Kapitel 95: Kein Mitspracherecht
Ich hatte soeben beobachtet, wie mein Mann Francesco eine andere Frau, sein Assistentin Amy, geküsst hatte. Und alles deutete darauf hin, dass die beiden schon seit längerem eine Affäre hatten. Ich stand draußen auf dem Balkon des Rathauses und der kalte Abendwind zerrte an mir. Und dennoch war ich zunächst wie in Trance. Francesco setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und blättert durch einige Unterlagen. Offenbar wollte er noch weiterarbeiten. Mein Kopf hingegen war wie leergefegt. Ich wusste was ich gesehen hatte, doch das Ausmaß drang erst nach und nach zu mir durch. Francesco hatte eine Affäre. Er, mein Ehemann, hatte eine Beziehung zu einer anderen Frau. Und als mir das bewusst wurde, begann ich zu weinen. Ich stütze meinen Kopf gegen das raue Mauerwerk des Rathauses und schlug schluchzend mit geballter Faust immer wieder gegen die Wand.
Und dann erkannte ich zu meinem Entsetzen, dass ich auf dem Balkon gefangen war. Es war ein Wunder, dass ich heil hinaufgeklettert war. Runter würde ich es ganz sicher nicht in einem Stück schaffen, schon gar nicht in meiner jetzigen emotionalen Verfassung. Und langsam wurde es richtig kalt. Als blieb mir nichts anderes übrig, als an die Scheibe zu klopfen. Zunächst klopfte ich nur ganz vorsichtig. Francesco hört es nicht. Erst beim zweiten Versuch drehte er irritiert den Kopf zum Fenster.
Hastig sprang er von seinem Stuhl auf und öffnet die Balkontür. Zitternd kam ich herein. „Klaudia, um Himmels Willen, was machst du hier?“, fragte er besorgt. „Und wie bis du auf dem Balkon gekommen? Ich bin schon seit Stunden im Büro. Wie lange stehst du schon da draußen?“
Ich ging auf seine Frage nicht ein. Dazu fehlte mir die Kraft. „Du…du hast eine Affäre“, stotterte ich stattdessen. „Mit Amy. Warum, Francesco? Warum?“ Die Tränen liefen meine Wangen hinunter. Für einen kurzen Moment weitete Francesco erschrocken die Augen. Doch dieser Ausdruck verschwand schnell wieder. Ich erkannte, dass er es abstreiten, dass er mir eine Ausrede auftischen wollte. Doch das ließ ich nicht zu. Diesmal nicht!
„Lüg mich bitte nicht an, Francesco. Ich habe euch eben zusammen gesehen. Und ich habe euch schon vorher reden gehört…am Telefon. Ich habe Gespräche von Amy aufgeschnappt. Ich wusste schon lange, dass da etwas zwischen euch ist, aber ich wollte es einfach nicht wahrhaben. Ich wollte nicht glauben, dass du mich so hintergehen könntest. Aber jetzt habe ich mit eignen Augen gesehen, wie ihr euch geküsst habt. Mehr Beweise brauche ich nicht. Also warum Francesco? Warum?“
Mit jedem Wort zittert meine Stimme mehr und obwohl ich es nicht wollte, musste ich schluchzen. Francesco drehte sich von mir weg, fasst sich an den Kopf und streift nervös im Büro umher. „Was soll ich dir darauf antworten, Klaudia?“, presst er schließlich hervor. „Ja, ich habe eine Affäre mit Amy. Du hast es gesehen. Es ist wahr.“
„Aber warum?“, fragte ich erneut. Er schwieg eine ganz Weile. Dann drehte er sich langsam zu mir um und blickte mich gequält an. „Weil sie mir guttut. Weil ich sie gerne um mich habe. Sie ist witzig, intelligent. Es breitet mir Freude, wenn sie in meiner Nähe ist. Ich kann geistreiche Konversationen mir ihr führen. Ich kann mir ihr über die Arbeit sprechen. Ich…ich habe so etwas noch mit keiner anderen Frau erlebt.“
Diese Worte raubten mir den Atem. Ich hatte immer gewusst, dass zwischen mir und Francesco nie die große Liebe geherrscht hatte. Aber ich hatte geglaubt, dass wir uns auf unsere eigene, seltsame Art irgendwie doch liebten. Denn ich liebte ihn ganz sicher…aber er mich nicht. Und das hatte er ganz offensichtlich noch nie getan, wurde mir jetzt schmerzlich bewusst. „Wie lange schon?“, schluchzte ich. „Klaudia, das ist doch unwi…“ „Wie lang?!“, unterbrach ich ihn. Und schlussendlich antwortet er: „Monate. Vielleicht auch schon seit über einem Jahr. Ich kann nicht mehr genau sagen, wann aus der reinen Arbeitsbeziehung mehr geworden ist. Es war ein schleichender Prozess. Ich habe es nicht darauf ankommen lassen.“
„Du musst es beenden.“ Meine Worte sollten eine Aufforderung sein, doch sie waren nicht mehr als ein trauriges Flehen. Wieder sagte Francesco nichts und lief unruhig im Raum umher. Vor dem Kamin kam er schließlich zum Stehen. Er schwieg lange, bevor er sprach: „Nein, Klaudia, ich werde es nicht beenden. Ich werde Amy nicht aufgeben. Viel zu lange habe ich ohne diese…Gefühle gelebt. Und es war ok, als ich sie nicht kannte. Doch jetzt wo ich weiß, dass man so fühlen kann, will ich das nicht mehr aufgeben.“
Entsetzen zeichnete mein Gesicht. So sollte es nicht laufen. Er solle sich jetzt von Amy lossagen. Mir, seiner Frau, die Treue schwören. „Und was heißt das?“, fragte ich und wusste, dass mir die Antwort nicht gefallen würde. „Das heißt, dass wir so tun werden, als ob es dieses Gespräch nie gegeben hätte. Du wirst vergessen, was du gesehen hast. Wir werden nach Hause fahren und so tun, als ob nichts geschehen sei. Und wir werden beide unser Leben wie bisher leben.“
Alles in mir schrie, dass dies der falsche Weg war. Ich wusste, dass mich diese Lösung unglücklich machen würde. Auf Dauer würde ich daran zerbrechen. Ich wusste es und daher ergriff ich den einzigen Ausweg, der mir noch blieb, auch wenn er das endgültige Aus meiner Ehe bedeuten würde. „Ist es dann nicht besser, wenn wir uns trennen?“, fragte ich und kam auf ihn zu, streckte meinem Arm nach ihm aus. „Hätten wir so nicht beide die Chance, irgendwann glücklich zu werden?“ Er wich zurück, bevor ich ihn berühren konnte. „Klaudia, du weißt, dass eine Scheidung für uns als Lord und Lady von Rodaklippa nicht in Frage kommt. Für einfache Menschen wäre das eine Option, aber nicht für uns.“
„Glaubst du nicht, dass ich sonst schon längst daran gedacht hätte? Das ich dir diese ganze Situation erspart hätte, wenn Scheidung für uns eine Option wäre? Wir sind doch schon seit Jahren nicht glücklich in unserer Ehe. Ich weiß nicht einmal, ob wir es jemals waren. Aber du bist nun einmal meine Ehefrau. Wir habe und vor dem Bischof ein Versprechen gegeben. Und dieses Versprechen galt nicht nur uns beiden, sondern auch unseren Untertanen. Du bist die Mutter der nächsten Lady von Rodaklippa. Du bist die Ehefrau des derzeitigen Lords. Du hast Aufgaben und Verpflichtungen, so wie ich sie auch habe. Und diese sind wichtiger als unser persönliches Wohlbefinden. Also werden wir uns zusammenreißen. Wir werden in der Öffentlichkeit freundlich lächeln, wir werden Zuhause freundschaftlich miteinander umgehen. Aber was wir hinter verschlossenen Schlafzimmertüren machen, wird unsere Privatsache sein. Und damit meine ich nicht nur mich. Ich werde dir nicht verwehren, was ich mir herausnehme. Ich erwarte lediglich Diskretion. Und ich kann dir versprechen, dass ich immer diskret sein werde. Einen öffentlichen Skandal brauchst du nicht zu befürchten.“
Ich erkannte, dass er seine Entscheidung getroffen hatte…und dass ich kein Mitspracherecht hatte. Mein Schicksal war schon vor vielen Jahre entschieden worden, als ich mich auf diese arrangierte Ehe eingelassen hatte. Ich hatte eine Zweckehe bestellt und ich habe eine Zweckehe bekommen. Es war meiner eigenen Dummheit zuzuschreiben, dass ich geglaubt hatte, es könnte mehr als das sein. Eine Weile schwiegen wird bloß. Dann durchbrach Francesco die Stille: „Es ist schon spät. Wir sollten jetzt in unser Anwesen zurückkehren. Karlotta wundert sich sicher schon, wo wir bleiben.“
Doch ich konnte jetzt nicht gehen. Nicht mit ihm zusammen. „Lässt du mich bitte eine Weile allein?“, bat ich daher. „Ich bin ja auch mit meinem eigenen Auto hier. Wir können also ohnehin nicht gemeinsam fahren“. Francesco akzeptiert diese Erklärung. Er erkannte aber durchaus auch, dass ich jetzt Zeit brauchte, um die Geschehnisse dieses Abends sacken zu lassen. Erst als er das Büro verlassen hatte, übermannte mich die Erschöpfung und ich ließ mich müde auf dem Sofa nieder. Mein Kopf begann zu pochen und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Das einzige was ich wusste war, dass mein Leben von jetzt an nicht mehr dasselbe sein würde.