest, dass sie nicht mehr ihre Kleidung, sondern ein Krankenhaus-Hemdchen trug.

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„Was…?“, fragte sie erstaunt, doch ihre Mutter war direkt bei ihr und sagte streng: „Eileen, du musst jetzt vernünftig sein und dich wieder hinlegen.“
Eileen seufzte, fügte sich vorerst in ihr Schicksal und nahm die Beine wieder nach oben.
Ihre Mutter sah sie streng an, nickte dann und sagte: „Du hast natürlich recht, dass dies alles Auslöser für deinen Schwächeanfall gewesen sein könnte. Aber der Arzt sagte, dass sie dich nur sehr mühsam aufwecken konnten. Und auch das nur für eine kurze Zeit. So etwas wird nicht nur durch Aufregung ausgelöst. Er meinte, deine Blutzuckerwerte wären nicht gut gewesen.“
„Wie denn auch“, erwiderte Eileen und verzog das Gesicht. „Ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen! Ich wollte mir gerade etwas kochen, da rief das Krankenhaus an. Mir war vorher schon ganz komisch zumute!“

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Anita schüttelte jedoch den Kopf. „Das kann es aber nicht nur gewesen sein – die Laborwerte sind noch nicht da. Aber die Ärzte sagten, du solltest mindestens ein oder zwei Tage zur Beobachtung da bleiben, weil dir das schon mal passiert ist.“
„Hast du ihnen das gesagt?“, fragte Eileen aufgebracht. „Mama – das war doch eine ganz andere Situation! Ich hatte mir den Kopf gestoßen!“
„Aber auch nur, weil du vorher zusammengebrochen bist!“, erwiderte ihre Mutter hartnäckig. „Eileen, du bist eine junge Frau Anfang dreißig. Du darfst das nicht so auf die Schulter nehmen. In deinem Alter fällt man nicht einfach aus einer Laune heraus in Ohnmacht.“
„Aus einer Laune heraus“, schnaubte Eileen. „Du weißt genau, wie viel ich gerade durch mache. Darf ein Körper da denn nicht mal verrückt spielen? Andere kriegen Migräne, ein Magengeschwür oder sonst was.“
Anita seufzte. „Das mag ja sein, Eileen – und wenn die Ärzte nichts finden, wissen wir auch, dass du recht hattest. Trotzdem müssen wir dann etwas dagegen unternehmen. Stell dir vor, dir geschieht so etwas, während du Auto fährst oder gerade eine Straße überquerst, am Bahnsteig stehst oder die Treppen hinunter gehst.“

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„Nun übertreibe nicht“, brummte Eileen. „Es ist jetzt das zweite Mal geschehen, beide Male in absoluten Extremsituationen, Mama. Ich habe mir vorhin furchtbare Sorgen um Marcel gemacht … und dann… heißt es, es geht ihm ganz gut und das erste, was er sagt, ist: rufen Sie meine Tussi an und schicken Sie meine Frau am besten nach Haus… ich wäre am liebsten im Erdboden versunken bei dieser Aussage.“
„Was du ja auch nahezu bist“, hörte sie eine Stimme von der Tür und sah ihren Vater herein kommen.

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Er beugte sich zu ihr und küsste sie väterlich auf die Stirn.
„Hallo, Schatz. Schön, dass du wieder wach bist.“
„Ich streite mich gerade mit ihr herum, weil sie nach Hause will“, erklärte Anita und sah ihren Mann hilfesuchend an.
„Kommt nicht in Frage, junge Dame“, sagte dieser streng und lehnte sich gegen den kleinen Tisch am anderen Ende des Raumes. „Erst wenn die Ärzte dir wieder Freigang geben.“
Eileen seufzte. Was sollte sie dazu noch sagen?
„Tut mir leid, dass ihr euch schon wieder Sorgen macht“, sagte sie langsam. „Aber mir geht es schon wieder gut.“
„Kein Wunder, sie haben dich auch wieder aufgepäppelt“, sagte Günther und deutete auf den Infusionsständer neben dem Bett, den Eileen jetzt erst bemerkte, ebenso wie den Zugang in ihrer Hand.

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Sie verzog das Gesicht.
„Was ist denn nun mit Marcel? Habt ihr etwas erfahren?“, fragte sie nach einer Weile Schweigen.
„Er hat nur ein paar Prellungen und eine ziemlich schwere Gehirnerschütterung – scheint aber nicht dramatisch schlimm zu sein.“
„Habt ihr ihn gesehen?“
„Nein – und das ist sein Glück“, brummte Günther. „Von mir aus hätte er sich alle Gliedmaßen brechen dürfen.“

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„Papa!“, rief Eileen empört aus und auch Anita schnaubte entsetzt und warf ihrem Mann einen bösen Blick zu.
„Entschuldigung – soll ich mir auch noch Sorgen um diesen… machen…“, stieß Günther deutlich kleinlauter hervor. „Nun, es geht ihm ja ganz gut. Ich mache mir zurzeit viel mehr Gedanken um dich, Eileen.“
„Lassen wir das Thema gut sein“, stöhnte Eileen. „Wann kommt wieder ein Arzt, den ich dazu bringen kann, mich hier raus zu lassen? Ich weiß, was ihr sagen wollt, aber ich habe keine Lust, hier zu bleiben, obwohl ich mich wieder gut fühle.“
Sie hob beschwichtigend die Hände.
„Ich weiß, was ihr sagen wollt… und ich verspreche, ich gehe noch diese Woche zum Hausarzt. Und ich werde in Zukunft darauf achten, ordentlich zu essen und zu trinken und mich einfach nicht mehr so aufregen zu lassen! So lange nicht wieder irgendjemand mir das Haus unter dem Hintern verkaufen will und direkt danach Unfälle baut, dürfte das sogar auch ganz gut gehen.“

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Sie versuchte ein schiefes Lächeln, auch wenn sie sich innerlich eigentlich gar nicht so sicher fühlte, wie sie es angab.
Aber dennoch – sie wollte einfach weg hier. Bei allem, was in den letzten Wochen geschehen war, tat das Krankenhaus jetzt sein übriges. Es schien regelrecht über ihre Kräfte zu gehen!
Sie brauchte jetzt den Schutz ihrer vier Wände, um den Kopf frei zu kriegen und sich klar zu werden, was ihr da gerade passiert war – den ganzen Tag betrachtend.
„Und ihr könnt auch nach Haus gehen und endlich schlafen, es ist sicher schon spät“, fügte sie schließlich an.
„Spät?“, wiederholte Günther und schüttelte den Kopf. „Es ist eher früh.“
„Früh?“, wiederholte Eileen nun.
„Schatz, es ist fast acht Uhr morgens.“

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Eileen sah ihre Mutter an, als habe diese den Verstand verloren. „Du hast die ganze Nacht geschlafen“, erklärte diese mit einem sanften Lächeln.
In diesem Moment klopfte es an der Türe, die im nächsten Moment geöffnet wurde
Eine Schwester betrat den Raum und lächelte Eileen an. „Guten Morgen!“, rief sie. Hinter ihr betrat ein Arzt das Zimmer.

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„Ah, da ist ja jemand wach geworden“, sagte eine angenehme Stimme und Eileen riss die Augen auf, als sie das Gesicht erneut erkannte.


32.

„Darf ich mich vorstellen, ich bin Doktor Lengert.“
Während ihre Eltern und die Schwester, die den Infusionsständer mit sich nahm, das Zimmer verließen, schüttelte der Arzt Eileen die Hand und setzte sich dann neben sie.

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Er lächelte sie an und Eileen spürte, wie ihr Herz schneller zu pochen begann.
Da waren sie, diese Augen, die sie kannte – und es kam ihr vor, als kenne sie diese schon ihr ganzes Leben. Dabei hatte sie diese tiefblauen Augen erst vor wenigen Wochen das erste Mal gesehen. Und doch waren sie ihr seither nie aus dem Kopf gegangen.
„Ich…“, sie versuchte sich wieder zu fassen und sagte dann: „Wir kennen uns.“
„Ja“, er lächelte wieder, wobei sich ein kleines Grübchen in seiner Wange bildete. „Wir haben uns gestern Abend bereits kennen gelernt, aber ich befürchtete, dass Sie sich nicht wirklich erinnern.“
„Nein… nein, ich meine… vor ein paar Wochen: Sie… waren das nicht Sie in der Karaokebar?“

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Er nickte. „Ja – auch das. Ich wollte nur Ihr Gedächtnis prüfen – rein ärztlich natürlich.“ Er zwinkerte. „Wie könnte ich Sie vergessen nach diesem äußerst beeindruckenden Auftritt.“ Er lachte leise, aber er lachte sie nicht aus, sondern an.
Sie sah beschämt zur Seite. „Ach je – erinnern Sie mich nur nicht daran.“
Einen kleinen Moment schwiegen sie beide, er lächelnd, sie zu Boden blickend.
Dann wurde er wieder ernster und sagte: „Nun – ich hatte allerdings gehofft, dass wir uns nicht unter solchen Umständen wieder über den Weg laufen.“
„Nun… wer will das schon“, sagte sie und versuchte schief zu grinsen, was nicht recht gelang. „Hören Sie… ich… ich weiß nicht, ob Sie mit meiner Mutter gesprochen haben, aber egal, was sie sagte, sie übertreibt maßlos….“
„Wie Mütter das gerne tun“, sagte er lächelnd und nickte.

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„Ja… also… ich… mir geht es normalerweise sehr gut, aber das heute oder…“, sie warf einen Blick zum Fenster, wo die Dämmerung über den Dächern einzusetzen begann. „Eher das gestern, das war wirklich eine Ausnahme. Es… war einfach ein furchtbarer Tag. Und dann dieser Anruf – ich wusste ja nicht, was los ist, ich dachte, es wäre etwas Furchtbares geschehen und… dann… naja… Sie wissen sicherlich, was ich meine. Dann wacht mein Mann… oder eher mein Ex-Mann“, sie lachte bitter auf „, dann wacht er auf und verlangt sofort nach… nun ja, ich nehme an, Sie haben sie bereits kennen gelernt.“
Diesmal lächelte er sie nicht an, sondern nickte mit ernstem Gesicht.

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„Ja… ja, ich verstehe“, sagte er sanft und lehnte sich nach vorne. „Frau Viersen, ich… ich weiß natürlich nicht genau, was zwischen Ihnen und Ihrem Mann im einzeln vorgefallen ist… aber er sagte mir, dass Sie und er seit einer Weile in Trennung leben. Es tut mir leid, dass die Schwestern Sie benachrichtigt und beunruhigt haben, aber wir machen das grundlegend, wenn wir einen Ehepartnerhinweis in den persönlichen Sachen finden.“
„Das ist ja auch mehr als richtig“, erwiderte Eileen schnell. „Ich hätte vielleicht schon am Telefon sagen sollen, wie die Lage ist. Nur… irgendwie schaltet man nicht so schnell um, ich meine… auch wenn man getrennt ist, ist man sich ja doch nicht so ganz egal.“
„Natürlich nicht“, sagte er und nickte. „Und ich kann mir gut vorstellen, wie schwierig das alles für Sie gewesen sein muss. Ihre Eltern sagten, Sie machen gerade keine einfache Zeit durch.“
„Nicht unbedingt“, sagte Eileen und lachte bitter auf. „So kann man es wohl nennen.“

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„Aber Ihre Mutter erwähnte auch einen Zusammenbruch vor einigen Wochen…“
„Das war etwas anderes“, fiel sie ihm ins Wort. „Ich… habe zwei Wochen fast nichts gegessen. Als mein Mann…“, sie biss sich auf die Zunge und sprach dann mit fester Stimme weiter: „Als er mich verließ und… da bin ich erst einmal in Loch gefallen. Ich habe mich vollkommen gehen lassen“, fügte sie beschämt hinzu. „Ich wusste aber auch nicht, wie es weitergehen soll. Er hat mir nicht einmal gesagt, ob es aus ist oder nicht.“ Sie versuchte zu lächeln. „Das ist alles nicht so einfach gewesen. Als er mir sagte, was los ist – und das mit einer Härte, die ich… nun ja… das war zuviel für mich. Und dann habe ich mir den Kopf gestoßen. Deswegen war ich bewusstlos.“
„Und gestern?“
„Ich hatte kaum gegessen, getrunken. Es war ein furchtbar anstrengender Tag und… ich schlafe seit Wochen schlecht.“

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Er nickte und sagte dann langsam: „Ich nehme an, Ihnen ist auch schon seit Wochen öfters einmal schwindelig, flau, vielleicht sogar übel?“
„Manchmal“, gab sie unwillig zu. „Aber ist das denn unnormal, wenn man so einen Stress hat?“
„Nein – nicht unbedingt. Aber es kann auch andere Ursachen haben“, erwiderte er sanft und sagte dann langsam: „Ich möchte jetzt nicht mehr um den heißen Brei herum reden, Frau Viersen. Das gestern war ein Schwächeanfall, aber kein gewöhnlicher. Natürlich war der Hauptauslöser dafür die Aufregung, der Schock – Ihr Blutzucker war tatsächlich nicht gut, mehr als das auch bei langer Nahrungskarenz der Fall sein sollte. Vorweg - Sie haben keinen Diabetes oder ähnliches, das braucht Sie also nicht zu sorgen. Aber dass die Werte so schlecht waren - das hat mich stutzig gemacht, viel mehr aber noch, dass Sie so schwer wieder wach zu bekommen waren. Das kann natürlich auch psychische Ursachen haben… man kann es dem Körper nicht übelnehmen, wenn er einen manchmal einfach aus solchen Situationen heraus zu katapultieren versucht und aus einer Art Selbstschutz einfach die – ich sage mal – Luken dicht macht.“

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Sie nickte, aber er sprach direkt weiter: „Dennoch konnte dies nicht der einzige Grund sein. Ich habe Ihre Blutwerte mehrmals kontrollieren lassen und dabei einige Unstimmigkeiten gefunden. Zuerst dachte ich – da Ihr Mann von Ihrer Trennung sprach – nicht unbedingt an das, was sich nun herausgestellt hat – zur Sicherheit habe ich aber dennoch eine Abklärung veranlasst.“
Eileen schluckte und spürte, wie sie plötzlich zittrig wurde. Hatte sie sich etwa getäuscht? Waren die vielen Schwindelanfälle, die ständige Müdigkeit und all das nicht durch die Situation ausgelöst worden? War sie etwa krank?
„Was… was meinen Sie?“, stammelte sie.

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„Frau Viersen… ich…“, er rutschte unbequem auf seinem Stuhl hin und her. „Es ist sicher nicht ganz einfach, was ich Ihnen jetzt sagen muss, jedenfalls angesichts Ihrer momentanen Situation, aber…“
Sie sah ihn mit weit aufgerissen Augen an.
„Ja?“
„Nun…“, er sah sie mit seinen blauen Augen sanft an. „Sie sind schwanger.“

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FS folgt
 
  • Danke
Reaktionen: Liadan und lunalumi
33.


Doktor Lengert lächelte Eileen sanft und aufmunternd an. Diese strich sich nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht und rieb sich die Arme.
„Bei Frau Doktor Heinrichsen sind Sie sehr gut aufgehoben, glauben Sie mir. Es ist jetzt einfach wichtig herauszufinden, wie fortgeschritten die Schwangerschaft schon ist. Nach den Blutwerten zu schätzen, könnten Sie bereits im vierten Monat sein.“

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Eileen schauderte zusammen und merkte, wie ihr die Beine wieder schwach wurden. Sie war froh, dass der sympathische Arzt mit den blitzblauen Augen neben ihr stand und sie verständnisvoll beobachtete. Es schien ihr irgendeine Kraft einzuflössen.
Sie nickte, dann klopfte sie sachte an die Tür, an der ein Schild mit den Worten „Dr.med.A.Heinrichsen, Gynäkologie und Geburtshilfe“ hing.
„Herein!“, hörte sie eine helle, freundliche Stimme von innen. Sie warf ihrem Begleiter einen unsicheren Blick zu und dieser nickte erneut aufmunternd.
Gemeinsam betraten sie das Zimmer.

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„Fabian!“ Die Frau im weißen Kittel erhob sich von ihrem Schreibtisch und lächelte Doktor Lengert zu. „Guten Morgen.“ Sie wandte sich Eileen zu und schüttelte ihr sanft die Hand.
„Sie sind sicherlich Frau Viersen, nicht wahr? Mein Kollege hat mich bereits informiert.“
„Ja“, sagte Eileen verunsichert und sah zu, wie Doktor Lengert seiner Kollegin ihre Patientenakte überreichte.
„So, ich verabschiede mich nun von Ihnen“, sagte er und lächelte Eileen wieder an, wobei erneut das Grübchen in seiner Wange erschien. Er nahm ihre Hand zwischen seine beiden Hände und drückte sie, als wolle er ihr damit Kraft und Mut geben.
Seine Hände fühlten sich fest und doch weich und warm an.

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„Ich habe jetzt Feierabend“, fügte er erklärend hinzu. „Da wir ja nun wissen, was der Grund für Ihre Ohnmacht war, spricht erst einmal nichts dagegen, Sie zu entlassen. Jedenfalls nicht von meiner Warte aus – die letzte Entscheidung liegt natürlich bei meiner Kollegin.“
Er zwinkerte ihr zu. „Wenn Sie mir also versprechen, sich zu schonen und alles zu tun, was Frau Heinrichsen Ihnen sagt…“
Diese lächelte verständnisvoll bei diesen Worten.
„Dann können Sie heute Mittag mit Ihren Eltern nach Hause fahren. Diese werden sich bestimmt noch um Sie kümmern - und das ist auch nötig.“
Er wurde wieder ernst. „Sie brauchen jetzt vor allem Ruhe, nicht nur wegen der Schwangerschaft, auch um wieder ganz von Grund auf zu Kräften zu kommen.“

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„Aber… ich muss arbeiten gehen“, sagte Eileen hilflos.
Er nickte verständnisvoll, als habe er sofort begriffen, wieso dies in der momentanen Situation so wichtig sei.
„Von meiner Seite aus rate ich Ihnen mindestens den Rest der Woche zu Hause zu bleiben. Alles Weitere muss meine Kollegin entscheiden, denn das kann ich nicht beurteilen.“
Er lächelte und drückte ihre Hand noch einmal fester.
„Ich wünsche Ihnen alles Gute, Frau Viersen. Und ich hoffe, wir sehen uns zumindest hier nicht wieder.“ Er lächelte und sah sie einen ganzen Moment fest an. Eileen spürte ihr Herz erneut schneller pochen und fragte sich, ob ihr Kreislauf schon wieder schwach zu werden begann oder dies gar einen anderen Grund haben konnte.

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„Ist gut“, sagte sie langsam und nickte. „Ich versuche, mich zu schonen. Versprochen.“
Sie lächelte und er nickte zufrieden, lächelte seine Kollegin noch einmal an und schloss dann die Tür hinter sich.
Doktor Heinrichsen berührte Eileen sanft am Arm. „Setzen Sie sich doch, Frau Viersen. Wie mein Kollege mir sagte, sind Sie erst seit einigen Stunden wieder auf. Sie sind sicher noch wacklig auf den Beinen.“
Eileen nickte, denn sie fühlte sich wirklich ziemlich schlapp.
Langsam setzte sie sich auf den Stuhl und sah der Ärztin zu, wie diese ihre Akte kurz überflog.
Eileen sah sich derweil im Zimmer um und merkte, wie sich plötzlich ihr Hals zuzuschnüren begann.

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Seit Februar war sie in keiner gynäkologischen Praxis mehr gewesen. Sie hatte es einfach nicht über sich gebracht, an das, was sie einst in derartigen Räumen an Hoffnungen und Sehnsüchten erfahren hatte, erinnert zu werden.
Nun saß sie wieder hier. Und ihr wurde plötzlich mit aller Macht bewusst, was man ihr gesagt hatte: Sie war wieder schwanger.
Schwanger von Marcel.
Ihre Hände begannen zu zittern und sie versuchte, tief ein und auszuatmen, um nicht schon wieder den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Wie hatte das nur passieren können? Und wann?

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Und was sollte sie um Himmels Willen tun? Marcel hatte sie verlassen, sie stand finanziell mehr auf der Kippe denn je – wenn jetzt alles passte, dann doch bloß kein Baby von ihm!
Wie konnte es nur sein, dass sich der seit dem Verlust immer wieder gehegte Wunsch ausgerechnet jetzt erfüllte?
Jetzt, wo er doch gar nichts mehr wert zu sein schien!!!
„Frau Viersen“, begann die Ärztin langsam. „Sie… ich gehe davon aus, dass die Schwangerschaft nicht gewollt war?“

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Eileen schüttelte den Kopf und spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.
„Ich… nein… oder… doch, schon… nein... eigentlich nicht.“
Sie wischte sich über die Augen.
„Weinen Sie ruhig, wenn Ihnen danach ist“, sagte Dr. Heinrichsen langsam.
Eileen begann nun zu schluchzen und stammelte: „Es… tut mir leid… ich… ich… wissen Sie, eigentlich wollten wir immer ein Baby, aber…“
Sie versuchte, gegen die Tränen anzuschlucken. „Wir … ich war Anfang des Jahres schwanger“, sagte sie dann mit brüchiger Stimme. „Im dritten Monat stellte man fest, dass das Kind nicht mehr lebte und…“
Die Ärztin sah sie mitfühlend an. „Ja?“, ermutigte sie Eileen zum Weitersprechen.
„Dann… kam ich zur Ausschabung. Es … ich habe kaum begriffen, was geschehen war und … schon war alles vorbei“. Sie schluchzte wieder und wusste auf einmal nicht mehr, worum sie jetzt weinte: um sich selbst, über die neue Schwangerschaft und die darum so vertrackte Situation oder über das kleine Wesen, das sie damals hatte gehen lassen müssen und das ihr immer noch fehlte.

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„Ich… ich wollte danach wieder schwanger werden. Aber mein Mann… er… wir haben uns danach nicht mehr verstanden“, sagte sie unter Tränen. „Und dann… haben wir uns vor ein paar Wochen getrennt.“
Die Ärztin nickte verständnisvoll und schwieg eine Weile, während Eileen schluchzte.
Als Eileen sich nach und nach wieder beruhigte, reichte die Ärztin ihr ein Taschentuch und sagte dann langsam: „Die Situation ist alles andere als einfach. Das Kind ist vielleicht nicht grundlegend ungewollt, aber im Moment natürlich ein Schock für Sie.“
Eileen nickte.
„Und vielleicht haben Sie den ersten Verlust noch gar nicht recht verdaut“, sagte die Ärztin langsam. „Haben Sie jemals mit jemandem über Ihre Trauer gesprochen?“
„Nein“, sagte Eileen. „Mit wem denn?“
„Freunde? Familie? Was war mit Ihrem Mann?“

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„Für ihn war das alles nicht mehr als ein… Fehler… oder ein missglückter Versuch“, schnaubte Eileen traurig.
Die Ärztin nickte. „Ja, das höre ich oft. Leider werden solche Verluste viel zu oft verdrängt.“
Sie lächelte Eileen sachte an. „Aber nun ist das Wunder noch einmal geschehen. Wollen Sie es denn zulassen?“
Eileen schluckte. „Ich… ich weiß es nicht. Ich weiß ja nicht einmal, wann es passiert ist.“
Die Ärztin nickte, setzte sich wieder auf ihren Stuhl und nahm ihre Schreibunterlagen zur Hand.
„Heute Morgen hat mein Kollege Ihren Blut-Hcg bestimmen lassen.“ Sie sah auf und fügte erklärend hinzu: „Das ist das Schwangerschaftshormon im Blut. Daran kann man grob erkennen, wie weit Sie sein könnten. Es kann sogar sein, dass Sie bereits über den dritten Monat hinaus sind.“
Eileen schluckte und sagte leise: „Das heißt… dass ich das Kind behalten muss, egal ob ich will?“

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Die Ärztin nickte langsam. „Wenn die Ultraschalluntersuchung dieses Ergebnis bestätigt… ja.“
Sie sah Eileen lange an. Diese fühlte sich völlig bodenlos. Was sollte sie jetzt nur tun? Ihr Kopf schien ein einziger Wattebausch geworden zu sein und sie wusste nicht, was denken oder fühlen.
„Wann hatten Sie denn das letzte Mal Ihre Periode?“, fragte die Ärztin nun langsam.
„Ich… ich weiß es gar nicht“, erwiderte Eileen verwirrt. „Eigentlich hatte ich den Eindruck, dass Sie regelmäßig kam – sie war das letzte Mal nur sehr schwach, das weiß ich noch genau – das war so… vor drei oder vier Wochen. Ich… ich habe die Pille nach der Fehlgeburt gar nicht erst wieder angefangen und mein Zyklus war danach nicht mehr ganz so wie vor der Schwangerschaft. Aber… ich habe noch einmal etwa drei oder... vier Wochen vor der Trennung meine Periode gehabt“, sie dachte nach. „Ich erinnere mich noch sehr gut, weil ich an diesem Wochenende nicht mit auf das Fußballspiel bin, denn ich hatte ein bisschen Krämpfe und war nicht gut gelaunt. Dann…“
Sie schluckte, als es ihr plötzlich einfiel. Es war das Wochenende danach gewesen. Marcel und seine Jungs hatten ein Heimspiel gewonnen, und Marcel hatte recht viel getrunken. Die Jungs waren mitgekommen und man hatte ausgelassen gefeiert.

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Lene und Dirk waren auch dagewesen – und auch Eileen hatte zum ersten Mal seit langem wieder ein bisschen gefeiert und getrunken. Am Abend waren sie und Marcel so gut gelaunt gewesen, dass die Barriere zwischen ihnen zu bröckeln begonnen hatte und sie abends im Bett schnell zur Sache kamen.
Dies war jedoch das letzte Mal gewesen, dass sie miteinander schliefen.

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Unter der Woche und im Alltagsstress waren die alten Probleme schnell wieder da gewesen – und zwei Wochen danach hatte sie bereits die verräterische SMS entdeckt
„Ich… ich denke, ich weiß, wann es passiert sein könnte“, sagte sie mit dünner Stimme und wies auf den Kalender.
Die Ärztin nickte. „Dann wären Sie jetzt bereits in der vierzehnten Woche, vielleicht eine Woche weiter nach vorne oder hinten, aber die Blutwerte würden damit übereinstimmen.“
„Und das bedeutet…“
„Wenn Sie auf einen Schwangerschaftsabbruch anspielen, dieser ist nur bis zur zwölften Woche möglich“, sagte die Ärztin sanft. „Aber darüber würde ich jetzt erst einmal gar nicht nachdenken. Lassen Sie uns erst einmal nachschauen, ja?“

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Eileen nickte. Die Ärztin stand auf und führte sie zur Ultraschallliege.
Eileen schlüpfte aus der Trainingshose und ihrem Shirt – Ihre Mutter war direkt nach dem Gespräch mit Doktor Lengert zu ihr nach Haus gefahren und hatte ihr neue Kleidung geholt, da Eileen in dem Krankenhaushemdchen fast verrückt geworden war – und legte sich auf die Liege.

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Ihr schossen die Bilder an das letzte Mal, als sie auf einer solchen gelegen hatte, durch den Kopf.
Die Ärztin machte den Bildschirm an und begann mit der Untersuchung.
„Das sieht alles gut aus“, sagte sie zu Eileen gewandt, die sie angespannt beobachtete.

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„Na also“, sagte sie eine kleine Weile später. „Da haben wir es ja.“
„Sehen Sie nur“, sie drehte Eileen den Bildschirm zu. „Sehen Sie nur – das ist es. Das ist Ihr Baby.“

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34.



Eileen saß zitternd auf dem Bett und starrte ins Leere. Ihr Kopf fühlte sich an, als sei er zu einem gigantischen Wattebausch mutiert.

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Ihre Mutter trat ins Zimmer und musterte sie sorgenvoll.
„Schatz… kann ich Dir etwas bringen?“, fragte sie sanft.
Eileen schüttelte den Kopf.
"Nein“, sagte sie und lächelte tapfer. „Nein. Ich… bin nur so durcheinander.“
„Du solltest ein wenig schlafen. Ich gehe runter zu deinem Vater ins Wohnzimmer.“
Eileen sah sie einen Moment an und erwiderte: „Ihr müsst eigentlich nicht bleiben, Mama. Ich… fühle mich schon wieder ganz gut und… eigentlich wäre ich jetzt gerne alleine.“
Ihre Mutter dachte einen Moment nach und sagte dann: „Eigentlich möchte ich dich nicht alleine hier lassen, Schatz. Was, wenn du doch noch einmal ohnmächtig wirst?“
Eileen schüttelte den Kopf. „Du brauchst dich nicht ängstigen. Sowohl Doktor Lengert als auch die Frauenärztin haben gesagt, dass mein Zusammenbruch nur von der Aufregung, der Belastung und dem fehlenden Essen kamen. In der Schwangerschaft…“, sie schluckte und wusste nicht recht, was sie davon halten sollte, genau das gesagt zu haben. „Da braucht man einfach öfter etwas zu essen. Wegen dem Blutzucker.“

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Ihre Mutter nickte. „Ich weiß, ich weiß. Aber… das alles…“, sie sah sich im Zimmer um, als stände dieses symbolisch für die Ereignisse der letzten Wochen. „War doch ziemlich viel und …“
„Mama, ihr könnt nicht hier einziehen für die kommenden Wochen. Ich muss jetzt einfach einen Weg finden, besser auf mich zu achten“, erwiderte Eileen müde. „Und ich würde gerne damit anfangen, indem ich ein wenig schlafe und einfach meine Ruhe habe. Bitte, Mama… ich habe euch gerne um mich, aber manchmal möchte man einfach alleine sein. Ich muss das ganze jetzt erst einmal verarbeiten, verdauen.“
Sie sah ihre Mutter ernst an.
„Gut“, erwiderte diese schließlich. „Wir fahren nach Hause. Aber bitte rufe mich noch einmal an, bevor du schlafen gehst. Morgen früh komme ich vorbei und bringe dir Frühstück und ein paar Einkäufe, ja?“

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Eileen nickte. „Ja. Ich werde jetzt noch Lene anrufen und ihr erzählen, was los war. Sie muss mich auch bei meinem Chef entschuldigen.“ Eileens Herz sank bei dem Gedanken daran, dass sie nun schon wieder auf der Arbeit fehlen würde. Aber die Ärztin hatte nicht mit sich reden lassen. Den Rest der Woche musste Eileen auf jeden Fall im Bett oder zumindest auf der Couch verbringen, um wieder zu Kräften zu kommen.
Glücklicherweise war schon Mittwochabend, aber drei Fehltage ließen sich nicht vermeiden.
„Gut, Schatz“, ihre Mutter lächelte und strich ihr über den Kopf, als sei sie wieder ein kleines Mädchen. „Dann ruh dich aus und wenn etwas ist, ruf uns an.“
Eileen nickte und lehnte sich in den Kissen zurück, während ihre Mutter das Zimmer verließ. Sie hörte sie unten gedämpft mit ihrem Vater sprechen – allen Anscheins nach führte sie jetzt fast genau dieselbe Diskussion mit ihm wie Eileen einige Minuten zuvor mit ihr geführt hatte – und schließlich fiel die Haustür ins Schloss. Eine Minute später war das Geräusch ihres Motors in der Ferne verklungen. Eileen seufzte tief. Draußen begann es bereits wieder zu dämmern.

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Sie stand auf, griff nach ihrer Tasche und holte ein Ultraschallbildchen hervor, das sie nachdenklich betrachtete.
Das Baby war schon deutlich zu erkennen – kein Wunder, nach den Berechnungen der Ärztin war Eileen auch bereits im vierten Monat, ganz wie die Ärzte es schon vor der Untersuchung vermutet hatten.
Sie betrachtete das kleine Wesen lange. Es sah fast genauso aus wie das Baby damals, nur um einiges größer. Kleine Ärmchen, die schon kräftig in ihr herumruderten, ein heftig pochendes Herzchen, das eifrig auf dem Bildschirm gezuckt hatte. Das Kleine war wach gewesen, in ihrer Gebärmutter auf und nieder gehüpft, hatte mit Ärmchen und Beinen Schwimmbewegungen vollführt und einmal sogar die winzige Hand gehoben, als wolle es ihr durch den Bildschirm zuwinken und sich mit „Hallo Mama, da bin ich nun also“ vorstellen.
Ob es jedoch ein Junge oder ein Mädchen war, hatte man noch nicht erkennen können.
Eileen seufzte und legte das Bild sorgsam in ihren Nachttisch.
In ihr herrschte ein solches Wirrwarr an Gedanken und Gefühlen, das ihr davon fast schon wieder schwindelig wurde.

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Der Himmel hatte sich mit Wolken zugezogen und Eileen war sich sicher, dass es bald wieder zu schneien anfangen würde. Unwillkürlich legte sie die Hand auf ihren Bauch und hielt ob dieser Bewegung inne. Es war ihr fast, als spüre sie die kleinen Tritte in sich bereits, auch wenn das unmöglich war. Wie konnte es nur sein, dass seit fast acht Wochen ein zweites kleines Herzlein in ihr schlug und sie nichts davon bemerkt hatte?

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Sie sah an sich herunter und musste unfreiwillig grinsen. Nun ja – fast nichts aus den enger werdenden Hosen. Wer hätte aber je gedacht, dass daran nicht die Sahnetorten sondern ein kleines Menschlein schuld sein könnte?
Eileen schüttelte den Kopf, immer noch völlig fassungslos. Immerhin hatte sie ihre Menstruation bekommen… sie schluckte. Im Nachhinein war ihr klar, dass das, was sie dafür gehalten hatte, wohl eher Zwischenblutungen gewesen sein mussten. Aber sie hatte gedacht, es sei eine – aufgrund der Umstände eben etwas durcheinander geratene – Periode gewesen.
Wer sollte es ihr schon übel nehmen, dass sie in den stressigen letzten Wochen alles andere im Sinne gehabt hatte als Zykluskalender zu führen? Zumal sie ja abstinent gelebt hatte… nun ja, zumindest nach der Trennung.
Sie kratzte sich am Kopf und fragte sich, ob das eigentlich alles nur ein verrückter Traum sei? Aber wo fing er an und wann hörte er auf?
Stöhnend griff sie sich an die Stirn, es fühlte sich an, als platze ihr Kopf, nicht vor Schmerz, sondern von der Fülle an Gedanken darin, die allesamt keinen rechten Sinn geben wollten.
Ihr Magen knurrte, so dass sie das Schlafzimmer verließ und nach unten in die Küche ging. Im Kühlschrank fand sich eine vorsorglich von ihrer Mutter vorbereitete Platte mit belegten Broten, von denen sie sich eines auf einen Teller legte.

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Sie wollte keinesfalls riskieren, dass ihr wieder der Boden unter den Füßen verloren ging.
Nachdem sie sich gestärkt hatte, warf sie einen Blick zur Uhr. Es war nun fast halb sechs, und Lene dürfte inzwischen zu Hause angekommen sein. Also griff sie nach dem Hörer und holte tief Luft.
Bisher wusste Lene nur, dass sie heute krank war – ihre Mutter hatte sie kurz von der Klinik aus angerufen, aber nichts Genaues gesagt.
Wie sollte sie ihrer Freundin nur beibringen, was in den letzten vierundzwanzig Stunden alles geschehen war?
„What a difference a day made. Twenty-four little hours…”, ging Eileen der alte Song von Diana Washington durch den Kopf.
Am anderen Ende der Leitung hörte sie es tuten und schließlich meldete Lene sich atemlos.
„Hallo?“

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„Hei, Eileen hier.“
„Eileen! Wie schön, dass du anrufst. Mensch, ich hab mir den ganzen Tag Sorgen gemacht. Was ist los, wo bist du?“
Eileen schluckte und wusste nicht recht, wo sie anfangen sollte. Schließlich sagte sie langsam: „Das ist eine lange Geschichte, Lene.“
„Was ist passiert?“ Lene klang erschrocken. „Geht es dir gut?“
„Ja, soweit. Ich bin zu Hause.“
„Warst du denn woanders?“
Eileen kratzte sich am Kopf. „Hat meine Mutter dir nichts gesagt?“
„Sie rief nur an und sagte, du kannst nicht kommen.“
„Oh...“, Eileen biss sich auf die Lippen. Sie hätte gedacht, dass Lene wenigstens die groben Fakten wusste. „Also… ich war im Krankenhaus. Bis vorhin.“
„Du selbst? Was ist los?“
„Längere Geschichte“, sagte sie erneut und schnitt eine Grimasse, auch wenn Lene sie nicht sehen konnte.

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„Soll ich vorbeikommen?“, bot Marlene sofort an.
Doch Eileen schüttelte den Kopf und sagte schnell: „Nein – sei mir nicht böse, aber ich bin noch nicht wieder ganz auf den Beinen. Ich werde gleich schlafen gehen. Also, Lene… ich versuch es mal in der Kurzform… ich…“
„Ja?“
„Ich bin schwanger, Lene.“
Schweigen am Telefon. Eine halbe Minute. Eine Minute.

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„Lene?“
Eileen ging nervös auf und ab„Bist du noch dran?“
„Ja. Sag mal…willst du mich vergackeiern?“
Sie klang wütend.
Eileens Stimme wurde zittrig. „Ich wünschte, es wäre so.“
„Wie kannst du schwanger sein? Von wem?“
Erst jetzt begriff Eileen, was Lene von ihr denken musste.
„Nein… nein, nein“, rief sie schnell aus. „Nicht so wie du denkst!“
„Was denke ich denn?“, gab Lene schmollend zurück. „Ich denke, du hättest es mir wenigstens erzählen können, dass du schon jemand neuen hast…“

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„Nein, Lene, stopp – stopp!“, rief Eileen hastig in den Hörer. „Du irrst dich. Ich bin schwanger… von Marcel schwanger.“
„Wie bitte? Seit wann läuft das wieder?“
Eileen wäre am liebsten durch den Hörer gesprungen und hätte Lene geschüttelt.
„Lene! Nun hör mir doch erstmal zu! Ich bin bereits im vierten Monat! Es… es ist Marcels Kind. Es ist… noch vor der Trennung passiert, verstehst du!“
Wieder Schweigen. Dann ein „Oh“, von Marlene.
War das alles? Eileen schwieg und wartete darauf, dass Marlene etwas sagte. Nach einer schier endlos scheinenden Zeit tat sie es dann auch: „Wie… wie kann das sein? Hast du es nicht gemerkt?“

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„Nein“, erwiderte Eileen und versuchte den Ärger über den Ton, in dem ihre Freundin den letzten Satz gesagt hatte, hinunter zu schlucken. „Nein, ich hatte meine Periode und ich hätte nie gedacht, dass ich schwanger sein könnte.“
Marlene schwieg erneut. Dann fragte sie: „Und jetzt ist es weg?“
Eileen riss die Augen auf. „Was? Wie kommst du darauf?“
„Na… weil du im Krankenhaus warst. Ich dachte, du…“
„Du dachtest, ich hab es wegmachen lassen“, vollendete Eileen ihren Satz. „Und es dir jetzt erst erzählt, oder wie?“
Marlene schien sich nun unsicher zu werden.
„Nein… ich… dachte nur, dass du vielleicht… dass du deswegen in der Klinik warst und…“
„Nein, deswegen nicht“, sagte Eileen mit plötzlich sehr kalter Stimme. „Ich war gestern in der Klinik, weil Marcel einen Autounfall hatte.“

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„Ach herrjeh!“, rief Marlene aus. „Habe ich ihm zu sehr den Teufel an den Hals gewünscht?“
Eileen konnte sich nur noch über ihre Freundin wundern. Ihre Offenbarung, von ihrem Mann, der sie einige Wochen zuvor wegen einer anderen verlassen hatte, im vierten Monat schwanger zu sein, löste endloses Schweigen und merkwürdige Rückschlüsse bei ihr aus, aber die Aussage, dass eben jener Mann einen Unfall gehabt hatte, löste ihre Zunge?
„Nun, es geht ihm nicht schlecht, aber… mir ging es nach der Aufregung nicht so gut, und die Ärzte haben mich über Nacht dabehalten und dabei gemerkt, dass ich schwanger bin“, kürzte sie die aufreibenden Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden ab.
„Und nun?“, fragte Marlene abermals. „Wirst du das Kind behalten?“

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Wieder spürte Eileen einen eisigen Zorn in sich über die Flapsigkeit, mit der ihre Freundin diesen Satz äußerte.
„Marlene – ich bin schon mitten des vierten Monats!“, rief sie aus. „Ich habe gar keine Wahl!“
„Oh“, stieß diese wieder hervor und verfiel dann wieder in ihr Schweigen. Schließlich sagte sie vorsichtig: „Und… gibt es da gar keine Möglichkeit? Vielleicht in einem Nachbarland oder bei einem privaten Arzt?“
Eileen schluckte. „Marlene, sag mal… hast du was getrunken?“
„Nein, wieso?“
„Weil… weißt du, was du da gerade gesagt hast?“
Marlene schluckte schuldbewusst. „Ja… ich meine… ach Mensch, Eileen, ich weiß auch nicht, was ich jetzt sagen soll. Ich meine… du bist ohnehin am Ende, nun auch noch ein Kind, auch noch von Marcel. Ich frage mich eben nur, wie das gehen soll?“
„Es muss und wird wohl gehen“, sagte Eileen fest. „Schließlich ist es jetzt da. Und es ist mein Baby und… kann nichts dafür, was sein Vater getan hat. Es verdient genauso die Chance auf Leben und Liebe wie sein Geschwisterchen sie auch hatte.“

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Erst jetzt, als sie diese Worte so inbrünstig sprach, realisierte sie, dass das genauso war. Und dann spürte sie, wie ein warmes Gefühl für das kleine Wesen in ihr aufzusteigen begann und ihre Brust erfüllte.
„Es ist mein Kind“, sagte sie darum fest. „Und irgendwie schaffe ich das schon.“
„Na… gut, wenn du meinst“, erwiderte Marlene und klang wenig überzeugt. Eileen wäre ihr am liebsten ins Gesicht gesprungen. Was gab es denn für Alternativen und wie konnte Marlene nur so wenig teilnehmen?
„Nun ja…“, sagte Eileen schnell und versuchte, ihren Ärger herunterzuschlucken. „Jedenfalls haben mich die Ärzte für die nächsten zwei Tage aus dem Verkehr gezogen. Ich weiß, das ist nicht gut, aber ich habe sie nicht überzeugen können. Aber am Montag bin ich wieder da. Sagst du Herrn Kuhrmaier, dass es mir leid tut?“
„Und was soll ich sagen, wieso du schon wieder fehlst?“, fragte Marlene ratlos.

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„Sag, ich bin krank. Den Rest bespreche ich am Montag mit ihm“, erwiderte Eileen rasch. „Ich muss jetzt auflegen. Bis dann.“
Und ehe Marlene noch ein Wort hatte sagen können, legte Eileen auf. Wütend funkelte sie das Telefon an. In manchen Dingen war Marlene einfach ein unsensibles Trampeltier!
Doch dann legte sie den Hörer beiseite und sah an sich hinunter. Und zum ersten Mal berührte sie ihren Bauch mit jener Zärtlichkeit, die sie noch von früher kannte – und plötzlich fühlte sie sich nicht mehr verwirrt oder verzweifelt.

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Sondern glücklich. Einfach glücklich

35.


„Bin ich denn verpflichtet, es ihm zu sagen?“
Eileen sah ihre Anwältin fragend an.

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Diese machte eine unsichere Handbewegung.
„Das liegt im Auge des Betrachters. Aber Sie sollten es ihm sagen.“
Eileen seufzte, während ihre Anwältin einen Schluck Kaffee trank und sie dann ernst ansah.
„Es ist nicht nur die moralische Frage, Frau Viersen. Es ist wichtig, dass Ihr Mann für das Kind aufkommt, sobald es geboren ist. Auch wenn es bis dahin noch einige Monate sind. Und auch was sein Drängen bezüglich des Hauses angeht – ich sage es nur ungern, aber wir haben durch die Schwangerschaft einen Joker in der Hand. Kein Richter der Welt würde Ihnen das Einsitzrecht im Haus absprechen in dieser Situation.“
Eileen sah die Anwältin unbehaglich an. „Mir gefällt es nicht, dass das Kind für solche Dinge herhalten soll“, sagte sie dann.
Ihre Anwältin nickte. „Ja, mir auch nicht. Und grundlegend hat Ihr Mann ja ohnehin nicht das Recht, auf einen Hausverkauf zu bestehen.“

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„Das hat er aber gesagt“, erwiderte Eileen und stützte einen Arm auf die gläserne Tischplatte. Sie war froh, dass ihre Anwältin so schnell und unkompliziert war und einfach zu ihr nach Hause gekommen war, nachdem sie von den Ereignissen in der Klinik erfahren hatte.
Nachdem sie eine Nacht über alles geschlafen hatte, war Eileen am Morgen aufgewacht und hatte sich unablässig die Frage gestellt, wie es nun weitergehen sollte.
Ihre Mutterliebe zu dem heranwachsenden Kind in ihrem Bauch war entfacht worden, und es gab für sie nun keine Frage mehr, dass sie das Kind lieben und ihm eine gute Mutter sein wollte.
Aber konnte sie das überhaupt? Sie schaffte es zurzeit ja kaum, sich selbst zu versorgen. Was würde geschehen, wenn sie nicht mehr arbeiten ging? Schon jetzt konnte sie das Haus kaum halten, und Marcel würde, sobald er sich erholt hatte, sicherlich weiterhin mit harten Bandagen kämpfen.
Jedoch war die viel größere Frage, ob und wie sie Marcel beibringen sollte, dass sie sein Kind unter dem Herzen trug. Wollte sie es ihm überhaupt sagen, nach allem, was er getan hatte?
Sie wusste, dass sie es vielleicht schon im Krankenhaus, direkt nach der Untersuchung, hätte tun sollen. Immerhin lagen sie nur wenige Meter und Zimmer entfernt voneinander auf derselben Station.
Aber sie hatte es nicht übers Herz gebracht, schon gar nicht nach den Ereignissen des Vorabends.

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Vermutlich war das auch besser so gewesen, denn sie hatte erst einmal für sich selbst sortieren müssen, wie sie zu allem stand und was sie fühlte.
Als Eileen klar geworden war, dass sie gar nicht wusste, was nun auf sie zukam, welche Rechte und Pflichten sie angesichts dieser vertrackten Situation hatte, war ihr nächster Weg der zum Telefon gewesen, um mit ihrer Anwältin zu sprechen.
Diese machte in diesem Moment eine wegwerfende Geste mit der Hand und sagte: „Frau Viersen, so wie ich die Lage einschätze, hat Ihr Mann nur versucht, Sie einzuschüchtern.“
„Nun ja… er verdient sehr gut“, sagte Eileen langsam. „Er … wird sicher mehr als einen Anwalt darauf ansetzen.“
Frau Walter sah sie einen Moment an und schien dann zu begreifen, worauf ihre Klientin hinaus wollte. Zu Eileens Erleichterung nahm sie die Anspielung auf die Tatsache, dass Marcel mehr Geld hatte, um „teurere“ Anwälte zu bezahlen, nicht als Kränkung auf, sondern sagte fest: „Ich weiß, was Sie denken. Aber nur weil jemand einen hohen Tarif verlangt, ist er nicht unbedingt besser. Gesetz ist letztlich immer noch Gesetz. Natürlich gibt es Grauzonen und für uns Anwälte die Möglichkeit, Tatsachen so oder so zu drehen und wenden, um gewisse Dinge zu vermeiden oder zu erreichen. Hier liegt die Sache jedoch ganz klar. Ihr Mann hat sich ebenso wie Sie vertraglich verpflichtet, das Haus und dessen Schuldenlast zu tragen und abzubezahlen, völlig unabhängig von einem Einsitz- oder Wohnrecht.
Abgesehen davon wird Ihnen aufgrund Ihrer geringeren Vermögensverhältnisse das Haus auf jeden Fall als Wohnsitz zugesprochen werden. Und in Anbetracht der Schwangerschaft ohnehin.“

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Sie seufzte und schüttelte den Kopf. „Ich kann die Männer manchmal nicht verstehen. Wobei – wir wollen nicht ungerecht sein, eine gekränkte Ehefrau kann auch jeden Anstand vergessen und über die Stränge hinaus schlagen. Auch das habe ich schon erlebt. Und doch sind es oft die Männer, die sich der Illusion hingeben, dass sie sich einfach aus allen Verpflichtungen einer Ehe lösen können. Oftmals sogar aus jenen der Vaterschaft.“
Sie lächelte Eileen zu. „Ich hoffe, dass Ihr Mann wenigstens jetzt zur Vernunft kommt und Sie nicht weiter bekriegt. Allein des Kindes wegen, das schließlich auch seines ist.“
Sie sah Eileen lange an und fragte dann: „Haben Sie sich schon einmal überlegt, ob diese Wendung jetzt vielleicht doch Einfluss darauf nehmen könnte, wie Ihre Ehe weitergeht?“
Eileen sah sie fragend an. Frau Walter zuckte die Achseln und sagte vorsichtig: „Ich hatte schon einmal einen ähnlichen Fall, und das gemeinsame Kind hat beide Parteien noch einmal zum Nachdenken gebracht. Sie haben es noch einmal miteinander versucht – und erstaunlicherweise hat es funktioniert. Das war sicherlich ein Einzelfall, er ist mir aber gut in Erinnerung geblieben.“
Eileen sah sie nachdenklich an. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht“, erwiderte sie dann langsam. „Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass wir noch eine Chance hätten. Sowieso nicht nach allem, was mein Mann sich mir gegenüber geleistet hat. Ich würde ihm am liebsten noch nicht einmal von dem Kind erzählen…“
Sie dachte wütend an Marcels Gleichgültigkeit nach dem Verlust ihres ersten Kindes. Wahrscheinlich würde ihn dieses Kind jetzt noch weniger interessieren.
„Sie sollten es ihm sagen“, sagte Frau Walter beharrlich. „Er hat ein Recht es zu erfahren und Sie ein Recht, die nötige Unterstützung zu bekommen.“
Dann warf sie einen Blick auf Eileens Bauch, den man nun – mit dem Wissen, was sich darin verbarg – plötzlich wahrzunehmen begann.
„Darüber hinaus wird er es ohnehin irgendwann erfahren. Sie können ihm wohl schlecht die nächsten Monate aus dem Weg gehen…“
Sie lächelte.

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Eileen nickte. „Ja, Sie haben recht. Aber ich weiß nicht, wie ich es ihm sagen soll. Ich kann doch nicht einfach zu ihm gehen und ihm sagen, hallo, ich bin schwanger von dir, was machen wir jetzt.“
Sie seufzte schwer. „Es ist furchtbar kompliziert.“
Frau Walter nickte. „Hören Sie, Frau Viersen, haben Sie schon einmal überlegt, sich therapeutische Hilfe zu suchen?“
Eileen sah sie überrascht an. „Nein – ich… wieso? Ich meine, ich bin ja nicht verrückt geworden, nur… ist alles so schwierig.“
Frau Walter lächelte und schüttelte dann den Kopf. „Dass die Menschen immer noch denken, man muss erst *verrückt* werden, um einen Therapeuten zu brauchen. Nein, so meine ich das nicht. Ich denke nur, dass Sie in einer sehr schwierigen, emotional belastenden Situation stecken und da tut es manchmal gut, mit jemandem reden zu können, der ganz neutral ist.“
Eileen sah sie nachdenklich an.
„Meinen Sie?“
Frau Walter nickte. „Ja – ich empfehle das den meisten meiner Klientinnen, aber bei Ihnen ist die Lage durch die Schwangerschaft noch schwieriger als in den Regelfällen.“
Sie schob eine kleine Visitenkarte über den Tisch zu Eileen hinüber.
„Ich kann diese Dame hier besonders empfehlen“, sagte sie dann warm und sah Eileen mitfühlend an. „Rufen Sie doch einfach mal an und schauen Sie, ob es etwas für Sie ist.“
Eileen nickte dankbar. „Das ist sehr nett von Ihnen. Ich kann es mir ja mal überlegen.“
Frau Walter nahm einen letzten Schluck Kaffee und sagte dann: „Gut, Frau Viersen. Ich denke, das rechtliche haben wir geklärt. Sie sollten es Ihrem Mann wirklich sagen. So bald wie möglich. Und dann schauen wir mal, ob er auf seiner abstrusen Forderung bezüglich des Hauses überhaupt noch weiter beharren wird.“
Eileen nickte und stand ebenso wie die Anwältin auf. Sie schüttelten sich zum Abschied die Hand.
„Danke, dass Sie vorbei gekommen sind.“

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„Das war doch selbstverständlich. Für Sie ist es jetzt erst einmal wichtig, sich auszuruhen und zu Kräften zu kommen“. Frau Walter lächelte ihr aufmunternd zu. „Dann sieht die Welt schon wieder anders aus.“
Eileen nickte und öffnete ihr die Haustüre. Die frische, kalte Novemberluft drang in die kleine Diele.
Eileen blieb noch einen Moment in der Tür stehen und sog die frische Luft tief ein.
Frau Walter balancierte auf ihren High Heels durch den Schnee, winkte noch einmal und brauste dann in ihrem schwarzen Wagen von dannen.

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Eileen sah ihr nach und drehte sich dann um. Das Herz wurde ihr wehmütig schwer. Sie dachte an die vergangenen Winter, deren Behaglichkeit und Geborgenheit.
Das Gefühl völliger Einsamkeit übermannte sie mit einer solchen Wucht, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie fühlte sich so alleine und verlassen! Würde dieses Gefühl denn niemals weniger werden, seinen Schmerz verlieren?

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Die Sehnsucht, von jemandem in den Arm genommen, geküsst und gehalten zu werden, war so übermenschlich groß, dass sie aus Verzweiflung die Arme um sich selbst schlang und sich hin und her wiegte. Noch dazu stand der Advent direkt bevor. Eileen schloss sachte die Haustüre und ging zurück ins Wohnzimmer.
Es war so still und leer, während draußen der Schnee sanft zur Erde fiel. Ungläubig dachte sie daran, wie heil ihre Welt noch vor einem Jahr gewesen war, ohne Verlust, ohne Verlassenwerden, ohne Einsamkeit, Schmerz.
Geordnet, warm und vollständig war ihre Welt gewesen. Was gäbe sie jetzt für die Sorgen dieser Zeit, die sich einfach so hatten lösen lassen, wenn man nur nach der Lösung gesucht hatte.

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Jetzt stand sie vor den Trümmern ihres Lebens, es war kaum noch etwas übrig geblieben. Sanft strich sie über ihren Bauch. Kaum noch etwas, außer diesem kleinen Wesen in ihr, das sich einen so ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht hatte, den Schritt ins Leben zu wagen, wie man ihn sich kaum ungünstiger hätte vorstellen können.
Eileen rollte sich auf der Couch zusammen und zog die Beine an.
Die Stille und Leere im Haus schienen sie fast zu erdrücken. Sie schloss die Augen und sah die Bilder ihres einst so heilen Lebens vor sich aufsteigen.
Was, wenn sie die SMS nicht entdeckt hätte? Was, wenn sie einfach noch einige Wochen in der heilen Welt hätte weiterleben dürfen, die sie vorher besessen hatte?
Und dann gemerkt hätte, dass ein neues kleines Leben in ihr heranwuchs.
Sie stellte sich vor, wie sie es Marcel gesagt hätte. Was hätte er getan? Hätte er seine neue Freundin verlassen, nun da die Sachlage so anders gewesen wäre?
Und heute läge sie hier nicht alleine, sondern in seinen Armen, während er ihr liebevoll über den Bauch streicheln würde, so wie er es damals auch hin und wieder getan hatte?

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Die Vorstellung daran war so real, dass sie ihr die Luft abschnürte. Sie hatte das Gefühl, nur danach greifen zu müssen.
Doch dann riss sie die Augen auf und die Einsamkeit nahm sie wieder ein, genauso wie die Realität. Nein, sie hätte es nicht gewollt. Sie war froh, dass es so gekommen war. Die Vorstellung, weiterhin nur die „zweite“ zu sein, während in ihrem Bauch das Kind herangewachsen wäre, schnürte ihr die Kehle zu. Es war besser, dass sie alles rechtzeitig herausgefunden hatte.
Und doch half diese Erkenntnis nicht gegen die Einsamkeit, die sich wie ein kalter Mantel um sie zu legen begann. Sie schloss erneut die Augen und spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie sehnte sich nach ihm. Sie sehnte sich immer noch.
Sie wollte nicht mehr alleine. Sie wollte all das nicht alleine ertragen müssen.
In ihr brannte sich das Bild dessen ein, was hätte sein können.

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Sie ließ den Schmerz kommen, ihn die Macht über sich gewinnen, in der erlösten Empfindung, für einen kleinen Moment endlich einmal nicht mehr kämpfen zu müssen.
Sich in dieses Gefühl fallen lassen zu können, welches das innere Bild in ihr auslöste.
Das Weinen machte sie müde und ihre Augen wollten nicht mehr offen bleiben.
Und bevor ein leichter Schlaf sie gnädig ergriff, fing das Bild in ihr sich zu verändern an. Und mit einemmal ergriff sie Wärme und Geborgenheit und sanft glitt sie in den Schlaf.

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Hallo liebe Innad! :hallo:
Hab heute deine Geschichte entdeckt und sie jetzt in einem Rutsch durchgelesen. Sie hat mich so sehr gefesselt, dass ich jetzt auch noch schnell einen Kommentar hinterlassen möchte.
Eileen tut mir wahnsinnig leid. :argh: Da hat sie schon so viele Probleme mit dem Betrug ihres Mannes (&%/"$!&$/# :mad:), der bevorstehenden Scheidung und natürlich den damit verbunden finanziellen Schwierigkeiten und dann kommt auch noch ein Kind dazu, was sie sich im Grunde genommen in ihrer Lage gar nicht "leisten" kann. Aber Babys kommen ja immer zu den ungünstigsten Zeitpunkten und sind dann meist ein Lichtblick in der doch so düster wirkenden Zukunft. :nick:
Ich hoffe inständig, dass Eileen ihr Glück noch findet und vielleicht beinhaltet dieses "Glück" ja auch einen gutaussehenden blauäugigen Arzt. =)
Über Marcel könnte ich jetzt auch noch ein ganzes Kapitel schreiben, aber ich glaub das lasse ich lieber, aufgrund der vielen Schimpfwörter, die dann wohl oder übel auftauchen würden. :lol:
Deinen Schreibstil und die Wahl deiner Bilder finde ich besonders gelungen. Die ganze Art, wie du schreibst erinnert mich auch teilweise an meine Lieblingsautorin, weshalb ich deine Geschichte vermutlich auch geradezu verschlungen habe. =)
Ich freue mich auf eine Fortsetzung, mach weiter so!

Liebe Grüße, Sumi! :hallo:
 
@Sumi-Shuu: Freut mich, dass Du dabei bist, auch wenn es schleichend vorangeht ;) Ich poste jetzt aber mal eine ganze Ladung Kapitel auf einen wutsch.


36.

Müde ließ Eileen sich auf ihr Bett fallen.
Es war ihr erster Arbeitstag gewesen, und er hatte sie mehr gefordert als sie es sich vorgestellt hatte. Vermutlich hatten die Ärzte recht gehabt, noch eine Woche mehr zum Erholen wäre ihr gut bekommen. Aber angesichts ihrer ohnehin schon so schwierigen Situation war es wohl nicht empfehlenswert, noch mehr zu fehlen.



Sie hatte das Gespräch mit Herrn Kuhrmaier hinter sich gebracht, auch wenn es nicht einfach gewesen war.
Zuerst hatte sie ihm nur still gegenüber gesessen und nicht recht gewusst, wie sie ihm die Tatsache, dass sie erneut schwanger war, beibringen sollte.
Doch dann hatte sie einfach zu sprechen angefangen, und er war verständnisvoller gewesen als sie vermutet hatte.
Offenbar tat sie ihm leid, als nun bald alleinerziehende und verlassene Mutter.
Aber er war eben auch Geschäftsmann und hatte ihr klar gemacht, dass er keine weiteren Fehlzeiten mehr tolerieren konnte.



Das war Eileen klar, denn immerhin war sie neben Lene die einzige Mitarbeiterin der kleinen Firma – mal abgesehen von einigen Vertriebsleuten im Außendienst, die meist von zu Hause arbeiteten und nur zu generellen Besprechungen in der Firma auftauchten.
Das bedeutete, dass Lene alle Arbeit übernehmen musste, wenn Eileen fehlte. Und wenn Lene ausfiel, ob nun aufgrund von Urlaub oder Krankheit, musste sie vollkommen einsatzfähig sein. Sonst stand der Betrieb.
Natürlich war sie sich auch darüber bewusst, dass ihr Chef sie – selbst wenn er es übers Herz gebracht hätte – während der Schwangerschaft nur schwer kündigen können würde. Aber schließlich musste sie auch darüber hinaus denken und sich die Arbeit für die Zukunft erhalten. Als alleinerziehende Mutter mit einem Baby würde sie auf dem Arbeitsmarkt – erst recht nach einer Kündigung- nur schlechte Karten haben.
Eileen seufzte müde, während sie an das Gespräch zurück dachte. Herr Kuhrmaier hatte sie damit beauftragt, noch im Laufe dieser Woche eine Stellenanzeige für eine Vertretung zu schalten, die Eileen während ihrer Mutterschaftszeit ersetzen würde.



Natürlich hatte er auch wissen wollen, wie lange Eileen im Erziehungsurlaub zu bleiben plante. Doch Eileen hatte ihm noch nicht antworten können. Sie war sich selbst noch nicht im Klaren darüber, wie es weitergehen sollte.
Das Wochenende hatte sie dazu genutzt, sich über genau jene Fragen intensive Gedanken zu machen. Aber es war alles so furchtbar vertrackt und kompliziert!
Eigentlich durfte sie noch nicht einmal während der Mutterschutzzeiten zu Hause bleiben. Wie sollte sie sich nur über Wasser halten, wo ihr das Geld doch schon jetzt hinten und vorne fehlte? Natürlich würde sie Mutterschutzgeld erhalten, aber der Betrag wäre deutlich kleiner als ihr eigentliches Gehalt.
Sie wagte nicht daran zu denken, was geschehen würde, wenn sie im Laufe der Schwangerschaft aus irgendeinem Grund für eine längere Zeitspanne ausfallen sollte. Alleine dieser Gedanke übte einen derartigen Druck auf sie aus, dass sie das Gefühl hatte, einfach nur weglaufen und sich verkriechen zu wollen.
Es war einfach alles zu viel, woher sollte sie nur die Kraft nehmen, all das zu schaffen?
Sie hatte am Wochenende auch viel mit ihren Eltern gesprochen. Ihre Mutter hatte sich bereit erklärt, das Kind vorerst tagsüber zu nehmen, damit Eileen ihren Job weiterhin behalten konnte.
Aber der Gedanke daran schnürte ihr die Kehle zu. Sie wollte das kleine Würmchen nicht im Alter von sechs Wochen schon den ganzen Tag abgeben!



Eileen spürte, wie sich die Tränen in ihren Augen sammelten. Sie hatte sich das alles so anders vorgestellt und ausgemalt.
Zwei oder drei Jahre mindestens hatte sie zu Hause bleiben und das Kind aufwachsen sehen wollen. Das wäre auch gar kein Problem gewesen, denn Marcels Gehalt hätte ausgereicht, um alle Notwendigkeiten zu decken. Natürlich hätten sie sich einschränken müssen, aber mit dem zusätzlichen Kindergeld wäre das schon gegangen.
Nun ja, man hätte vielleicht nicht mehr so oft in Urlaub fahren und so großzügig in der Erfüllung einiger Wünsche sein können, sicherlich.
Aber um die Notwendigkeiten des alltäglichen Lebens hätten beide sich mit Sicherheit keinerlei Gedanken machen müssen.
Und jetzt?
Nun wuchs ihr Kind in ihrem Bauch heran, und sie musste sich schon jetzt Gedanken darüber machen, ab wann sie es abgeben und seine Erziehung mit all den kleinen und großen wertvollen Momenten anderen überlassen müsste.
Sie hatte sich bereits erkundigt, es gab in der Nähe eine Kindertagesstätte, welche bereits Kinder ab sechs Monaten betreute.
Doch hier drehte sich ihr der Magen noch viel mehr um – nein, das war nicht ihre Vorstellung von der Mutterschaft, die sie sich gewünscht hatte.




Nun liefen die Tränen doch in Strömen über ihr Gesicht und erschöpft wischte sie sich mit dem Handrücken darüber.
Natürlich war Marcel verpflichtet, sich am Unterhalt zu beteiligen. Aber um zu sehen und planen zu können, inwieweit er diesen Pflichten nachkommen würde, stand Eileen erst einmal noch das Geständnis, überhaupt schwanger zu sein, bevor.
Sie konnte sich schon ausmalen, dass Marcel erst einmal die Vaterschaft anzweifeln würde. Natürlich war klar belegbar, dass er der Vater war – alleine schon, weil die Schwangerschaft definitiv noch während ihrer Ehe entstanden war.
Dennoch traute Eileen ihm inzwischen alles zu.
Was wenn er auf einen Vaterschaftstest bestehen würde?




Dieser war soweit sie wusste erst nach der Geburt möglich, zumindest wenn er gefahrenfrei ablaufen sollte. Und bis das ganze vor Gericht ausgefochten sein würde, musste sie sich im Zweifelsfalle alleine über Wasser halten.
Eileen seufzte schwer. Sie kannte sich mit alldem nicht aus – woher, wieso auch?
Noch vor zwei Monaten hatte es kaum ferner liegende Gedanken gegeben.
Klar war jedenfalls, dass sie sich nicht festlegen konnte, bevor sie nicht mit Marcel gesprochen hatte. Und schließlich hatte ihr die Anwältin auch dringend dazu geraten, ihn nicht im Dunkeln über seine Vaterschaft zu lassen.
Eileen schluckte hart, sie überlief es bei dem Gedanken, sich jetzt mit Marcel konfrontieren zu müssen.
Sie hatte es nicht einmal geschafft, seine Anrufe entgegen zu nehmen. Seit seinem Unfall versuchte er fast täglich sie zu erreichen.
Schon im Krankenhaus hatte er nach ihr gefragt, aber natürlich war sie nicht in der Verfassung gewesen, ihn zu sehen und war ohne noch einmal in das nur zwei Zimmer neben ihrem befindlichen Krankenzimmer zu schauen, nach Haus gegangen
Seitdem rief er fast täglich an; sie sah es an der Nummernanzeige, erst heute hatte er auch etwas auf den Anrufbeantworter gesprochen.




Sie wusste nicht, was er wollte – er hatte sie heute Morgen nur informiert, dass er am Mittwoch- also übermorgen – entlassen werden würde. Offenbar hatte die schwere Gehirnerschütterung, die er sich zugezogen hatte, ihn doch länger in der Klinik gefesselt als zuerst angenommen. Im Zuge dieser Benachrichtigung hatte er sogar die Telefonnummer seiner neuen Freundin hinterlassen, denn dort war er ab Mittwoch erreichbar.
Hatte ihn sein Unfall zum Nachdenken gebracht, hatte er sich vielleicht doch um sie gesorgt oder gar Schuldgefühle entwickelt, weil die Situation in der Klinik an jenem Abend derart unglücklich verlaufen war, dass es Eileen förmlich den Boden unter den Füßen weggezogen hatte?
Aber wenn sie an ihren ersten Zusammenbruch nur kurz nach ihrer Trennung und seiner gleichgültigen Reaktion daraufhin zurück dachte, schien diese Variante für sie auszufallen.Obwohl sie bei Marcel überhaupt nichts mehr vermuten konnte oder wollte.
Eileen stand auf und sah zum Fenster hinaus. Draußen regnete es; es war ein kalter Regen, der sicherlich bald eine Eisfläche auf der Straße bilden würde.




Sie dachte einen Moment daran, dass diese Wetterverhältnisse zum Glück nicht schon letzte Woche bestanden hatten, als Marcel seinen Unfall hatte. Bestimmt wäre dieser dann nicht so glimpflich ausgegangen.
Bei diesem Gedanken biss sie sich auf die Lippen. War sie nicht vielleicht genauso wie er, gleichgültig gegenüber der Tatsache, dass er einen nicht gerade ungefährlichen Unfall gehabt hatte und immerhin etliche Tage in der Klinik hatte verbringen müssen?
Früher wäre sie vor Sorge fast vergangen und nun – sie seufzte und drehte der Scheibe den Rücken zu, während sie sich aus den Kleidern schälte.
Erleichtert seufzte sie auf, als sie die enge Jeans ausziehen konnte, schlüpfte in ihren Schlafanzug und schaute an sich herunter. Ihr Bauch begann sich langsam deutlich nach vorne zu wölben.
Nun ja – sie hatte wohl auch eine gute „Ausrede“ für ihre fehlende Anteilnahme an Marcels Blessuren. Aber diesen Grund kannte er ja nicht, und vielleicht wunderte er sich, wieso sie sich nicht meldete oder ihm wenigstens gute Besserung wünschte?




Immerhin hatten sie so viele Jahre miteinander verbracht, da war man sich nicht gleichgültig – egal, wie man es drehen und wenden mochte.
Und schon war sie wieder am Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Sie musste es ihm sagen.
Nur wann. Und wie?
Also verließ sie das Schlafzimmer und öffnete zum ersten Mal seit Wochen wieder die Tür zum Arbeitszimmer, das immer noch so furchtbar leer da stand und auf irgendeine Weise wie ein Raum wirkte, dem man das Leben entzogen und den man genauso verlassen und aussortiert hatte wie Eileen sich fühlte.




Sie schob entschlossen den kleinen Tisch, den Marcel noch übrig gelassen hatte, an die Wand und schloss das darauf befindliche Notebook am Strom an.
Dann räumte sie den wenigen Plunder, den er zurückgelassen hatte, zusammen und stellte ihn an die Seite. Sie betrachtete den Raum unzufrieden. Immer noch zu leer, viel zu leer.
Rasch lief sie die Treppe nach unten und einige Minuten später hatte sie die einen der alten Nachttische, die sie bereits zum Aussortieren im Hauswirtschaftsraum deponiert hatte, nach oben getragen – sie waren ja leicht – und neben den kleinen Tisch gestellt.
Die Kombination wirkte nun zwar recht seltsam, aber mit einer bisher nicht gebrauchten kleinen Lampe geschmückt und einigen Büchern auf den Nachttischen sah der Raum nun zumindest wieder halbwegs bewohnt aus. Ein bisher ungenutzter Stuhl aus dem Flur vervollständigte das Bild.
Eileen sah sich um, und beschloss, am nächsten Tag einige Bilder aufzuhängen und noch ein oder zwei Pflanzen zu kaufen.




Eileen nahm auf dem Korbstuhl Platz und machte das Notebook an. Sie musste sich unbedingt ein paar Umstandshosen im Internet bestellen. Wenn sie in den engen Jeans noch länger zur Arbeit gehen musste, würde sie vermutlich irgendwann wegen Sauerstoffmangel umkippen oder das Baby würde nicht mehr weiterwachsen aus Angst vor der Enge.
Als sie die Hosen bestellt hatte, überkam sie ein seltsames Gefühl. Irgendwie war es nun noch einmal realer geworden – sie hatte sich Umstandskleider bestellt. Sie war schwanger.
So oft ihr dieser Gedanke in den letzten Tagen auch durch den Kopf gegangen war, so sehr ihr Verstand ihn auch zu begreifen suchte – irgendwie war es immer noch wie ein verrückter Traum.
Doch jetzt, da sie die Bestellbestätigung auf ihrem Display aufblinken sah, wurde ihr noch einmal bewusst, dass sie bald ein Kind bekommen würde.
Ein Kind von Marcel, den sie nicht mehr liebte. Der sie nicht mehr liebte.
Sie schluckte und schlang die Arme um sich. Dann stand sie auf und griff nach dem auf dem einzigen verbleibenden Möbelstück abgestellten Telefon und wählte entschlossen.




Es tutete ein oder zweimal, dann meldete sich eine Frauenstimme: „Hallo, hier Station Vier, Schwester Judith am Apparat.“
Eileen schluckte einen Moment und spielte mit dem Gedanken, wieder aufzulegen.
Dann sagte sie jedoch mit fester Stimme: „Hier spricht Eileen Viersen. Ich würde gerne meinen Mann sprechen.“




37.


Vorsichtig klopfte Eileen an die schlichte Krankenhaustüre.
Sie hatte lange hin und her überlegt, es eine gute Idee war, das Gespräch hier zu führen. Zum einen war Marcel immerhin noch angeschlagen, und möglicherweise brauchte er noch ein paar Tage Ruhe.




Und ein Krankenhaus war für ein Gespräch dieser Art eigentlich nicht der rechte Ort. Aber was war dann der „rechte Ort“? Ein Cafe, ihr Wohnzimmer oder gar seine „neue Bleibe“? Es erschien alles deplatziert und nicht richtig. Vermutlich weil alleine das Gespräch schon derart schwierig und deplatziert war, dass es völlig gleich war, wo es stattfinden würde.
Letztlich, so dachte sich Eileen, während von innen ein „Herein!“ zu hören war, mochte es vielleicht gar nicht schlecht sein, die Sache hier zu klären.
So konnte sie den Raum einfach verlassen, wenn es ihr zu anstrengend oder widersinnig wurde. Und immerhin war ein Krankenhaus ein doch recht öffentlicher Ort, so dass es wohl kaum zu lautstarken oder emotionalen Aussetzern kommen würde.
Weder bei ihm, noch bei ihr.
Zudem fühlte sich Eileen hier auf irgendeine Art und Weise sicher.
Sie wusste nicht wieso – vielleicht weil die nette Gynäkologin nur einen Stock weiter unten ihr Behandlungszimmer hatte. Denn insgeheim machte sie sich schon etwas Sorgen, dass die doch recht aufreibende Auseinandersetzung ihr und dem Baby vielleicht schaden könnte.
Je mehr sie begriff und akzeptierte, schwanger zu sein, desto mehr Ängste um das Kind stiegen in ihr auf. Sie war erst in der letzten Nacht dreimal zur Toilette gerannt, in der festen Überzeugung, Blut zu verlieren. Aber immer hatte es sich nur als ein Schreckgespenst erwiesen und sie war halbwegs beruhigt wieder eingeschlafen.
Die Erinnerung an jenen Tag im Februar schien doch noch tiefer zu sitzen als sie dachte. Wie eine Realität von jetzt auf gleich zerplatzen konnte….
Eileen seufzte, schüttelte die Gedanken daran ab und öffnete die Türe.




Draußen war es schon wieder dunkel geworden, und das Krankenzimmer wirkte in dem kalten Licht der Leuchtstoffröhren nicht gerade anheimelnd. Eileen musste feststellen, dass sie Marcel nicht darum beneidete, fast eine Woche hier verbracht haben zu müssen.
Dieser saß derweil auf dem Bett und sah sie an, als sie das Zimmer betrat.
„Das ist aber nett, dass du mich auch mal besuchen kommst!“
Sie versuchte, den nicht zu leugnenden Unterton leichten Vorwurfs in seiner Stimme zu ignorieren.
„Hallo“, sagte sie schlicht, ohne auf seine Begrüßung einzugehen. „Wie geht es dir?“
Marcel zuckte mit den Achseln. „Ganz gut, der Kopf tut mir noch die meiste Zeit des Tages ein bisschen weh. Aber es ist schon viel besser.“
„Wieso haben sie dich so lange hier behalten?“, fragte Eileen und musterte ihn. Er stand auf und folgte ihr um das Bett herum.
„Eigentlich sollte ich schon am Wochenende entlassen werden“, erwiderte er. „Aber ich hatte Freitagabend Sehstörungen, das hat ihnen wohl nicht so ganz gefallen. Sie wollten noch mal ein MRT machen, aber das ging erst gestern.“




„Und? Es ist doch alles in Ordnung?“, fragte Eileen, diesmal mit echter Anteilnahme.
Er nickte. „Ja, schon. Die Gehirnerschütterung war wohl doch etwas schwerer als sie anfangs annahmen, aber es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme gewesen. Sie wollen morgen noch einmal ein MRT zur Kontrolle machen, aber es ist nicht zu erwarten, dass sich am Befund was verändert hat. Nur nervig, dass ich deswegen die ganze Zeit hier bleiben musste. Ist nicht gerade gemütlich.“
Er sah sich im Zimmer um. Eileen nickte. „Stimmt“, erwiderte sie schlicht und starrte dann auf ihre Fußspitzen.
„Ich hatte gehofft, du meldest dich früher“, sagte Marcel nach einer Weile des Schweigens und ließ sich wieder auf der Bettkante nieder, während Eileen ihm den Rücken zudrehte und zum Fenster hinaussah.
„Wieso?“, erwiderte sie bissig. „Um mit dir über deine Hausverkaufpläne zu sprechen?“
Dann atmete sie tief ein und rief sich selbst zur Ordnung. Sie trug sein Kind unter dem Herzen, sie musste sich zusammenreißen und versuchen, in irgendeiner Form einen Neuanfang zu wagen. Wie auch immer der aussehen mochte!




Marcel runzelte die Stirn.
„Nein, nicht deswegen – ich dachte… hast du dich denn gar nicht gesorgt?“
Eileen schluckte und fühlte widersprüchliche Gefühle in sich aufsteigen – zum einen Empörung über das, was er da für sich beanspruchte. Auf der anderen Seite aber auch ein schlechtes Gewissen – ein Teil von ihm hatte ja nicht ganz unrecht. Dennoch war er nicht in der Position, diese Frage zu stellen.
„Doch, aber man sagte mir ja, dass es dir gut geht. Außerdem…“, sie versuchte, ihre Stimme ruhig und nicht allzu aggressiv klingen zu lassen… ,“ bin ich wohl nicht mehr diejenige, die sich um dich sorgen muss. Oder?“
Marcel seufzte und sah sie lange an. „Du hast recht, tut mir leid“, sagte er dann zu ihrem Erstaunen sanft. „War eine blöde Situation für dich letzte Woche. Es tut mir leid, ich war nicht richtig da und dachte im ersten Moment nur daran, dass man Bettina Bescheid geben muss, denn sie hat auf mich gewartet und war schon in Sorge.“
Eileen erwiderte nichts und starrte zum Fenster heraus, fast als habe sie seine Worte gar nicht gehört.



„Ich habe im ersten Moment gar nicht begriffen, dass du schon da warst. Sonst hätte ich… das irgendwie anders ausgedrückt oder versucht, anders zu regeln.“
Eileen zuckte mit den Schultern und sagte scheinbar gleichmütig: „Es ist nur natürlich, dass du deine Freundin an deiner Seite haben wolltest. Es war von mir unsinnig, herzukommen – ich hätte der Schwester schon bei ihrem Anruf sagen müssen, dass sie sich nicht mehr an mich zu wenden hat.“
Marcel sah sie einen Moment verwirrt an und antwortete dann: „Aber das ist doch Unsinn, Eileen. Wir sind immer noch verheiratet!“
„Ja… noch…“, sagte sie leise, so leise dass er es kaum gehört haben konnte. Dann sah sie ihn fest an und sagte: „Sag mal, sind wir alleine?“
Marcel nickte. „Ja, so wie du es dir gewünscht hast. Bettina kommt heute nicht mehr hierher, sie war heute Mittag schon da.“
Eileen seufzte erleichtert auf, es wäre sehr viel schwieriger gewesen, wenn die „Neue“ jeden Moment zur Tür hätte herein kommen können.
„Gut, vielen Dank“, sagte sie und nickte. „Ich habe etwas mit dir zu besprechen.“
Marcel seufzte tief. „Eileen – lass uns diesen ganzen Trennungsmist mal für eine Weile vergessen. Mir brummt der Kopf ohnehin schon. Ich dachte, wir könnte heute einfach nur… reden und… du könntest einfach bei mir sein.“ Er stand auf und ging einige Schritte auf sie zu.
Eileen sah ihn irritiert an. „Was meinst du damit?“




Marcel zuckte mit den Achseln. „Ich weiß nicht.“ Dann schwieg er.
Eileen schüttelte den Kopf, als könne sie die Verwirrung über sein Gerede damit abschütteln und sagte dann: „Es geht nicht um die Trennung. Jedenfalls… nicht direkt. Es ist etwas anderes. Es tut mir leid, dass es dir noch nicht wieder gut geht, aber… das ganze duldet keinen Aufschub. Wir müssen jetzt reden.“
Er sah sie fragend an. „Worum geht es dann?“
Sie lehnte sich zurück und sog die Luft tief ein. Wie nur anfangen?
„Ich… weißt du… hast du mitbekommen, was mit mir letzte Woche abends war?“
Marcel nickte. „Ja – was heißt, nein… nicht direkt. Ich weiß, dass es dir nicht gut ging und du auch eine Nacht lang hier warst. Ich hab mir auch schon Sorgen gemacht, aber du bist ja nicht ans Telefon und…“
„Ist schon gut, Marcel“, unterbrach sie ihn schnell. „Es war nett, dass du dich gesorgt hast und angerufen hast, aber ich war in den letzten Tagen… sehr…“, sie dachte einen Moment nach. „Sehr, sehr beschäftigt. Aber der Grund, wieso es mir nicht gut ging, ist auch der Grund, weshalb wir reden müssen.“
Marcel sah sie erschrocken an. „Meine Güte, Eileen, du machst einem ja Angst. Bist du etwa krank? Ist etwas passiert?“
Eileen schluckte. „Nicht direkt. Es …“
Sie brach ab und rieb sich über die Stirn. Dann fasste sie sich wieder und sagte: „Marcel, ich… denke, dass das, was ich dir jetzt sage, erst einmal so wirken wird, als könnte es nicht sein. Aber glaub mir, es ist die Wahrheit, ich kann es selbst kaum fassen.“




Marcel stand nun auf und trat einen Schritt auf sie zu.
„Eileen – was ist denn los?“
„Marcel – ich… ich bin schwanger. Von dir.“
Schweigen. Stille. Nur das Pochen ihres eigenen Herzens war noch zu hören, und zwar so laut, dass sie nicht sicher war, ob er es nicht auch hören konnte.
Einer der Stühle quietschte, als Marcel sich darauf fallen ließ.
Sie drehte sich um und musterte ihn. Er saß einfach nur da, starrte in die Luft und sagte – nichts.




„Es klingt sicher nicht einleuchtend für dich“, ergriff sie darum wieder das Wort. „Und du denkst vermutlich sogar, dass es nicht von dir sein kann. Aber ich… bin schon im vierten Monat.“ Sie deutete auf ihren Bauch und er folgte mit dem Blick. Seine Augen weiteten sich, als beginne er erst jetzt langsam zu begreifen, was sie ihm sagen wollte.




„Ich… denke, es ist kurz vor der Trennung passiert. Du kamst vom Spiel gegen Wachtburg und… naja, vielleicht erinnerst du dich. Ich habe es die ganze Zeit selbst nicht gewusst, sonst hätte ich es dir früher gesagt. Ich… habe meine Menstruation bekommen gehabt und… durch die Trennung und den ganzen Stress… hab ich es einfach nicht bemerkt. Bis letzte Woche.“
Sie seufzte. „Die Ärzte haben es nur durch meinen Zusammenbruch herausgefunden. Sonst wüsste ich es vermutlich immer noch nicht.“ Sie grinste hilfos. „Naja, ich meine… natürlich sieht man es langsam und… aber bis vorige Woche dachte ich einfach, ich hätte nur etwas zugelegt…“
Marcel starrte sie an.
„Bist… du dir denn ganz sicher?“, fragte er langsam, aber sie wusste, dass er die Frage nicht ernst meinte und sie nur stellte, um irgendetwas zu sagen.
Darum nickte sie einfach nur, setzte sich neben ihn und sah ihn an.
Plötzlich empfand sie fast Mitleid für ihn. Er saß einfach nur da und schien völlig vor den Kopf gestoßen zu sein. Unfähig, etwas zu sagen oder sich zu bewegen, wie in Stein gegossen saß er da und starrte ins Leere. Es vergingen Minuten, ohne dass beide etwas sagten. Sie fühlten sich fast wie Stunden an.




„Marcel?“, fragte sie nach einer kleinen Weile der Stille vorsichtig.
„Ich… Marcel, bitte sag doch was. Ich… hoffe, du glaubst mir. Ich“, sie befeuchtete ihre trockenen Lippe mit der Zunge und sortierte ihre Gedanken. „Wenn du möchtest, kannst du oben in der Gynäkologie nachfragen – der Geburtstermin ist festgelegt, die Empfängnis war definitiv noch während wir zusammen waren und… du weißt doch, dass wir nicht verhütet haben, Marcel.“
Sie sah ihn an, doch er starrte immer noch ins Leere.




Dann begann er plötzlich zu lachen, immer lauter und lauter.
Entsetzt sah Eileen ihn an und wich ein Stück zurück. Hatte er jetzt den Verstand verloren? War der Schlag auf den Kopf doch heftiger gewesen als man gedacht hatte?
Er wurde ihr fast unheimlich.
„Marcel… was bitte ist daran so komisch?“, rief sie aus.
Er sah sie an, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. Dann sagte er langsam: „Irgendwie ist unser Timing ziemlich miserabel, was?“
Eileen wusste nicht, was sie darauf sagen sollte und zuckte mit den Achseln.
Marcel starrte zum Fenster hinaus und schien eine Weile nachzudenken. Dann drehte er sich zu ihr und sagte langsam: „Das mischt die Karten dann wohl noch mal ganz neu. Oder was denkst du?“
Sie schluckte. „Ja – schon…“, sagte sie unsicher.




Marcel nickte. „Und jetzt?“, fragte er dann. „Wie soll es weitergehen?“
Eileen war verwirrt, stand auf und sah wieder zum Fenster hinaus, um ihre Gedanken zu sortieren. Sie hatte erwartete, ihn verärgert zu sehen. Sie hatte sich auf Schuldzuweisungen und Vorwürfe eingestellt oder auf die völlige Ignoranz der Situation. Aber nicht darauf, dass Marcel sich sichtlich getroffen fühlte und sie fragte, wie es nun weitergehen sollte.
„Ich… sag du es mir“, sagte sie darum nur vorsichtig.
Marcel atmete tief durch. „Ich… weiß es nicht.“ Er sah sie ernst an und Eileen fühlte, wie sich ihr Herz zusammenzog, als sie in ihm nach langer Zeit wieder den Mann erkannte, den sie jahrelang geliebt hatte.
Marcel betrachtete ihren Bauch und sagte dann langsam: „Weißt du schon, was es wird?“
Eileen sah ihn überrascht an, und er lächelte zaghaft. „Naja… ich bin schließlich der Vater, oder?“




Sie nickte, völlig überwältigt von den Gefühlen, die in ihr aufstiegen.
„Ja… ich meine… nein… ich meine“, stammelte sie verwirrt und versuchte sich zu fangen. „Ich meine, ich weiß es noch nicht. Es ist noch zu früh dafür.“
Sie sah ihn an. „Marcel… ich… verstehe dich gerade nicht ganz…“
Marcel seufzte. „Eileen, das war jetzt eine ganz schöne Ankündigung. Ich verstehe mich gerade selbst nicht.“
Er stand auf und sah ihren Bauch erneut an. „Darf ich… ihn mal berühren?“
Sie schluckte und wich ein Stück zurück. „Ich… bin nicht sicher“, sagte sie dann und sah Marcel ernst an. „Marcel… es… ist nicht so, dass hierdurch alles, was gewesen ist, ungeschehen gemacht werden kann.“




Marcel nickte. „Ja- mag sein. Aber…“, er wies auf ihren Bauch und ließ sich wieder aufs Bett fallen. „Auch das ist nicht ungeschehen zu machen. Und es ist unseres. Daran lässt sich wohl nichts rütteln, oder?“
Eileen schüttelte den Kopf. „Nein… nein, das nicht.“
Marcel nickte und sah zum Fenster hinaus. Er wirkte plötzlich traurig. „Noch vor einem halben Jahr hättest du dafür alles gegeben.“
Eileen schluckte schwer und fühlte sich plötzlich schuldig. Marcel sah sie sanft an.
In diesem Moment klingelte sein Handy. Eileen warf einen Blick darauf und Marcel folgte ihm. Auf dem Display blinkte „Bettina“ auf.
Eileens Blick, der eben noch weich gewesen war, verhärtete sich. Und auch Marcel straffte plötzlich den Rücken, nahm das Handy und- drückte den Anruf entschlossen weg.
Eileen sah ihn an und sagte dann langsam: „Ja, Marcel. Hätte ich. Aber… damals hast du dich schon anders entschieden gehabt.“ Sie wies zum Handy und drehte ihm dann wieder den Rücken zu.
Marcel schluckte.




„Und diese Entscheidung ist nun einmal gefallen. Du hast sie gefällt- für uns beide. Und, wie wir jetzt wissen, auch für uns drei“, sprach Eileen nach einer Weile weiter.
Sie berührte ihren Bauch. Marcel sah sie mit großen Augen an.
„Eileen…“, sagte er langsam. „Ich… wusste ja nicht.“
„Ja… vielleicht war das ganz gut so“, sagte sie. „So hast du dich so entschieden, wie es deinen Gefühlen entsprach.“
Marcel schüttelte den Kopf. „Eileen – so einfach können wir es uns nicht machen.“
Sie sah ihn an.
„Was meinst du damit?“
Er stand auf und griff nach ihrer Hand. Aus irgendeinem Grund entzog sie ihm diese nicht.




„Ich denke, dass wir dem Kind schuldig sind, unsere Ehe noch einmal zu überdenken.“
„Das bedeutet…?“
„Dass wir uns noch eine Chance geben sollten, Eileen“. Er sah sie fest an. „Lass es uns noch einmal versuchen. Lass uns neu anfangen, Eileen.“




 
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