Wege der Liebe
Wege der Liebe
-SOPHIE-
„Bis nachher, mein Engel!“
Sophie gab ihrer Tochter Jenny einen Kuss, den Jenny schnell erwiderte und schon verschwand sie bei ihren neuen Freundinnen und begann zu spielen. Sophie musste lächeln. Noch vor wenigen Wochen war es jeden Tag aufs Neue ein Krampf gewesen, Jenny das Kindergartenleben schmackhaft zu machen und das weinende und schreiende Mädchen zu ignorieren, wenn es sich, den Knöchel umkrallend, Richtung Ausgang ziehen ließ. Doch diese Tage waren vorbei, Jenny hatte den neuen Kindergarten akzeptiert und dort ein paar Freunde gefunden, sodass sie die Abwesenheit von Mutter Sophie gar nicht mehr zu bemerken schien.
Sophie fuhr nach Hause an diesem Freitagmorgen und öffnete die Haustür. Der Geruch neuer Möbel und Farbe drang in ihre Nase und sie legte die Schlüssel auf einen Stapel Umzugskartons, den sie noch immer nicht ausgeräumt hatte. Seufzend zog sie ihre Jacke aus, hängte sie an die neue Garderobe und machte sich in der Küche einen Kaffee ohne Milch oder Zucker.
„Schwarz wie meine Stimmung.“, murmelte sie und ließ sich auf die Couch fallen.
Wie hatte es nur so weit kommen können?
Gerade noch hatte sie ihre Hochzeit mit Michael gefeiert und sich ein Jahr später auf die Geburt von Jenny vorbereitet – und nun war ihr Leben ein Scherbenhaufen, ihre Scheidung stand an und Michael war das Sorgerecht entzogen worden. Der Prozess steckte Sophie noch immer in den Knochen. Wie zermürbt Michael ausgesehen hatte mit seinen Augenringen und der geduckten Haltung. Irgendwie tat er ihr ja leid, aber den Prozess hatte er sich selbst zuzuschreiben.
„Wer eine Gefahr für das Wohl seines Kindes darstellt, darf das Sorgerecht nicht ausüben.“, wiederholte Sophie ihre Anwältin. Sie blickte auf die Uhr. In einer Stunde hatte sie ihren Termin bei Dr. Farmer-Hohlbach, dem Psychologen ihres Vertrauens. In drei Zügen leerte Sophie ihre Kaffeetasse und stand auf. Sie nahm eine Dusche, fönte sich die Haare und fuhr pünktlich um viertel vor neun los.
Eine Stunde lang sprach sie mit Dr. Farmer-Hohlbach über das Vergangene, wie Michael die ganze Familie belogen hatte, über seine Spielsucht, seine Aggressionen, sein Trinkverhalten. Als die Sitzung beendet war, fühlte sich Sophie leer und müde, also begab sie sich zurück in die Wohnung und schlief zwei Stunden. Anschließend erledigte sie das Wichtigste im Haushalt und fuhr wieder zum Kindergarten, um Jenny abzuholen.
Als sie in den Gemeinschaftsraum kam, in dem sich auch die Erzieherinnen befanden, wurde sie mit Staunen begrüßt.
„Frau Meier, was machen Sie denn hier?“ fragte eine der Erzieherinnen, deren Namen sich Sophie nie merken konnte.
„Jenny wurde schon abgeholt.“
-MICHAEL-
Es war alles viel leichter gegangen, als Michael es sich vorgestellt hatte. Jenny hielt seine Hand ganz fest umklammert und schaute ihn unentwegt an, stets mit einem seligen Lächeln auf den Lippen. Es waren bestimmt schon drei oder vier Monate, die sie sich nicht gesehen hatten, seit Sophie mit ihr weggezogen war, für so ein Kind war das sicherlich eine Ewigkeit.
Er klingelte und es dauerte ein wenig, bis er Bewegungen hinter der Tür wahrnahm. Unruhig sah Michael sich um, ob man ihn beobachtete. Doch dies schien nicht der Fall zu sein. Dennoch war Michael erleichtert, als endlich die Tür geöffnet wurde und Michael mit Jenny schnell eintrat.
„Omaaaa!“ kreischte Jenny im Freudentaumel und umarmte Michaels Mutter so fest es ihre kleinen Arme konnten. Gisela kamen die Tränen, als sie ihre Enkelin umarmte, aber sie starrte die ganze Zeit in Michaels Gesicht, unfähig, ihre Verwunderung und Angst zu verbergen.
„Wir wollten uns nur kurz verabschieden.“, erklärte Michael und tauschte wissende Blicke mit seiner Mutter aus. Sie schüttelte den Kopf, sah zu Jenny und strich ihr über den Kopf.
„Jenny, mein Schatz, hör mal zu. Du weißt doch noch, dass Oma immer Spielzeug für dich hat, oder? Lauf mal in das Kinderzimmer und hol der Oma mal den kleinen braunen Teddy.“ Jenny grinste, wie eigentlich immer, und rannte los. Gisela nutzte die Gelegenheit, und redet auf Michael ein.
„Du weißt, dass du das nicht darfst.“
„Ich weiß.“
„Michael, es ist verboten! So etwas nennt man Kindesentführung. Wo wollt ihr überhaupt hin?“
„Das kann ich dir nicht sagen. Bei dir werden sie zuerst nachfragen und es ist besser, wenn du nichts weißt.“
Gisela schüttelte erneut den Kopf und lief unruhig im Flur auf und ab.
„Du weißt, dass Sophie und ich uns nie leiden konnten, aber einer Mutter ihr Kind zu entziehen…“ – „Und einem Vater das Kind zu entziehen ist in Ordnung?!“ Michael hatte Mühe, gefasst zu bleiben.
„Mama, ich vermisse Jenny in jeder Sekunde des Tages. Ich vermisse ihr Lachen, ihre blonden Locken, ihre Fragen, ja sogar ihre Wutanfälle. Sophie hat mir alles genommen, was meinem Leben noch einen Wert gegeben hat. Von wegen Gefahr für das Wohlergehen! Ich könnte niemals Jenny etwas antun, und das weißt du. Sophie sollte das auch wissen.“
Michaels Mutter fasste ihn an der Hand.
„Ich weiß, mein Schatz. Aber wenn du die Therapie erfolgreich abschließt, darfst du sie sicherlich wiedersehen.“
Michael schnaubte verächtlich.
„Pah, Therapie! Ich bin doch nicht krank. Ich brauche nur einfach nicht mehr spielen gehen und den Alk nicht anrühren, dafür brauche ich keine scheiß Therapie!“
Jenny kam in diesem Moment mit dem Teddy wieder und drückte ihn ihrer Oma in die Hand, die erneut liebevoll über das Haar der Vierjährigen strich, das mit einem eleganten Zopfband festgehalten wurde. Die angespannte Stimmung war spürbar.
„Jenny, wir fahren jetzt los. Sag der Oma mal tschüss.“
Jenny sah ihren Vater traurig an.
„Will nicht gehen.“
„Bitte Jenny, wir haben noch was ganz tolles vor heute und später siehst du Oma dann wieder, in Ordnung?“ Gisela fing fast an zu weinen, denn ihr war klar, dass ihr Sohn seine Tochter belog. Jenny schien sich aber mit dieser Erklärung abzufinden.
„Ich muss aber noch Hasi holen.“, erklärte sie ihrem Vater dann und sah zu ihrer Oma. Hasi war ein altes Kuscheltier, das immer auf der Kommode im Esszimmer saß, seit Jenny nicht mehr ihren Vater sehen durfte und somit auch keinen Kontakt zu ihrer Großmutter hatte.
„Gut, hol Hasi, und dann gehen wir los.“
So schnell sie konnte rannte Jenny in das Wohnzimmer und zog das alte Kuscheltier von der Kommode. Überglücklich das Kuscheltier an sich drückend rannte sie zurück.
„Fertig!“ lachte sie und Michael musste sich beherrschen, sie nicht in den Arm zu nehmen und nie wieder loszulassen. Er wand sich zum Gehen.
„Ich melde mich irgendwann.“, sagte er zum Abschied und drückte seiner Mutter einen Kuss auf die Wange.
„Pass auf euch.“
„Du wirst uns doch nicht verraten?“
Gisela seufzte.
„Ich heiße es nicht gut, was du tust, aber ich kann dich nicht hindern.“
Michael nickte, nahm Jenny auf den Arm und verließ das Haus. Die beiden stiegen in sein Auto und Gisela sah ihnen traurig nach.
-SOPHIE-
Sophie wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, als die Erzieherin ihr berichtete, dass Jennys Vater sie heute abgeholt habe, vor einer halben Stunde etwa. Sie machte sich Vorwürfe, die Erzieherinnen im Vorfeld nicht gewarnt zu haben, dass Jenny ausschließlich von ihr und niemals von ihrem Vater abgeholt werden dürfe, aber gleichzeitig ärgerte sie sich über die ganze Belegschaft. Seit Monaten wurde Jenny immer von ihr abgeholt, warum solle plötzlich ein angeblicher Vater auftauchen? Aber Sophie hatte keine Zeit oder Nerven, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Sie ließ sich eine Beschreibung des Mannes geben, die auf Michael passte und überlegte, was sie nun tun sollte. Die Polizei informieren? Würden die überhaupt etwas unternehmen? Wie sollte sie Michael nun finden und was hatte er mit Jenny vor?
Von Panik ergriffen und krank vor Sorge rief sie zuerst bei der Polizei an und schilderte dort den Vorfall. Die zuständige Beamtin versicherte ihr, dass Hilfe bereits unterwegs war und stellte einige Fragen, die sich auch Sophie schon gestellt hatte: Ob sie eine Idee habe, wo Michael mit Jenny hingefahren sein könne, ob sie denke, Jenny sei in Gefahr, ob es Menschen gab, die Michael sehr nah standen und an die man sich wenden könne.
Sophie fiel Michaels Mutter ein, die immer bemüht war, ein inniges Verhältnis zu Michael zu halten, während sie Sophie immer ablehnend gegenüberstand. Ihre Hochzeit war ihr ein Dorn im Auge gewesen und Gisela hatte nie auch nur den Versuch gestartet, die Differenzen beiseite zu legen. Dennoch setzte Sophie ihre Hoffnungen auf sie und fuhr zu Giselas Haus, wohin sie auch die Polizei bat.
Der Besuch brachte wenig neue Erkenntnisse. Gisela war die ganze Zeit über den Tränen nahe und gestand auch, dass Michael sie gerade besucht habe mit der Kleinen, aber ihr nicht gesagt hatte, wo er mit ihr hin wolle.
„Bitte tun Sie ihm nichts, wenn Sie ihn finden.“, bat Gisela einen der Polizisten und weinte erneut. „Er ist nicht er selbst, er macht eine Therapie und dann wird alles gut, wissen Sie. Er will Jenny doch nichts tun, er will sie nur sehen…“ Ihre Stimme erstickte unter weiteren Tränen, die Sophie allerdings kalt ließen. Sie kannte Giselas Spielchen und wusste, dass sie ihr, Sophie, alles in die Schuhe schieben würde und ihr nie verzeihen würde, eine einstweilige Verfügung durchgesetzt zu haben.
Plötzlich ging ihr ein Licht auf.
„Er ist beim Flughafen!“
Wieso war sie nicht schon früher auf die offensichtlichste Lösung gekommen? Schließlich hatte seine Schwester eine Ferienwohnung in Marseille und er hatte einen Zweitschlüssel. Vermutlich würde er dort erst unterkommen und sich dann in der Nähe etwas Neues suchen. Das war der Vorteil, wenn der eigene Mann das gemeinsame Kind entführte: Man konnte sich in den Täter überaus gut hineinversetzen.
Mit lauten Sirenen fuhr Sophie im Polizeiwagen mit, um möglichst schnell zum Flughafen zu gelangen, der etwa eine halbe Autostunde entfernt lag. Unterwegs überprüfte sie mit ihrem Handy die Abflugszeiten nach Marseille und entdeckte, dass tatsächlich am heutigen Tag ein Flug nach Marseille ging und der Abflug in zwei Stunden sein sollte. Sophie steckte ihr Handy wieder in ihre Tasche und schloss die Augen. Sie versuchte, das beklemmende Gefühl in ihrer Brust zu ertragen und zu verhindern, dass sie in Panik ausbrach. Die Polizei war auf ihrer Seite und sie hatten gute Chancen, dass Michael tatsächlich mit Jenny am Flughafen war und sie hatten genug Zeit, um sie zurückzuholen. Die Zeit verging viel zu langsam und Sophies Ungeduld steigerte sich mit jeder Minute, aber dann kamen sie endlich an, parkten direkt vor dem Eingang und Sophie sprang mit drei Polizisten im Schlepptau aus dem Wagen und rannte in die Eingangshalle.
-Michael-
Nervös legte Michael seinen Personalausweis und den Kinderreisepass von Jenny auf die Vorrichtung und dankte Gott in Gedanken, dass er den Reisepass seines Kindes behalten hatte, weil Sophie vergessen hatte, ihn ihm abzunehmen. Jenny schaute sich neugierig um. Sie hatte einmal nach ihrer Mutter gefragt, aber nachdem Michael ihr versichert hatte, dass sie sie heute Abend wiedersehen würden und die beiden nun einen kleinen Vater-Tochter-Ausflug machen würden, hatte sie Ruhe gegeben und war friedlich mitgegangen.
„Bitte legen Sie Ihre Jacke und alle Metallgegenstände in diesen Kasten, auch Ihren Gürtel. Ist in diesem Rucksack ein Laptop?“ sprach ihn einer der Flughafenmitarbeiter an. Michael schüttelte den Kopf. Er legte wie aufgefordert seine Habseligkeiten in den Kasten.
„Oh, Moment bitte, da ist noch eine Flasche drin.“ Fiel ihm ein und er nahm die Flasche mit irgendeinem süßen Milchmix den sich Jenny vorhin gewünscht hatte aus dem Rucksack und stellte die Flasche auf den Mülleimer.
-Sophie-
Nach Luft ringend kam Sophie zum Halt. Der Flug nach Marseille ging von Gate 8 und Sophie sah gerade noch, wie Michael eine Flasche auf einen Mülleimer stellte und durch die Kontrolle gehen wollte. Jenny war bei ihm und schaute sich in der Gegend um.
„JENNY!“ schrie Sophie und ihre Stimme überschlug sich. Andere Fluggäste blieben stehen und drehten sich zu ihr um und die Polizisten machten schnell den Mann aus, der das Kind entführen wollte. Jenny blickte umher und sah Sophie dann. Freudig winkte sie und wollte zu Sophie laufen, aber Michael hielt sie zurück.
„Keinen Schritt weiter!“ rief er den Polizisten zu, nahm die leere Glasflasche vom Mülleimer und schlug damit an eine Steinsäule, sodass die untere Hälfte absplitterte. Die spitzen Enden der abgebrochenen Flasche hielt er an Jennys Hals, mit der anderen Hand umfasste er sie fest, sodass sie sich nicht wehren konnte. Jenny erschrak und schrie los, sie weinte und rief nach ihrer Mutter. Die Polizisten erstarrten vorerst, wollten sie doch das Kind nicht gefährden.
Sophie ging langsam auf Michael zu. Es erschien ihr plötzlich alles in Zeitlupe, sie nahm die fassungslosen Passanten um sich herum nicht mehr war, sondern sah nur ihr geliebtes Kind und ihren augenscheinlich verrückten Exmann.
„Michael…“
„Keinen Schritt weiter, habe ich gesagt!“ Michael war sichtlich nervös, eine dicke Ader auf seiner Stirn pulsierte. Jenny wimmerte.
„Michael, bitte, du tust niemandem einen Gefallen mit deinem Verhalten.“ Sophie ging einen weiteren Schritt auf ihn zu. Sie überlegte fieberhaft, wie sie ihre Sätze formulieren sollte.
„Michael, bitte. Sei doch vernünftig! Jenny zu entführen ist nicht nur illegal, sondern macht sie unglücklich. Sie braucht ihre Mutter.“
„Sie braucht ihren Vater und den hast du ihr genommen!“ Michael drückte das Glas ein wenig stärker an Jennys Hals. Sophies Herz raste. Jenny kniff die Augen zusammen.
„Sie braucht uns beide, du hast Recht.“, sagte Sophie nun, denn mit logischen Argumenten würde sie nicht weiterkommen.
„Sie braucht aber einen Vater, der sie nicht entführt. Einen Vater, der sie nicht bedroht und einen Vater, der niemals nach Alkohol stinkt oder sein Geld verspielt. Mit deinem jetzigen Lebensstil machst du Jenny unglücklich.“ Sophie machte einen weiteren Schritt auf Michael zu, es trennten sie nur noch wenige Meter.
Michael schien nachzudenken. Sophies Worte schienen ihn zu bewegen.
„Jenny.“, sagte er, ohne Sophie oder die Polizisten aus den Augen zu lassen. Jenny öffnete die Augen und schaute ängstlich hoch zu ihrem Vater.
„Jenny, hast du Angst vor mir?“ Michaels Augen füllten sich mit Tränen.
Jenny nickte vorsichtig, am ganzen Körper zitternd.
Michaels Auge zuckte, er umklammerte die Flasche und schien für eine kurze Zeit nicht zu wissen, wie er sich nun verhalten sollte. Tränen liefen ihm über das Gesicht. An Jenny gerichtet schluchzte er: „Jenny, mein Schatz, ich will dir nicht weh tun, du brauchst keine Angst vor mir haben. Ich will dich nur bei mir haben. Ich liebe dich doch!“
„Ich dich auch, Papi.“, flüsterte Jenny, deren Augen aber noch immer vor Angst geweitet waren.
Michael ließ die Flasche fallen, die in unzählige Stücke zersprang und lockerte den Griff um Jenny. Das Mädchen befreite sich und lief weinend zu ihrer Mutter, die sie in den Arm nahm und ganz fest drückte. Gleichzeitig lösten sich die Polizisten aus ihrer Starre und überwältigten Michael, der keinen Widerstand leistete. In Handschellen wurde er an den beiden vorbeigeführt. Ganz nah bei Sophie blieb Michael stehen. Seine Augen waren von den Tränen gerötet, er sah aus wie ein gebrochener Mensch.
„Bitte, Sophie, nimm mir nicht meine Tochter.“ Seine Stimme war tränenerstickt. Sophie drückte Jenny fest an sich und sah Michael in die Augen.
„Jenny wird dich sehen, wann immer sie will, aber nur in meiner Begleitung und nur wenn du eine Therapie machst.“
Es war das letzte Mal, das Jenny ihren Vater sah.