Kapitel 12
Kapitel 12 – Remember
30 Minuten nach Daddys Anruf saß ich auf seinem Sofa. Er machte sich gerade ein Bier auf. Der trockene Geruch des Malz’ lag mir in der Nase und ich verzog das Gesicht. Ich mochte kein Bier. „Willst du auch eins?“ fragte er. Ich verneinte.
Dann begab er sich langsam zur Couch. Als er sich hinsetzte stöhnte er auf. „Du wolltest Antworten, du sollst sie bekommen. Was sind deine Fragen?“
„Ich weis es nicht. Ich weis nicht was passiert ist, das will ich wissen. Alles an was ich mich erinnern kann sind Bruchstücke, als Amy noch bei uns war. Und, dass sie tot ist. Mehr kommt mir nicht mehr in den Sin.“ Er lachte kurz auf und ich sah ihn fragend an. Ich wusste nicht, was daran so lustig sein sollte, dass ich mich nicht mehr an meine eigene Schwester erinnern konnte.
„Nun kann ich wieder meinen alten Beruf raushängen lassen. Ich war mal Psychiater Claire, falls du dich noch erinnerst. Du warst gerade 4 als deine Mutter mir diesen Job ausgeredet hat und nun siehst du ja, was aus mir geworden ist.
Aber ich kann dir sagen, dass das ganz normal ist. Du hast ein Trauma und verdrängst die Erinnerung. Das passiert häufig auch unbewusst, Schatz.“ Ich nickte. Ich war ungeduldig und nervös. Er nippte gelassen an seinem Bier und hielt es fest verschlossen in seiner Hand.
„Der wichtigste Tag in diesem ganzen Dilemma ist wohl ihr Todestag“, er wurde betrübt und ich starrte auf die leere Oberfläche des Fernsehers, „ich möchte hier niemandem die Schuld in die Schuhe schieben, aber es ist nicht übertreiben, wenn ich sage, dass deine Mum sie in den Tod getrieben hat. Amy war immer ein sehr eigenwilliges Mädchen, doch ihren Willen bekam sie Stück für Stück genommen. Sie hatte nichts mehr, was ihr Freude machte. Sie hat es früh bemerkt, doch ich wollte es nicht sehen. Und als ich anfing die Initiative zu ergreifen, war es schon zu spät.“ Er stand auf, warf die Dose in den Mülleimer und nahm sich eine zweite heraus. Mit einem Klacken öffnete er sie und steckte sich dazu eine Zigarette an „Macht dir das etwas aus?“
„Nein, ich bin’s gewöhnt.“ Und so nahm er einen langen Zug an seiner Camel. „Auf jeden Fall wuchs sie prächtig heran. Mit 12 bekam sie ihren ersten Modelauftrag und dann folgten sie monatlich. Als sie 17 war hatte sie keine Freizeit mehr und als sie begann das zu verstehen, fing deine Mutter schon an, nach deinem ersten Job zu suchen. Amy wollte für dich immer nur das Beste. Sie hat dich geliebt. –
- sie versuchte auf eure Mutter einzureden, sie solle dich aus dem Geschäft raushalten, doch es war zwecklos. Eure Mutter hatte nicht die Figur, und ihr beide hattet nicht das Herz. Ich nahm dich für eine Weile mit zu meiner Mutter, doch ich konnte dich nicht einfach behalten. Sie hätte keine Skrupel gehabt, das Gericht einzuschalten und das hätte mich meinen letzten Cent gekostet. Als Amy 18 Jahre wurde ließen wir uns scheiden. Sie bekam das volle Sorgerecht und Amy gab es auf. Alleine konnte sie dich nicht mehr beschützen und irgendwann war sie ausgelaugt. Ich wusste, dass sie Probleme hatte, aber so extrem hatte ich das nie wahrgenommen – trotz meiner langjährigen Psychiater-Erfahrung.“ Er stand auf und ging an eine Kiste. Er kramte etwas darin rum und zog schließlich einen Umschlag heraus. Ich konnte meinen Namen auf ihm erkennen und er schmiss ihn neben mich. Ich griff nach ihm. „Moment. Du kannst ihn aufmachen, wenn ich fertig bin mit erzählen.“ Ich nickte und ließ es dabei. Er zog an seiner fast fertig gerauchten Zigarette und drückte sie im Aschenbecher aus. Dann lehnte er sich zurück.
„So viel dazu“, fuhr er fort, „wenn eure Mutter nicht zu Hause war trank Amy regelmäßig. Oder sie verletzte sich selbst. Ich musste sie mehrere Male zum Arzt fahren, weil ihr Daumen gebrochen war und irgendwann nahm ich ihr die ganzen Geschichten einfach nicht mehr ab. Ich konnte nichts tun, sie beharrte auf die Ausreden und ließ mich nicht an sie heran. Und irgendwann passiert es dann…“, er steckte sich eine zweite Zigarette an, „irgendwann war ihr alles zu viel. Es war ein Tag vor deinem 13. Geburtstag. Du warst zu hause und hast gelernt. Ich holte ein paar Sachen aus dem Haus, die noch mir gehörten. Eure Mutter war nicht da. Ich kann mich noch erinnern, dass du aus dem Bad kamst und gesagt hast, dass hier ein leeres Päckchen mit Schlaftabletten sei und wem es denn gehörte. Ich fragte dich, wo Amy ist. Du sagtest, sie wollte weg fahren und sie habe sich sehr merkwürdig von dir verabschiedet…“ und da kam auch meine Erinnerung zurück. Kurz nachdem mich Daddy auf Amy angesprochen hatte war ich hoch gegangen. Schmerzen durchzogen meinen Schädel, ich dachte er würde platzen. „Claire, alles okay?“
„Daddy, ich brauch ein Glas Wasser, schnell.“ Er stand auf und holte mir ein Glas Wasser.
Sie schwankte. Sie schwankte. Sie schwankte.
Amy, bleib hier du kannst doch gar kein Autofahren! Du bist doch viel zu müde.
Sie hatte sich in unseren Wagen gesetzt und war fast eingeschlafen. Einen Moment lang hatte sie ihren Kopf auf dem Steuerrad aufgestützt.
Daddy und ich waren nicht schnell genug unten, da hatte sie den Wagen schon angeworfen. Die hellen Lichter strahlten mir ins Gesicht und blendeten mich.
„Claire, deine Mutter versucht mit dir dasselbe zu tun. Amy hatte nur noch zwei Menschen, denen sie vollkommen vertraut hat. Du warst ihr Schwester und zu ihrer Freundin hatte sie keinen Kontakt mehr.“ Ich nahm einen kräftigen Schluck Wasser und haute mir gegen den Kopf. Freundin? „Sie hatte zu niemandem mehr Kontakt. Sie war kaputt. Und jetzt darfst du den Brief öffnen.“
Benommen nahm ich den Brief und las ihn sorgsam durch. Ich ließ mir Zeit, auch beim Öffnen des Umschlags.
Claire, bitte es tut mir Leid. Halte dein Versprechen.
Ich weis, es ist leichtsinnig. Sollte ich bei diesem Versuch hier nicht ums Leben kommen wird sie vielleicht wach. Und wenn doch, Claire, bitte ich werde dich immer lieben. Lass mit dir nicht das gleiche machen wie ich. Du bist zu stark Claire. Ich verlasse dich nie. Ich bin immer bei dir, Liebling.
Bitte halte dein Versprechen. Ich habe das alles zu spät bemerkt. Ich komme da nicht mehr raus. Es ist der letzte Ausweg, Claire. Ich bitte dich, das zu verstehn.
Ich werde dich immer lieben Claire, vergiss das nicht.
Vergiss mich nicht!
Amy
Rote Rücklichter. Ein schwankendes Auto.
„Ich versteh das nicht..:“
„Was für eine Freundin?“
„Ich weis es nicht, ich lernte sie nie kennen. Ich weis nur, dass sie ihre Probleme immer mit Amy geteilt hat, und diese Probleme haben sie mit kaputt gemacht. Das sagte Amy mal.“ Ich schwankte kurz. „Wie hieß sie?“
„Ich glaube sie hieß Lillian. Sie war in deiner Szene.“
„Okay Daddy, jetzt brauche ich auch ein Bier.“