Teil 44 – Dreissig Jahre danach
«Schön, dass du gekommen bist.»
«Wenn du mich danach in Frieden lässt, ist es mir ein Abendessen wert», sagte ich und sah meine Schwester an.
Ihr Gesicht war mit den Jahren etwas gealtert, doch im Grunde sah sie noch aus wie damals. Nur ihr Stil war gänzlich ein anderer geworden. Sie war nicht mehr das Mädchen von nebenan. Sie wirkte selbstbewusst, legte offensichtlich viel wert auf ihr Äusseres und ihre Augen funkelten herausfordernd.
«Du hast mich beim letzten Mal abgewiesen. Glaubst du, ich gebe so leicht auf?»
Ich musste innerlich lachen.
Nein, du würdest nie einfach so aufgeben.
Tatsächlich war ich es gewesen, der sie hatte stehen lassen, als sie mich neulich im Restaurant aufgesucht hatte. Ich konnte gar nicht fassen, dass sie plötzlich vor mir stand. Nie hätte ich gedacht, sie überhaut jemals wieder zu sehen.
«Dieses Mal wohl nicht. Also, Lia, was willst du?»
Sie seufzte. «Warum so feindselig, Vincent? Ich habe …»
«Warum? Ich sag dir warum. Weil …», fiel ich ihr ins Wort. Doch dann fiel mir auch jemand ins Wort.
«Was darf ich Ihnen bringen?»
Etwas schüchtern stellte sich der Kellner vor uns auf. Ich nahm die Karte.
«Die Pasta mit Thunfisch für mich.»
«Sehr gerne. Was darf es für Sie sein, die Dame?»
Lia machte sich nicht die Mühe, die Karte erneut in die Hand zu nehmen.
«Die Spaghetti mit der Kräuter-Tomaten-Sauce. Sagen Sie dem Koch doch bitte, er solle etwas Knoblauch hinzuzufügen. Aber nicht zu viel, ja?»
Sie lächelte dem Kellner zu, der eifrig alles notiert hatte. Sie gab sich keine grosse Mühe, das Lächeln nicht künstlich aussehen zu lassen.
Als der Kellner das Weite suchte, nahm ich das Gespräch wieder auf. Mittlerweile war meine Neugier doch etwas geweckt worden. In den vergangenen Tagen hatte mich Lia immer wieder versucht auf dem Handy zu erreichen. Woher sie meine Nummer hatte, wusste ich nicht und so war ich ziemlich erstaunt gewesen, als ich die unbekannte Nummer zum ersten Mal angenommen hatte und Lia am anderen Ende hörte.
«Was ist so wichtig, dass du nach all den Jahren plötzlich auftauchst?»
«Ich möchte dir ein Angebot machen, Vincent.»
Ihre Augen funkelten wieder herausfordernd.
«Was kannst du mir schon anbieten?»
Sie zog einen Mundwinkel nach oben, ging auf meinen Kommentar jedoch nicht ein.
«Wie du vielleicht weisst, ist mein Mann einer der bekanntesten Investoren weit und breit.»
Ich hob gelangweilt die Schulter. «Ich weiss noch nicht einmal, wer dein Mann ist.»
«Komm schon Vincent. Spiel nicht den Harten. Soll ich dir glauben, du hättest in all den Jahren nie nach mir gesucht?»
Wieder hob ich die Schultern. «Du kannst glauben, was du willst. Ich habe tatsächlich keine Sekunde damit verschwendet, nach dir zu suchen oder zu sehen, was aus dir geworden ist.»
«Wie dem auch sei. Mein Mann und ich wollen in
dich investieren, Vincent.»
«Wie ich schon sagte, ist er Investor. Vielleicht kennst du ihn aus der Investorensendung <Im Gehege der Lamas>. Jedenfalls sind uns deine Erfolge als Koch bekannt und wir sehen grosses Potential in dir.»
Ich musste lachen und dieses Mal versuchte ich nicht, es zu verbergen.
«Was wird das hier, Lia?»
«Dein Restaurant ist täglich ausgebucht. Ein Tisch muss Wochen vorher reserviert werden. Das Shimuzu ist über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Eine Goldgrube, wenn du mich fragst.»
Ich konnte nicht fassen, was ich da gerade gehört hatte.
«Du suchst mich nach all den Jahren auf, weil du einen Zweck in mir siehst, Geld zu vermehren? Das ist …»
Ich schüttelte fassungslos den Kopf.
«Um Himmels Willen, Vincent. Nein! Ich habe mich dazu entschieden, dich aufzusuchen, weil ich unsere Differenzen ein für alle Mal ablegen will. Und weil ich Potential in dir sehen. So viel mehr, als du denkst. Mama hat schon damals gesagt, du wirst es eines Tages weit bringen …»
«Lass Mama da raus!» Ich konnte mich gerade noch so beherrschen, die Lautstärke meiner Stimme zu zügeln.
Der Kellner kam und servierte unsere Bestellung, was das Gespräch für ein paar Sekunden pausierte.
«Hier ist mein Vorschlag. Wir machen aus dir einen Star. Einen Promikoch, der in der ganzen SimNation bekannt sein wird. Du erhältst eine eigene Kochshow, wir eröffnen weitere Restaurants, die alle deinen Namen tragen werden. Du wirst das Gesicht einer der grössten Marken überhaupt.»
Ich nahm einen Schluck Eistee und hörte aufmerksam zu.
«Du wirst die Food-Trends der kommenden Jahre festlegen und Präsenz in allen Medien haben. Wir werden zusammen Hand in Hand arbeiten und aus dir das machen, was du verdienst.»
Ich setzte das Glas zurück an seinen Platz und nahm einen ersten Bissen mit der Gabel. Die Pasta mit Thunfisch war ziemlich geschmackvoll.
«Was denkst du darüber, Vincent?»
Wieder führte ich eine Gabel in meinen Mund und genoss das einfache aber geschmackvolle Gericht. Dann setzte ich die Gabel ab und sah Lia an.
«Denkst du wirklich, du kannst nach dreissig Jahren hier auftauchen und so tun, als wäre nichts gewesen? Schlimmer noch. Du kommst hier her und glaubst, dich mit einem vermeintlich verlockenden Angebot freikaufen zu können.»
«Nein, Vincent, so ist mein Angebot nicht gemeint», erwiderte sie schnell.
«
Du willst die Chance nutzen, dich von all dem Geschehenen reinwaschen zu können.»
«Nein, Vincent, bitte. Du verstehst mich falsch.»
Lia senkte ihre Stimme, in der Hoffnung, die andern Tische rundherum würden unser Gespräch nicht mitbekommen.
«Du besitzt sogar die Arroganz, mir ein solches Angebot zu machen, ohne mich zu fragen, was ich will. Es geht dir um dich. Um deinen Erfolg. Du nutzt mich als Mittel zum Zweck und verkaufst es so, als würdest du mir einen Gefallen tun. Du nutzt es, um Dinge gut zu machen, die sich nicht gut machen lassen. Du hast dich wirklich nicht verändert, seit damals. Das ist echt erbärmlich.»
Einen Augenblick lang sass mir Lia wie eingefroren gegenüber.
«Was damals passiert ist, tut mir leid. Das musst du mir glauben.»
Mein Magen rebellierte und mein Herzschlag versuchte die Wut in der Magengegend mit schnellen Herzschlägen auszugleichen.
«Ja, das glaube ich dir sogar. Wahrscheinlich ist es ein Makel in deiner Lebensgeschichte. Dennoch lässt es sich nicht wieder gutmachen. Du warst es, die mich damals mit Mama im Stich gelassen hat. Weil sie eine vor sich hinsiechende Frau und ja sowieso nicht mehr zu retten war und du an dich denken müssest, wie du damals so schön gesagt hast. Du warst von einem Tag auf den andern weg. Hast mich mit der Pflege, dem Haushalt, mit einfach allem alleine gelassen. Ich war erst sechzehn! Ich musste die Schule abbrechen, konnte jahrelang keine Ausbildung anfangen, habe mich über Jahre hinweg mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten und gleichzeitig alles getan, damit es Mama einigermassen gut gehen konnte. Du hast dich nie, kein einziges Mal erkundigt, wie es ihr geht. Wie es mir geht. Du hast nie Anteil an meinem Leben genommen, bist nicht einmal zu ihrer Beerdigung gekommen. Du hast dreissig Jahre nichts von dir hören lassen und willst jetzt mit einem Angebot in mein Leben zurückkehren, das mich einen feuchten Scheisshaufen interessiert?»
Lia blieb still und ich ass meine Pasta weiter.
Es dauerte eine ganze Weile, bis auch sie ihre Spaghetti anrührte.
«Igitt, da ist viel zu viel Knoblauch dran», sagte sie und verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse.
«Ich habe mit dir schon lange abgeschlossen, Lia. Du bist für mich eine Fremde und ich habe kein Bedürfnis, heile Familie mit dir zu spielen. Du bist vielleicht meine Schwester, aber nicht meine Familie. Das sind meine Frau und meine drei Kinder. Ich habe nicht vor, daran etwas zu ändern.»
Lia liess ihre Spaghetti stehen, während ich mein Gericht aufass.
Danach liess ich den Kellner kommen, bezahlte meinen Teil und verschwand.
Ich war nicht weitgekommen, als ich Lia hinter mir rufen hörte.
«Vincent! Warte!»
Ich drehte mich um.
«Es ist alles gesagt. Ich werde dein möglicherweise schlechtes Gewissen nicht beseitigen.»
Aus dem Nichts umarmte sie mich plötzlich. Lange und scheinbar ohne die Absicht, mich je wieder loszulassen.
Also übernahm ich das.
«Du hast recht, Vincent. Mit allem. Ich
habe ein schlechtes Gewissen. Was damals geschehen ist, wie ich mich damals verhalten habe, tut mir schrecklich leid. Aber ich kann es nicht mehr rückgängig machen, so sehr ich es mir auch wünsche.»
Ich schüttelte fast unmerklich den Kopf. «Nein, das kannst du nicht.»
«Ich würde es aber so gerne. Mir war nie egal, was aus dir geworden ist. Ich habe so viele Male einen Versuch gestartet, mit dir zu sprechen, doch fehlte mir jedes Mal der Mut.»
Darauf konnte ich nichts sagen. Ich wollte es ihr einfach nicht glauben.
Sie wurde ernst.
«Also gut, Vincent. Ich werde nicht betteln. Wenn du nicht möchtest, werde ich es akzeptieren. Ich bitte dich nur nochmals, über alles nachzudenken. Ich würde dich gerne kennenlernen und versuchen, all das Geschehene in irgendeiner Weise wieder gut zu machen. Gib mir eine Chance.»
Langsam sog ich die kühle Abendluft ein. Konnte es sein, dass sie es wirklich ernst meinte?
«Dein Neffe würde dich auch gerne kennenlernen.»
«Du hast einen Sohn?»
Sie nickte. «Ja. Sein Name ist Aaron und er hat manches Mal nach seinem Onkel gefragt.»
Ich zögerte und fühlte mich hin und her gerissen.
«Also gut», sagte ich schliesslich. «Ich denke darüber nach, aber ich verspreche nichts.»
Ein Lächeln kam über Lias Lippen, bevor sie wieder ernst wurde.
«Das ist gut. Und denk auch über das Angebot nach, ja?»
Auf dem Nachhauseweg dachte ich darüber nach. Allerdings nicht über das Angebot an sich. Ich dachte über Lia nach. Dass sie das Angebot zum Schluss nochmals erwähnen musste, sagte mehr über sie aus, als gut für sie war.
Sie war meine Schwester. Aber das war nur eine biologische Tatsache. Ich hatte keinerlei Verbindung mehr zu ihr. Im Gegenteil. Schon so viele Jahre kam ich ohne sie klar, hatte mir alles alleine aufgebaut. Ich war ihr nichts schuldig. Nicht im Geringsten.
Und doch schwang nun das ungute Gefühl mit, ich wäre schuld, wenn kein Frieden zwischen uns entstehen würde. Immerhin kam sie nach all den Jahren einen Schritt auf mich zu. Wenn auch nicht ganz uneigennützig. Das machte es für mich schwer, an ihre Aufrichtigkeit zu glauben.