Teil 49 – Wer bist du?
Kara
«Freut mich, dass du gekommen bist und mir eine zweite Chance gibst.»
Aaron lächelte mich freundlich an.
Eine zweite Chance war nicht ganz richtig. Aaron hatte mich die ganze Zeit mit Nachrichten bombardiert und irgendwann hatte ich nachgegeben. Was war schon ein Nachmittag, wenn er mich danach in Ruhe lassen würde?
«Lass uns einen Kaffee trinken gehen», schlug er vor.
Wir schlenderten durch die Altstadt und machten schliesslich im Café "Frische Brise" halt.
«Bist du eher der Kaffee- oder Teetyp?», wollte Aaron wissen, nachdem wir uns an einen Tisch gesetzt hatten.
«Tee. Ich mag den bitteren Geschmack von Kaffee nicht.»
Aaron las in der kleinen Karte, die auf dem Tisch stand. «Wie wäre es mit einem Frappuccino?»
«Diese künstlich gesüssten Kaffees mit noch künstlicheren Aromen? Nein danke.» Ich sah angewidert weg und dann kam auch schon die Bedienung.
«Willkommen im "Frische Brise" was kann ich euch … oh, hey, Kara.»
Ich sah die Bedienung an und erkannte erst jetzt, um wen es sich handelte. «Tim? Seit wann arbeitest du denn hier?»
Tim zuckte mit den Schultern. «Schon eine ganze Weile. Ich verdiene mir ein paar Simoleons dazu. Kann ich nächsten Sommer gut fürs Studium brauchen.»
Ich nickte ihm bestätigend zu.
«Was kann ich euch bringen?»
Aaron bestellte einen Americano und ich einen Zitronen-Orangen-Tee.
«Du kennst ihn?», fragte Aaron als Tim unsere Bestellung aufgenommen hatte und zurück zum Tresen ging.
«Kevs Halbbruder.»
«Ach ja, einer der vielen Halbbrüder. Sein Vater ist ganz schön rumgekommen.»
«Bitte? Was?», fragte ich ihn und schoss Aaron einen wütenden Blick zu. Dieser sah mich fragend an.
«Was? Ich habe nichts gesagt.»
Ich riss mich zusammen und sah auf meine Hände. Hatte ich gerade seine Gedanken empfangen? Irgendwie musste ich mich aus der Sache retten.
«Ich bin auch seine Halbschwester. Und wenn das ein Problem für dich ist, dann …»
«Warum sollte es ein Problem sein?», kam er mir zuvor.
«Vergiss es.»
Tim servierte uns die Getränke. Schnell trank ich einen Schluck meines Tees und verbrannte mir direkt die Zunge.
Verdammte Scheisse!
«Lust auf ein Stück Kuchen?»
Er zeigte rüber zur Theke. Ich schüttelte den Kopf.
«Nein. Danke.»
Ich sah, wie Aaron tief ein- und ausatmete und dies gleichzeitig zu verbergen versuchte.
«Wieso triffst du dich mit mir, wenn du eigentlich gar keine Lust hast?»
Ich nippte am Tee und hob gleichzeitig die Schultern.
«Du hast auf dem Weg hierher schon nur das Nötigste gesagt. Habe ich dir irgendwas getan? Wenn es wegen der Sache neulich ist, entschuldige ich mich nochmals.»
Ich knallte die Tasse auf den Tisch. Fester als beabsichtigt.
«Ihr seid so scheinheilig. Du und deine Mutter.»
Wieder hatte er dieses grosse Fragezeichen im Gesicht.
«Ich verstehe nicht …», sagte er und ich verdrehte die Augen.
«Ach, komm schon. Spiel nicht den Ahnungslosen.» Ich versuchte krampfhaft, nicht zu laut zu reden. «Weisst du was ich nicht verstehe? Deine Mutter taucht nach so vielen Jahren bei meinem Vater auf, schwafelt irgendwas von Versöhnung, um dann das Lebenswerk meines Vaters zu zerstören? Und du tust jetzt so, als hättest du von all dem nichts gewusst.»
Aaron seufzte. «Ach. Darum geht es also.»
«Ja. Stell dir vor», antwortete ich knapp.
«Und du denkst, die Pläne meiner Mutter sind auch meine Pläne? Was hätte ich bitte davon, deinem Vater sein Restaurant wegzunehmen?» Er nahm mir die Antwort vorweg, was mich gleich noch wütender machte. «Richtig. Nichts.»
«Und was verspricht sich deine Mutter davon? Versöhnung?»
Jetzt war es Aaron, der wieder die Schultern hob. «Ja. Wahrscheinlich tut sie das.»
«Das wird nicht funktionieren. Mein Vater macht da nicht mit.»
Aaron nickte zustimmend. «Ich bin ganz deiner Meinung. Es wird nicht funktionieren. Allerdings nicht deines Vaters wegen.»
Das war ja wohl die Höhe. «Du denkst jetzt nicht wirklich, er lässt alles mit sich machen?»
«Meine Güte, Kara, warum willst du mich immer falsch verstehen?»
Weil du ein arroganter Idiot bist?
«Es wird nicht funktionieren, weil meine Mutter nach spätestens zwei Monaten das Interesse an diesem Restaurant verliert. Sie war noch nie der Typ, der irgendwo lange geblieben ist. Selbst die Versöhnung mit ihrem Bruder ist nicht Grund genug, dass sie bleiben wird. So wie es ihr zu langweilig wird, braucht sie eine Veränderung. Und ihr wird sehr schnell langweilig.» Er trank einen Schluck von seinem Gebräu. «Gib deinem Vater einen Rat von mir. Er soll seine Zähne zusammenbeissen und die paar Wochen, in der sie Interesse an seinem Restaurant zeigt, irgendwie aushalten. Glaub mir, es wird vorbeigehen und er hat danach wieder freie Hand.»
«Und die zwei Monate soll er einfach alles mit sich machen lassen?» Das war auch nicht besser und ich war mir nicht sicher, ob Papa das aushalten würde.
«Nein», erwiderte Aaron. «Er kann ihr ruhig Kontra geben. Mama bekommt nicht gerne Gegenwind. Vincent soll seinen Job machen. Ihr werdet schon sehen. Meine Mutter wird sich langweilen und verschwindet dann so schnell, wie sie gekommen ist. Mit oder ohne Versöhnung. Glaub mir. Es war schon immer so. Selbst ich war ihr irgendwann zu … langweilig.»
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, einen Hauch von Traurigkeit in Aarons Augen funkeln zu sehen. Ich ging darauf nicht ein. Auch wusste ich nicht, ob ich ihm glauben sollte. Trotzdem nahm ich mir vor, darüber nachzudenken.
Nach einiger Zeit verliessen wir das Café wieder. Wir schlenderten durch die Altstadt in Richtung Hafen. Der Himmel war glasklar, dennoch war es ziemlich kalt. Wir kamen am kleinen Park vorbei und Aaron zeigte auf das Klettergerüst.
«Als ich noch ein Kind war, stand hier ein Kletterturm. Da bin ich mal runtergestürzt und habe mir den Arm gebrochen.»
«Eine rührselige Geschichte.»
«Ja. Nicht wahr?»
Wir setzten uns auf eine Parkbank. Die Sonne hatte für diese Jahreszeit noch eine beeindruckende Stärke.
«Warum bist du so, Cousinchen?»
Nenn mich nicht Cousinchen!
«Wie bin ich denn?»
Aaron musterte mich einen Moment.
«Du bist die ganze Zeit so wütend. Unzufrieden.»
«Frustriert?», fragte ich gelangweilt, denn das hatte er mir beim letzten Mal vorgeworfen.
Aaron zupfte sich seinen Schal zurecht. «Wenn du es so nennen willst.»
«Ich bin nicht frustriert, klar?»
«Aber du wirkst auch nicht glücklich. Und ich würde gerne wissen, woran das liegt.»
Warum kümmerte ihn das? Ich warf ihm einen bösen Blick zu.
«Ich habe keine Lust auf sowas», erwiderte ich, stand auf und ging.
Aaron folgte mir.
«Was soll das, Kara?», hörte ich ihn hinter mir herrufen. «Ich will dich wirklich kennenlernen. Aber du lässt mir keine Chance dazu. Du schaltest die ganze Zeit auf …»
Ich erhöhte mein Tempo.
«Verdammte Scheisse, Kara, jetzt bleib stehen!»
Er hatte so laut gebrüllt, dass ich tatsächlich stehen geblieben war. Ich drehte mich zu ihm um. Aaron sah ziemlich angepisst aus.
«Was ist dein verdammtes Problem? Ich gebe mir wirklich Mühe mit dir. Weil du meine Cousine bist und ich gerne mehr über dich wissen wollen würde. Ich lade dich zum Kaffee ein, versuche Gespräche aufzubauen aber du blockst alles ab. Was habe ich dir getan?»
Ich sagte nichts. Er liess ein paar Augenblicke verstreichen.
«Okay, gut. Wenn du mich nicht kennenlernen willst, dann sag es mir. Sag, dass ich mich verpissen soll und ich tue es. Es wäre nur wirklich schade, denn ich glaube, du bist ein echt cooler Sim!»
«Nein, das bin ich nicht!», rief ich. «Ich bin kein cooler Sim. Und auch kein netter oder lustiger oder sonst was Sim! Verstehst du das?»
Aaron schüttelte den Kopf. «Nein, das verstehe ich nicht. Ich denke, du bist ein …»
«NEIN!», brüllte ich noch lauter.
Und dann, ohne mich gross anstrengen zu müssen, verwandelte ich mich. Ich verwandelte mich in das, was ich war. Ein Alien.
«Ich bin kein Sim! Verstehst du das jetzt? Ich. Bin. Kein. Sim!», rief ich und bemerkte, wie heisse Tränen sich lösten und sich einen Weg über meine Wangen bahnten.
Aaron stand stocksteif vor mir. Er brachte keinen einzigen Ton raus. Stattdessen musterte er mich von unten bis oben.
Meine Welt brach zusammen. War das die Reaktion, die ich von allen andern erwarten konnte? Ein angeekeltes Glotzen?
Ich riss mich zusammen, sammelte all meine Energie und verwandelte mich zurück, doch das Weinen konnte ich nicht abstellen.
Aaron kam etwas zögerlich auf mich zu.
«Kara … ich weiss nicht, was ich sagen soll.»
Er nahm mich bei den Schultern.
«Das ist echt krass und ich habe viele Fragen. Aber das ist nichts, wofür du dich vor mir zu verstecken brauchst. Ob schwarz oder weiss, männlich oder weiblich, Pizza oder Pasta, Alien oder Sim. Du bist du, Kara. Ich weiss, die Welt drückt alles und jedem einen Stempel auf. Ich tue es nicht.»
Wieder hatte ich keine Ahnung, ob ich ihm glauben sollte. Trotzdem wurde das beklemmende Gefühl in mir leichter.
«Komm mal her.»
Aaron umarmte mich und streichelte über meinen Kopf. Die Nähe zu ihm war merkwürdig. Ich kannte ihn gar nicht und trotzdem war da plötzlich so viel Vertrautheit.
Ich beruhigte mich, trocknete meine Tränen und Aaron schlug vor, an einem Verkaufsstand noch ein warmes Getränk zu holen.
«Mein Vater hat vor vielen Jahren in ein Projekt investiert.»
«Was für ein Projekt?»
Wir setzten uns auf eine Bank mit herrlicher Aussicht auf die Wasserfontäne und Aaron nahm einen Schluck Kaffee.
«Ich weiss es nicht genau. Mein Vater erwähnte ein Labor. Irgendwo in der Nähe von Oasis Springs. Offiziell forscht es an Techniken zur Verbesserung der Raumfahrt. Inoffiziell soll es sich mit Technologien fremder Planeten befassen.»
Das klang interessant und ich nahm mir vor, mehr darüber in Erfahrung zu bringen.
«Vielleicht war ich auch deswegen nicht ganz so … überrascht. Mein Vater glaubt seit dem Projekt an die Existenz ausserirdischen Lebens. Ich tue es auch und du … tja, du bist der lebende Beweis dafür.»
Wir sprachen noch eine Weile über das Projekt, doch Aaron konnte sich an keine Einzelheiten mehr erinnern. Sein Vater hatte auch nicht ausführlich mit ihm darüber gesprochen, schon gar nicht, weil es wohl
Top-Secret war. Aber er versprach, mehr darüber zu erfahren.
Wir nippten beide an unseren Getränken und schwiegen für eine Weile. Dann fragte Aaron plötzlich:
«Kannst du eigentlich fliegen? Ich meine … wie Superman?»
Ich musste lachen. «Natürlich nicht. Wir sind hier nicht in einem Film oder irgendeinem Computerspiel.»
Aaron lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. «Schade. Aber vielleicht auch gut so. Sonst wärst du einfach zu cool gewesen, Cousinchen.»
«Nenn mich nicht Cousinchen!» Ich kniff ihn in die Seite und wir lachten beide.