Also bat er sie widerwillig herein, obwohl sein schlechtes Gewissen ihn plagte.
Jeden Moment, so rief er sich vor Augen, könnte seine Mutter herunter kommen und die beiden stören.
Sie würde Annabelle erblicken und einen Anfall bekommen.
Einen schrecklichen Anfall gepaart mit Wutausbrüchen und Schuldvorwürfen.
Schon immer waren ihr seine Freundin, im speziellen die weiblichen, zuwider gewesen.
Nie hatte sie gewollt, dass er neben ihr noch eine andere Frau hatte, der er seine Liebe schenkte.
Aber weil er eben diese Liebe in sich verspürte, brachte er es einfach nicht über das Herz sie wieder gehen zu lassen.
Viele Tage waren seit ihrem letzten gemeinsamen Treffen vergangen und er hatte sich ebenso sehr nach Annabelle gesehnt, wie auch sie sich nach seinen Berührungen und Umarmungen gesehnt hatte.
„Verdammt, ich kann nicht mehr ohne dich!“ schloss er an, als sie sich leise an ihm vorbei und in die bescheidene Wohnung geschlichen hatte.
„Aber bitte, Liebling…“
“Ich bin leise, versprochen.“ Fiel sie ihm ins Wort, weil sie es nicht anders kannte, als auch in seinen vier Wänden Verstecken spielen zu müssen.
Auf Dauer hatte sie es schon immer als sehr frustrierend empfunden, aber immer wieder hatte er sie anschließend besänftigen können, wenn sie sich endlich in den Armen liegen konnten.
Kaum hatte sie die Wohnung betreten, trug er sie auf das Sofa.
„Gott, hast du mir gefehlt, Annabelle. Ich bin fast wahnsinnig geworden ohne dich.“
Und er drückte sie so fest er nur konnte an sich, als hätte er Angst, sie würde gleich verschwinden.
Dies war der erste Moment seit Tagen, an dem er wieder strahlen konnte und er tat es.
Er lag in ihren Armen und hatte das Glück auf seiner Seite.
Ganz tief atmete er ihren Duft ein, damit er ihm auch in der Nacht in Erinnerung blieb und gute Träume bescherte, abseits der abscheulichen Realität, die er mitunter als sein Leben zu bezeichnen hatte.
Als er vorsichtig ihren Nacken küsste, flüsterte sie ihm leise etwas ins Ohr.
„Steve, ich möchte, dass wir gemeinsam verschwinden. Irgendwohin, hörst du.
Nur du und ich und keiner wird wissen, wo wir sind. Ich will an einen Ort, an dem wir uns nicht verstecken brauchen und auch händchenhaltend durch die Straßen laufen, ohne das ständige Gefühl beobachtet und verachtet zu werden. Ich will, dass du mit mir gehst!
Wir geben unsere alten Leben auf und verlassen diese Stadt. Wir ziehen zusammen, heiraten und gründen eine kleine Familie. Was hältst du davon, Steve? Bitte komm mit mir. Ich brauche dich, ich liebe dich, ich…“
Überrascht ließ er von ihr ab und wieder begannen diese Schuldgefühle in ihm aufzusteigen.
Einerseits wollte er nichts lieber tun, als mit seiner großen Liebe durchzubrennen.
Er konnte sich nichts schöneres vorstellen, als mit ihr zusammen kleine Kinder durch das Leben zu bringen und jeden Morgen zusammen aufzuwachen, sich zu lieben wann immer ihnen danach sein würde, doch andererseits rief ihn sein Verantwortungsgefühl auf den Boden der Tatsachen zurück.
Er konnte unmöglich gehen und seine Mutter hier lassen.
Sie war krank und wäre alleine und hatte er ihr nicht versprochen, auf ewig bei ihr zu bleiben?
Allein der Gedanke an einen derartigen Verrat machte ihn schier Wahnsinnig und er fühlte sich als schlechter Sohn, obgleich er nichts lieber täte als diese gestörte Person endlich ihrem Schicksal zu übergeben.
Nichts lieber, doch war er viel zu verantwortungsbewusst und abhängig von ihr, dass er nur eine Antwort auf Annabelles Vorschlag geben konnte:
„Ich kann das nicht.“
Doch anscheinend war genau das die falsche Antwort, denn Annabelle sprang wutentbrannt auf und fixierte ihn mit einem düsteren, eindringlichen Blick.
„Was soll das heißen, du kannst nicht?“ zischte sie ihn an, jedoch immer noch rücksichtsvoll bemüht leise zu sein.
„Steve, wann lernst du endlich SELBSTSTÄNDIG zu sein, verdammt?! Und deine eigenen Wege zu gehen! Ist dir bewusst, dass es krank ist, was du da tust? KRANK, einfach nur KRANK. Du bist kein kleines Kind mehr und sie ist eine erwachsene Frau. DU bist nicht verantwortlich für ihre Probleme und demzufolge hast DU auch nicht dafür zu sorgen, dass es ihr wieder gut geht. Sie ist die einzige, die im Stande ist ihr Leben in den Griff zu bekommen.
Stattdessen hat sie es sich zur Aufgabe gemacht das kleine hilflose Lamm zu spielen, um dich mit Schuldvorwürfen nur so zu bedecken, sofern du nicht das tust, was dieses Lamm von dir erwartet. Ich will dir nicht vorwerfen, dass du an ihrem Rockzipfel hängst – nein, sie hat dich einfach an diesen DRANGEKLEBT, so dass du nicht weg kommst. Du bist hier gefangen, Steve. Das ist kein Zuhause, das ist ein Gefängnis. Du weißt es und ich weiß es und – verdammt, sie weiß es ebenso gut, denn noch ist sie nicht völlig bescheuert, aber sie steht kurz davor!“
Er ertrug es nicht. Ihre Worte taten ihm weh, weil sie die Wahrheit preis gaben und die Wahrheit war etwas, das er stets zu verdrängen versucht hatte.
„Bitte geh, Annabelle.“ Bat er hilflos.
„Ich werde mich bei dir melden, aber bitte geh jetzt.“
„Das braucht du nicht. Solange du nicht endlich zu Verstand gekommen bist, möchte ich dich nicht wieder sehen.“ Sie ging.
Mit diesem letzten Satz bewahrheiteten sich seine schlimmsten Befürchtungen und sie entschwand seinen Armen, obgleich er sie doch so bemüht festgehalten hatte.
In der Nacht schlief er nicht besonders gut.
Seine Gedanken wanderten von Annabelle, zu seiner Mutter, bis hin zum vergangenen Zwischenfall.
Ihm war bewusst, dass es nicht so weiter gehen konnte und doch war ihm ebenso bewusst, dass er nicht die Macht besaß, etwas daran zu ändern.
Oder gar die Kraft dazu.
Es war wohl eher die Kraft, wie er sich eingestehen musste.
Selbst seine Mutter hatte gespürt, dass an jenem Abend etwas passiert sein musste.
Wie üblich hatte sie ihn gebeten bei sich zu schlafen und er hatte nicht ablehnen können.
Als guter Sohn wich er ihr nicht von der Seite, wenngleich er ihr innerlich schon einige Male das Kissen aufs Gesicht gedrückt hatte.
In jener Nacht war dieses Bedürfnis besonders groß, doch wagte er nicht, auch nur einen Moment an diesen Gedanken zu verschwenden, während sie neben ihm lag und ihrem mütterlich – besorgten Tonfall fragte, ob etwas nicht stimmte.
Sie roch schrecklich sauer nach Bier, doch verkniff er es sich auch nur kurz das Gesicht zu verziehen und erklärte ihr stattdessen, dass alles gut sei und er bloß Angst hätte einzuschlafen.
Das besänftigte sie jedes Mal und bestätigte sie in ihrer Rolle als Mutter, als schützende und vertraute Person. Die einzige von allen.
Er ließ sie in dem Glauben.