16.Kapitel
Ich saß neben Tristan auf der kahlen Bank in der wunderschönen Kirche und wartete, wie alle anderen, auf die Braut. Da Stella der Unglücksrabe war, die noch niemanden heute an ihrer Seite stehen hatte, durfte sie auch Brautjungfer werden und sie war stolz wie ein kleiner Junge auf ihren Posten.
Patrick wartete mit einer edlen Körperhaltung auf seine Braut, die jeden Moment den langen Korridor hinunter schreiten musste. Ich entdeckte Svenja und die anderen Mädels ein paar Bänke hinter uns und musste zu geben, dass einige von ihnen den gestrigen Abend wohl nicht ohne Kopfschmerzen überstanden hatten. Bis auf, dass ich komische Blaue Flecken am Arm hatte ging es mir blendend und so waren wir schon in der Frühe aufgestanden und hatten Tina geholfen sich zurecht zu machen bis sie einfach wunderschön ausgesehen hatte.
Ich blickte kurz zu Tristan, auch er hatte seinen Blick gerade zum Priester nach vorne gerichtet und hatte etwas edles an sich. Er trug einen sehr feinen schwarzen Anzug. Als ich ihn in der Kirche getroffen hatte hatte ich mich stark zusammen reißen müssen, um ihn nicht anzufallen und ihn nieder zuküssen. Ich hatte gar nicht sagen können wie sehr er mir doch gefehlt hatte. Er atmete tief ein und zog die Stirn kraus.
„Kopfschmerzen?“, flüsterte ich ihm zu. Er warf einen kurzen Blick zu mir hinab.
„Ein wenig, aber ich wüsste nicht woher das kommen sollte, schließlich erinnere ich mich an keinen Moment von gestern Abend“, schmunzelte er und ergriff meine Hand, hielt sie in seiner und wandte seinen Blick wieder ab. Ich lächelte und sah auf seine Hand hinab. Sein Daumen fuhr gleichmäßige Kreise über meinen Handballen und meine Hand wirkte beinahe schmächtig in seiner. Ich sah auf und traf den Blick von Patrick, der nervös hin und her wippte. Ich lächelte ihm aufmunternd zu und er erwiderte das Lächeln, sah aber sogleich wieder den Korridor entlang. Er trat von einem auf das andere Bein und sein Trauzeuge flüsterte ihm etwas zu, worauf er schmunzelte, aber nichts erwiderte.
Für einen kurzen Moment sah ich Tristan vorne stehen und so nervös auf mich wartend. In diesem Moment erklangen die sanften Töne des Pianos und wie eine Welle erhoben sich zuerst die hinteren Menschen, dann die vorderen, bis wir alle standen.
Tristan hielt meine Hand noch immer in seiner, während er seinen Hals reckte, um die Braut zu sehen. Er selbst hatte Tina noch nie gesehen, ebenso wie sie ihn auch nicht und ich war mir sicher, dass sie bei der Trauung keinen Blick für ihn übrig haben würde, denn all ihre Aufmerksamkeit galt ihrem Verlobten, der mit einem lieblichen Ausdruck seiner Zukünftigen entgegen sah.
Als Tina an uns vorbei schritt sah ich all die Erinnerungen in mir aufflammen. Von dem Moment, als ich sie in meiner Schulzeit kennen gelernt hatte, bis zu dem Moment, als wir ihr Traumkleid gefunden hatten, das sie nun trug und in welchem sie wie ein Engel aussah.
Ihr Vater entließ sie an Patrick und wir setzten uns wieder. Ich sah kurz zu Tristan und er blickte auch zu mir hinab, seine Hand drückte meine zärtlich, als er Tränen in meinen Augen schimmern sah.
Und unter all den nassen Augen der Verwandtschaft und der Freude gaben sich Tina und Patrick das Jawort und es war der bewegenste Moment meines bisherigen Lebens.
Zumindest bis zu diesem Zeitpunkt.
*
Ich saß an einem Tisch mit Stella und Svenja und wir beobachteten das frisch getraute Brautpaar bei dem traditionellem Tanz. Während Stella schwieg, das Paar beobachtete und ab und an ein lauten Seufzer in die Nachtluft entließ, unterhielten ich und Svenja und angeregt über den perfekten Ablauf der Hochzeit. Es war nichts unvorhersehbares passiert und bis jetzt hatte alles nach Plan funktioniert. Die Gäste waren alle vollzählig in dem Garten von Tinas Eltern angekommen und das Essen reichte noch für die ganze Nacht.
„Eins ist klar, wenn meine Hochzeit nur halb so perfekt wird, werde ich mich keineswegs beschweren“, sagte Svenja und trank ein Schluck Wasser. Seit dem gestrigen Abend hatten wir alle nur ein Glas Champagner vertragen können, sonst hätte uns wohl allen der Kopf mächtig gebrummt.
Stella seufzte erneut hörbar und ich begann zu lachen.
„Nun hör schon auf, deinen Prinzen findest du auch schon noch. Vielleicht treibt er sich hier irgendwo auch herum“, lachte ich und stieß meine triste Freundlich kurz an.
„Ach, Leila… das wäre wunderbar, wenn er jetzt einfach um die nächste Ecke kommen würde, jetzt genau in diesem Moment“, flüsterte sie und wir starrten gebannt auf die Ecke. Tatsächlich trat eine männliche Gestallt in diesem Moment um die Ecke, doch es war niemand anderes außer Tristan und noch bevor Stella einen Ton sagen konnte hatte ich ihr schon einen wütenden Blick zugeworfen.
„Wehe“, sagte ich und hob drohend meine Augenbrauen.
„Dafür kann ich nichts, das nennt man Schicksal“, lachte sie und ich schüttelte den Kopf.
„Glück, kein Schicksal… obwohl in deinem Fall ist es wohl eher Pech, denn er gehört mir ganz alleine.“
„Dafür, dass du ihn am Anfang am liebten weit in den Wind geschossen hättest, meldest du jetzt ziemlich starke Besitzansprüche“, schmunzelte sie und ich sah wie Tristan sich unserem Tisch langsam näherte.
„Die Welt ist manchmal eben merkwürdig“, seufzte ich nun auch und beobachtete den Gang meines Prinzen zu uns hinüber. An unserem Tisch blieb er stehen.
„Darf ich um einen Tanz bitten?“, fragte er mich galant und streckte mir seine Hand entgegen.
„Verschwinde schon, sonst muss ich noch eifersüchtiger werden und Tristan“, wandte sich Stella an ihn „eigentlich hätte es das Schicksal gewollt, dass wir heiraten“, sagte sie fest und Tristan lachte himmlisch.
„Zur Entschädigung tanzen wir nachher eine Runde, abgemacht?“, fragte er Stella.
„In Ordnung, was bleibt mir auch anderes übrig“, seufzte sie und ich ergriff seine Hand, so dass er mich in die Höhe zog. Ich drehte mich leicht um ihn herum, so dass er mich locker festhalten konnte und wir uns im sanften Takt der Musik bewegen konnten.
Die Musiker, die extra für diese Party bestellt worden waren spielten eine wirklich wunderschöne Musik, die klang als spielte die Natur selbst auf den Instrumenten. Bald schon wurden unsere Ohren von sanften Piano und Violinenklängen beschallt, so dass jedes Paar sich nun auf die Tanzfläche begeben hatte, um ebenfalls zu tanzen.
Tristan brauchte kein besonders guter Tänzer zu sein, denn es war sowieso als schwebten wir über den Boden und ich hatte meinen Kopf auf seiner Schulter abgelegt, hörte sein Herz an meiner Brust schlagen. Der Abend war einfach perfekt. Wie oft sich dieses Wort in den letzten Tagen wiederholt hatte konnte ich nicht mehr sagen. Perfekt, perfekt, perfekt. Mein Leben, meine Liebe, einfach alles. Ich würde mich an diese Momente mein ganzes Leben lang erinnern, bis zu meinem Tode hin.
„Hast du Tina nun einmal kennen gelernt?“, fragte ich ihn.
„Bis jetzt nicht“, antwortete er und ich löste mich von seiner Schulter, um ihn anzublicken.
„Dann wird es eigentlich bald höchste Zeit“, sagte ich und hielt Ausschau nach der wunderschönen Braut, die eigentlich nicht schwer zu entdecken war.
„Hey, muss das jetzt sein? Ich finde es gerade schön so wie es ist“, lächelte er und strich über meine Wange, um mir einen Kuss auf die Stirn zu setzen. Doch schon im nächsten Moment hatte ich Tina neben dem Essensbüfett entdeckt. Ich ergriff Tristans Hand und zerrte ihn mit mir, bevor Tina wieder belagert wurde.
„Tina“, rief ich freudig und schloss sie in meine Arme. Ihr weißes Kleid raschelte und ihre Augen strahlten, denn an ihrem Finger glitzerte ein wunderschöner goldener Ring. Sie war nicht mehr die Tina die ich kannte. Sie war nun eine verheiratete, schwangere Frau.
„Das ist Tristan. Tristan das ist Tina“, stellte ich beide einander vor und sie gaben sich lächelnd die Hände, wobei ich Tina beobachtete. Allein an ihrem Blick konnte ich gut beurteilen, dass Tristan bei ihr bestanden hatte. Sie war wohl ebenso fasziniert von ihm wie ich.
Die Welt schien sich an diesem Abend zu drehen und ich spürte es genau. Ich spürte die Bewegungen, den genauen Ablauf und es war ein berauschendes Gefühl.
Ich ergriff Tristans Hand und führte ihn hinter mir her, um das Haus herum. Er lachte und fragte was ich mit ihm vorhabe, aber ich wusste es nicht genau. Ich wusste nur, dass ich alleine mit ihm sein wollte, dass ich für einen Moment nur ihn neben mir spüren musste. Wir ließen uns auf einer Bank nieder und Tristan atmete schwer aus, legte den Kopf in den Nacken und sah in den Himmel. Dicke Wolken versperrten die Sicht auf die Sterne und den Mond. Ich beobachtete ihn genau, er wirkte nicht glücklich, beinahe so als hielt ein Gedanke ihn fest, den er nicht abschütteln konnte.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte ich vorsichtig und ergriff seine Hand. Er sah hinab.
„Der letzte Monat war einfach unbeschreiblich, denkst du nicht auch?“, fragte er leise, als wollte er die andächtige Stille nicht stören. Ich neigte meinen Kopf zur Seite und beobachtete wie sich die Gräser sachte im Wind bewegten. Im Hintergrund drangen die Stimmen und das Lachen der Gäste zu uns hinüber.
„Ja, es war unglaublich.“ Ich sah ihm tief in die Augen „Du bist unglaublich und ich habe dich für einen völligen Idioten gehalten.“
„Wie gut, dass du es dir noch mal anders überlegt hast“, schmunzelte er und legte den Arm um meine Schulter. Ich neigte meinen Kopf zur Seite und bettete ihn auf seiner Halsbeuge. Er roch gut, obwohl ich den Duft nicht ausmachen konnte, aber er ging klar von seinem Aftershave aus, allerdings trug er seinen typischen Dreitagebart.
„Ich habe das Gefühl dich schon ewig zu kennen“, flüsterte ich und zeichnete mit meinen Fingerkuppen Kreise auf seiner rauen Wange. In diesem Moment fühlte ich wie er sich neben mir verspannte, seine Hand stoppte in der Bewegung. Ich hob meinen Kopf verwirrt.
„Was ist jetzt wieder?“, fragte ich lächelnd. Er sah starr auf die Mauer des Hauses, sein Kehlkopf ging auf und ab, als er schluckte, dann senkte er den Blick.
„Du kennst mich nicht“, hauchte er und senkte seinen Kopf weiter, so dass sein Kinn beinahe seine Brust berührte. Ich schob seinen Kopf langsam wieder hoch, so dass er mich angucken musste und in seinen Augen sah ich das Geheimnis glühen, dass er so lange schon vor mir verschwieg und nun drohte an die Luft zu kommen. Mein Herz begann nun schneller zu schlagen.
„Tristan, ich weiß da ist etwas was du mir nicht sagen kannst oder nicht willst und für mich ist das in Ordnung, ich verlange nicht, dass du mir alles erzählst“, versuchte ich vorsichtig zu ihm durchzudringen. In diesem Moment er hob er sich und fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Seine Bewegungen wurden hektisch.
„Du solltest es verlangen, Leila. Weil ich gerade dabei bin dich zu einem Teil meines verdammten Lebens zu machen und das sollte ich nicht!“, sagte er energisch und sah mich an.
Plötzlich begann das Bild meiner perfekten Welt zu schwanken. Hatte nicht alles irgendwo einen Hacken? Keine Liebesbeziehung konnte perfekt sein, aber was auch immer es war… hatten wir nicht eben diese besondere Beziehung zueinander um dadurch zu gehen?
„Tristan“, ich erhob mich langsam und trat einen Schritt auf ihn zu. Die Angst ihn zu verlieren wurde mit einem mal unendlich groß. „Was ist so falsch daran? Ich will mit jeder Faser meines Lebens ein Teil von dir sein.“
Er schüttelte den Kopf fieberhaft und fuhr sich mit der Hand über den Hinterkopf.
„Wie kannst du ein Teil von mir sein, wenn ich nichts bin“, hauchte er und sah mich an, sein Blick war verzweifelt. Ich trat wieder auf ihn zu und ergriff seine Hand, hielt sie so feste in meiner, dass er keine Chance hatte sie mir zu entreißen. Sein Blick veränderte sich erneut und er umklammerte meinen Rücken, zog mich hart an sich und bedeckte meinen Mund mit Küssen. Ich atmete schwer durch die Nase und ließ ihn machen. Doch diese Art von Zuneigung schürte meine Angst nur weiter. Er drückte sich an mich und hielt mich fest.
„Leila“, hauchte er zwischen den Küssen und ich erwiderte seine stürmischen Küsse auf eine ebenso stürmische Art. Ich wusste, dass er dies in diesem Moment mehr brauchte als irgendetwas anderes, obwohl es mich nicht beruhigte. Nach einiger Zeit wurden die Küsse langsamer, bis sein Mund ruhig auf meinem lag. Ich hatte die Augen geschlossen und weigerte mich sie zu öffnen, denn mit einem merkwürdigen Gefühl im Bauch wurde ich mir sicher, dass es so am besten war. Sein Mund löste sich von meinem, aber seine Stirn lag trotzdem auf meiner.
„Auch, wenn du glaubst, dass du nichts bist, für mich bist du alles“, hauchte ich und spürte wie sich eine Träne aus meinem Augenwinkel löste. Ich spürte wie ungleichmäßig er atmete und erst in diesem Moment fiel mir auf wie sehr seine Stirn glühte. Ich zog meinen Kopf zurück um ihn anzusehen. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn und er wirkte matt und erschlagen.
„Was ist los? Verdammt, Tristan!“, sagte ich und er sah mich an und schüttelte leicht den Kopf.
„Das ist es, Leila. Das große Geheimnis. Sieh mich an“, flüsterte er und trat einen Schritt zurück, um sich zu präsentieren wie er war. Ich bemerkte plötzlich, dass er unheimlich blass war, außer seine roten Lippen. Ich sah ihn verständnislos an.
„Ich verstehe nicht… was meinst du?“
„Ich habe CML.“
„Kannst du so reden, dass ich was verstehe? Was zum Teufel ist CML?“, fragte ich und sah ihn irritiert an, doch mein Herz schlug so schnell, dass ich meinte man müsste es schlagen hören. Sein Blick war ernst und es durchhieb mich beinahe dort wo ich stand.
„CML ist eine chronische myeloische Leukämie“, sagte er tonlos und in diesem Moment war es als stünde die Zeit für einen Moment still. Ich hatte das Gefühl, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Wie anders sollte man diesen Moment erklären? Was ich fühlte? Was ich sah?
„Leukämie?“, fragte ich und eine weitere Träne löste sich aus meinen Augen, lief unaufhaltsam meine Wange entlang.
„Die Ärzte können nicht feststellen wann es begann, aber ich befinde mich nun seit etwa zwei Monaten in der Akzelerationsphase, die Übergangsphase zum Blastenschub“ versuchte er zu erklären, doch seine Stimme zitterte.
„Ich verstehe das nicht….“, sagte ich verzweifelt und leise. Tristan senkte den Blick und ich sah nun auch wie Tränen in seinen Augen schimmerten. Aber er unterdrückte sie hart.
„Ich werde sterben, Leila.“