Kapitel 52
Zweifel
Zuhause angekommen fühlte Tessa sich immer noch nicht besser. Zu ihren belastenden Gedanken des ganzen Tages kam nun auch noch die Verwirrung um das, was eben zwischen ihr und Joshua geschehen war. Für einen Moment starrte sie auf ihre Hand, auf der vor kurzer Zeit noch Joshuas gelegen hatte. Sie wusste immer noch nicht, ob sie das Gefühl, welches diese Erinnerung in ihr auslöste, gut oder schlecht fand.
Stöhnend ließ sie sich auf ihre weiße Couch fallen und starrte das Bild, das darüber hing, wie hypnotisiert an, als könne es ihr irgendwelche Antworten geben. Vor kurzem hatte sie einige kleine Veränderungen in ihrer Wohnung vorgenommen. Eigentlich hätte sie gerne noch mehr verändert, aber das Geld einer Studentin war trotz der großzügigen Überweisungen seitens ihrer Eltern auf ihr Giro-Konto nicht ausreichend für derartige Dinge.
Tessa rieb sich die Augen. Sie fühlte sich müde und verspannt, fast ein wenig kränklich. Sie fröstelte. Es war draußen noch warm, aber in der Wohnung hatte die Kühle der Herbstnächte bereits Spuren hinterlassen. Tessa schälte sich aus ihren Kleidern, die trotz des Kältegefühls verschwitzt waren, und tappste in Unterwäsche ins Badezimmer, wo sie sich gedankenverloren ein Bad einließ.
Im heißen Wasser fühlte sie, wie sich ihre verkrampften Muskeln langsam entspannten. Der feine Geruch von Rose und Sandelholz hüllte sie ein, als sie das Badeöl langsam in der Wanne verteilte. Seufzend lehnte Tessa sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Der Nachmittag zog noch einmal an ihren Augen vorbei. Ihr Herz hämmerte bei diesen Gedanken seltsam schnell gegen ihre Brust. Ob das vom heißen Wasser oder von den Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, kam, blieb dabei dahingestellt.
Vor Tessas innerem Auge erschien Joshuas Gesicht. Die markanten Gesichtszüge, das hervor gestreckte Kinn, die sanften, brauen Augen… dann wechselte das Bild und wurde zu einem anderen Gesicht, nicht minder anziehend… mit funkelnden, tiefsinnig und immer traurig blickenden blauen Augen… das braune Haar, das meist etwas ungepflegt ins Gesicht fiel… die markanten Gesichtszüge der hervorstehenden Wangenknochen…
Beide schienen nun nebeneinander zu stehen und sie fragend anzublicken. Jess auf gewohnte Weise mit seinen traurigen, aber unendlich tiefsinnig blickenden Augen… Joshua fast herausfordernd, kämpferisch…
Tessa schüttelte heftig den Kopf, und vertrieb die seltsamen Bilder so aus ihm.
„Was für ein Unsinn“, stieß sie stöhnend hervor, griff nach dem Naturschwamm, der stets am Rand der Badewanne lag und begann, das duftige warme Wasser auf ihrem Körper zu verteilen, was eine ungeheure Wohltat auslöste und sie erneut eine Zeitlang von ihren zerstreuten Gedanken abzubringen vermochte.
Nachdem sie eine Weile im duftig-warmen Wasser entspannt hatte, stieg sie schließlich seufzend aus der Wanne, hüllte sich in frische Unterwäsche und trocknete die Spitzen ihrer Haare. Wieder wanderten ihre Gedanken zu Joshua. Was sie mit ihm vereinbart hatte, war ein Date. Empfand er wirklich mehr für sie? Eigentlich war das doch offensichtlich.
Doch wie stand es um ihre eigenen Gefühle? Tessa vermochte es nicht zu sagen. Sie wusste nur, dass sich in ihr alles wie durcheinander gewürfelt anfühlte. Und genau das war es, was sich nicht richtig anfühlte!
„Da hast du dir ja ganz schön was eingebrockt“, sagte sie zerknirscht zu ihrem Spiegelbild, als wolle sie jenes dafür verantwortlich machen.
Sie spürte, dass die Unruhe sie nicht los ließ und entschied, dass sie dringend mit jemandem über das ganze Dilemma sprechen musste. Also griff sie zum Telefon und wählte Monikas Nummer. Sie hatte Glück, dass Freitag war, denn heute hatte ihre Freundin etwas früher Feierabend gemacht.
In wenigen Worten erklärte Tessa ihr, dass es ihr nicht gut ginge und sie heute Abend wenn möglich etwas Gesellschaft gut gebrauchen könnte.
Monika sagte sofort zu. Tessa seufzte. Vielleicht würde ihre Freundin ja helfen können, all diese widersprüchlichen Gedanken und Gefühle in geordnete Bahnen zu bringen.
Nachdem heißen Bad schien all die Kälte der Wohnung nicht mehr existent und Tessa schlüpfte rasch in eine Jeans und ein ärmelloses Top und nudelte sich ihre Haare an der Seite zusammen. Nur wenig später stand Monika vor der Tür und beide machten es sich vor dem Fernseher gemütlich. Monika spürte sofort, dass Tessa etwas auf der Seele lastete, doch sie schwieg und wartete, bis diese von selbst zu reden beginnen würde.
„Joshua hat sich für Sonntag mit mir verabredet“, platzte es plötzlich aus dieser heraus. Moni sah sie fragend an.
„Ist das… etwas ungewöhnliches?“ fragte sie dann verwirrt. „Ich meine, ihr ward in letzter Zeit häufig gemeinsam unterwegs, oder?“
Tessa atmete tief aus und schüttelte den Kopf. „Nein, das meine ich nicht. Wir treffen uns nicht einfach nur… er hat sich mit mir ver-ab-redet…“
Monika begriff und nickte einfach nur. Keine Überraschung war ihr ins Gesicht geschrieben, was Tessa verwirrte.
„Du findest das nicht irgendwie… erstaunlich?“
Monika lächelte. „Nein, Tessa, denn es war für mich nur eine Frage der Zeit, bis es dazu kommen würde.“
Tessa schluckte. War denn das, was zwischen ihr und Joshua war, so offensichtlich? Oder eher das, was NICHT zwischen ihnen war? Schon wieder schienen ihre Gedanken ein einziges verworrenes Knäuel zu sein.
„Ich hab es nicht so gesehen“, erwiderte sie darum nur. „Ich… ich bin furchtbar verwirrt, Moni…“
Monika sah Tessa lange an. „Hast du wirklich nicht bemerkt, dass Joshua mehr für dich empfinden könnte als reine Freundschaft?“
Tessa zuckte die Achseln. „Ach, ich … ich weiß es nicht. Irgendwie… ja, irgendwie schon. Aber wir sind nun schon so lange befreundet, schon seit mehr als zwei Monaten gehen wir regelmäßig miteinander weg. Es war immer sehr spaßig mit ihm… aber es gab nie echte Anzeichen dafür, dass da mehr sein könnte von seiner Seite aus.“
„Vielleicht wolltest du sie nur nicht sehen?“ gab Monika sanft zu bedenken.
Tessa seufzte. „Kann schon sein…“
„Und was ist mir dir, Tessa? Ist da bei dir mehr als bloße Freundschaft?“
Im Fernsehen quäkte irgendein hässlich gekleideter Sänger einen furchtbaren Schlager vor sich hin. Tessa schluckte.
„Ich weiß es nicht“, erwiderte sie schließlich. „Ich kann es nicht sagen, Monika… ich… ich fühle mich so unendlich verwirrt. Ich weiß nicht, was ich empfinde…“
„Oder weißt du nicht, was du empfinden DARFST?“
Tessa blickte ihre Freundin lange an und verzog dann das Gesicht.
„Es fühlt sich so falsch an, Moni… ich meine… wenn ich an Jess denke…“
Sie seufzte tief. „Ich weiß nicht, ob ich für Joshua mehr empfinde. Ich mag ihn. Ich mag ihn sogar sehr. Und es kribbelt, wenn ich ihn sehe, ja… ob es reichen würde, um…“, sie schien das Wort gar nicht aussprechen zu können , „das weiß ich nicht… aber ich kann doch nicht… ich meine… Jess ist gerade mal seit einem guten halben Jahr verschwunden. Es ist zu früh, oder?“
Monika sah sie sanft an und erwiderte dann langsam. „Tessa – für Trauer oder Vergeben gibt es keinen Zeitrahmen, den man festlegen kann. Ob es zu früh ist, kannst nur du allein entscheiden, aus deinem Herzen heraus. Und nur von dort. Und nicht aus Gewissensbissen oder Wertvorstellungen. Jess ist erst seit einem halben Jahr verschwunden, ja. Aber du hast ein Recht auf dein Leben. Und vor allem ein Recht auf Liebe. Und Glück.“
„Aber… ich… ich kann doch nicht…“, stammelte Tessa. „Moni – hieße das nicht automatisch, dass ich Jess aufgebe? Und jede Hoffnung darauf, dass er zurückkehren wird?“
Moni schüttelte den Kopf. „Das eine hat doch nichts mit dem anderen zu tun. Selbst wenn Jess zurück käme, wüsstest du nicht, ob ihre eure Beziehung fortführen könntet. Und Menschen ändern sich nun mal mit der Zeit. Auch du!“
„Aber – sieh dich doch an! Kevin ist seit zwei Jahren tot … und du… ich meine, du hast immer noch nicht…“
„Einen neuen Freund?“ erwiderte Monika und schnaubte. „Tessa, ich bin nicht das Maß aller Dinge! Erstens war ich viel länger mit Kevin zusammen als du mit Jess, ohne dass ich das nun als Maßstab nehmen will, dennoch… und zweitens ist Kevin tot…“
„Aber das spricht doch noch eher gegen mich!“ rief Tessa aus. „Du weißt, dass Kevin nie zurück kommen wird…“, fuhr sie dann sanft fort und drückte automatisch die Hand ihrer Freundin. „Aber ich weiß das bei Jess nicht… ich habe immer noch das Gefühl, ich bin es ihm schuldig, dass ich…“ Sie stockte.
„Auf ihn wartest?“ vollendete Monika ihren Satz. „Nein, Tessa, das bist du ihm eben nicht schuldig. Du hast ein Recht auf dein Leben… und was mich angeht… auch ich hatte schon andere Männer seit Kevin gestorben ist.“
„Davon hast du nie erzählt…“
„Weil es nicht erwähnenswert war. Ich war noch nicht in der Lage, eine echte Beziehung einzugehen. Aber ich sehne mich danach. Und ja, am Anfang war ich in der gleichen Lage wie du. Ich fragte mich, ob es nicht ein Verrat an der Liebe zu Kevin sei, wenn ich wieder versuche, glücklich zu sein… ob im Liebesleben, im Berufsleben oder Alltagsleben ganz allgemeinhin, aber besonders im Liebesleben. Doch ich habe einsehen müssen, dass es mir Kevin nicht wieder zurückbringt, wenn ich jeder Liebe und jedem Glück entsage… ganz im Gegenteil.“
Sie seufzte. „Das heißt nicht, dass ich ihn nicht trotzdem noch fast jeden Tag vermisse. Er ist hier drin…“ Sie legte die Hand auf ihre Brust und lächelte traurig. „In meinem Herzen. Und Jess ist in dem deinem! Du weißt nicht einmal, ob er noch lebt, Tessa… und du kannst nicht ewig auf ihn warten. Wenn du also etwas für Joshua empfindest, dann darfst du dies ohne schlechtes Gewissen. Nur du allein kannst entscheiden, wann die Zeit reif ist, wieder eine neue Liebe in dein Leben zu lassen!“
Tessa schluckte und starrte nachdenklich ins Leere.
„Ich weiß es nicht“, sagte sie dann langsam. „Du hast ja recht mit allem, was du sagst. Aber ich weiß nicht, ob ich schon bereit dazu bin. Was, wenn nicht?“
„Dann ist es eben so“, erwiderte Monika. „Du darfst dich nicht drängen. Wenn du noch ein Jahr brauchst, brauchst du noch ein Jahr. Wenn du noch einen Monat brauchst, einen Monat…“
„Aber Joshua scheint mehr für mich zu empfinden“, seufzte sie. „Ich will ihm nicht weh tun. Und er ist auch Felis Cousin. Ich meine… wenn ich ihn vor den Kopf stoße, dann stoße ich auch sie vor den Kopf… ich will nicht beide verlieren, weißt du…“
Monika nickte und sagte dann: „Joshua scheint ein lieber Kerl zu sein. Wenn du wirklich noch nicht so weit bist, dann wird er es sicher verstehen. Er kennt deine Geschichte und weiß, mit was er rechnen muss. Und Feli wird es auch verstehen. Selbst wenn Joshua danach nicht mehr mit dir zusammen sein möchte, auch nicht im freundschaftlichen Sinne. Aber vielleicht solltest du vorher noch einmal mit Feli sprechen, für alle Fälle. Es war nur fair, ihr alles zu sagen, oder?“
Tessa nickte. „Ja, du hast recht.“
„Aber du wirst zu dem Date gehen am Sonntag?“
„Ich weiß es nicht“, seufzte Tessa. „Ich bin mir furchtbar unsicher. Aber es ist bestimmt eine gute Idee mit Feli zu sprechen. Dann bin ich eine Sorge los…“
Sie griff nach ihrem Handy, das just in diesem Moment klingelte. „So ein Zufall“, lächelte sie. „Rate mal, wer das ist… hallo, Feli! Wie geht´s dir? Du, gut dass du anrufst…“
Am nächsten Tag traf Tessa sich am Nachmittag mit Feli. Sie hatten es sich in dem kleinen Garten hinter dem Mehrfamilienhaus, in dem sich Tessas Wohnung befand, gemütlich gemacht. Man hatte hier zwar nur den Blick auf einige schnöde Hinterhöfe und Hochhäuser, aber die Oktobersonne war noch so warm und milde, dass man jeden Strahl genießen musste.
Tessa hatte zwei Becher Saft mit nach unten gebracht und die wenigen Gartenmöbel, welche die Hausverwaltung hatte aufstellen lassen, mit einem feuchten Lappen vom Schmutz befreit.
Feli reckte das Kinn genießerisch Richtung Sonne. „Hach, der Herbst ist einfach toll, findest du nicht? Ich find´s zwar schade, dass der Sommer vorbei ist, aber irgendwie ist diese Jahreszeit doch schon was Besonderes…“
Tessa nickte. Wie besonders der Herbst für sie immer sein würde, konnte wohl niemand außer sie selbst begreifen.
„Hör mal, Feli“, begann sie zögerlich. „Ich muss mal mit dir reden, deswegen wollt ich dich auch auf jeden Fall noch heute sehen.“
Feli nickte und trank einen Schluck von dem kühlen Saft. „Ich hab mir sowas schon gedacht, als du gestern am Telefon so geheimnisvoll geklungen hast. Was ist los, Tessa? Ist was passiert?“
Tessa schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich… oder doch… ich weiß nicht so recht…“
Feli lachte. „Was ist denn mit dir? Du bist schon seit Tagen so zerstreut…“
Tessa lächelte. „Ja, ich weiß… das ist auch der Grund, warum ich mit dir reden muss…“
„Es geht um folgendes… Joshua und haben morgen eine Verabre… ein Date.“
Feli verschluckte sich fast an ihrem Saft und keuchte zwischen zwei heiseren Hustern.
„Ja himmel, dass er sich das noch mal traut, hätt ich gar nicht mehr für möglich gehalten!“
Tessa verzog das Gesicht. „Wusste hier eigentlich jeder aus mir, dass Joshua mehr als Freundschaft empfindet?“
Feli grinste. „Nein, es gibt da schon einige Menschen, die das noch nicht begriffen haben – abgesehen von dir natürlich. Ich tippe da beispielsweise auf den Hausmeister des Universitätsgebäudes, will mich aber nicht festlegen. Definitiv im Unwissen dürften auch die Bundeskanzlerin und der Dalaih Lama sein – wobei bei letzterem bin ich mir nicht ganz sicher, der hat schließlich Fähigkeiten, von denen wir alle noch was abkucken können.“
Tessa verzog säuerlich das Gesicht. „Lass die Scherze“, brummte sie. „Wenn du Bescheid wusstest, warum hast du mir dann nie was gesagt?“
„Süße, erstens hast du Augen im Kopf und zweitens musstest du das wohl von allein raus finden. Es war nie eine Frage, ob Joshua mehr für dich empfindet, sondern wie es um dich steht.“
Tessa seufzte. „Das ist der Knackpunkt“, sagte sie. „Hat Joshua jemals mit dir darüber geredet?“
Feli nickte. „Ja, aber nicht viel. Unser Verhältnis ist nicht so innig, weißt du. Nicht, dass wir uns nicht mögen oder so, aber wir hängen jetzt nicht ständig zusammen, nur weil wir verwandt sind… ich hab ihm damals gesagt, dass ich es nicht einschätzen kann. Und das kann ich wirklich nicht, auch jetzt…“
Es schien mehr eine Frage als eine Feststellung zu sein.
„Naja“, sagte Tessa langsam. „Ehrlich gesagt weiß ich es auch nicht so recht, Feli… ich mag Joshua schon sehr gerne und irgendwie ist da auch schon ein bisschen mehr als Freundschaft… aber weißt du, es ist alles nicht so einfach…“
Sie seufzte. Seit dem Gespräch mit Monika hatte sie sich viele Gedanken gemacht, war sich ihrer Gefühle aber noch genauso unsicher wie am Abend zuvor.
„Ich weiß einfach noch nicht, ob ich schon bereit bin, eine neue Liebe zuzulassen“, schloss sie schließlich und sah Feli offen an. „Ich mag Joshua sehr, er ist so ein lieber Kerl…“, sie lächelte, „ und er sieht auch gut aus…“
„Aber in deinem Herzen ist immer noch ganz viel Jess, oder?“, vervollständigte Feli ihren Satz.
Tessa nickte. „Ja, ich fürchte schon. Es ist noch nicht allzu lange her, weißt du. Es scheint mir zwar manchmal, als sei es in einem anderen Leben gewesen… weil sich alles so sehr verändert hat. Aber ich bin in mir doch noch dieselbe. Und ich weiß nicht, ob ich schon einen anderen Mann in mein Leben lassen kann… darf…“
Feli nickte verständnisvoll. „Ich hab mir das gedacht. Und Joshua bestimmt auch, er kennt die Geschichte ja…“
Sie schwieg einen Moment und blickte in die sich langsam hinter die Fassaden der Häuser herabsenkende Sonne.
„Hast du ein schlechtes Gewissen wegen Jess?“
„Ein bisschen, ja“, antwortete Tessa. „Ich hab gestern lang mit Moni gesprochen. Sie sagte, ich solle selbst entscheiden, ob es zu früh ist oder nicht… und ich könne nicht ewig auf Jess warten.“
„Ich kann nicht aus der Erfahrung sprechen, die Moni hat“, sagte Feli. „Gott sei dank kann ich das nicht. Und doch seh ich es ähnlich wie sie, Tessa. Du bist erst zwanzig, knapp einundzwanzig… du hast noch so viel vor dir… und ob Jess jemals wiederkommt…“
„Ich weiß… das kann niemand sagen.“ Sie schaute traurig in die verfärbten Blätter der vereinzelten Bäume um sich herum. „Ich kann im Moment nicht sagen, was morgen geschehen wird. Aber ich wollte mir dir reden und dir offen sagen, dass ich mir meiner Gefühle nicht sicher bin. Bist du mir böse?“
Feli sah sie irritiert an. „Wieso sollte ich?“
„Naja – Joshua ist dein Cousin…“
„Und du eine meiner besten Freundinnen! Bande, die noch stärker sind, wie ich meinen will!“
Sie lächelte sanft. „Ich weiß, worauf du hinaus willst, Tessa. Aber ich bin dir nicht böse, wenn du nicht mit Joshua zusammen sein kannst oder willst. Das wird an unserer Freundschaft kein bisschen was ändern.“
Tessa lächelte erleichtert. „Wirklich? Ich will Joshua nicht weh tun, Feli… und auch dir nicht.“
„Erstens identifiziere ich mich nicht mit jedem meiner etlichen Cousins“, erwiderte Feli augenzwinkernd. „Von denen es so viele gibt, dass ich nichtmal alle kenne – meine Eltern hatten jeweils acht Geschwister, wie du weißt… und zweitens glaube ich auch, dass Joshua genau weiß, worauf er sich einlässt. Wenn du noch nicht bereit bist, dann sag ihm das und erklär es ihm. Ich kenne ihn gut genug um zu wissen, dass er dir das nicht übel nehmen wird…“
Tessa sah sie erleichtert an. „Meinst du? Ich hab die ganze Zeit überlegt, ob ich mich überhaupt mit ihm treffen soll, um ihn nicht falsche Hoffnungen zu machen… aber genau das ist es ja… ich weiß nicht, ob es falsche Hoffnungen wären. Ich fühl mich so wohl in seiner Nähe, Feli… und ich mag ihn wirklich sehr.“
Feli lächelte Tessa sanft an. „Tessa – ich geb dir jetzt mal einen guten Rat. Mach dich nicht verrückt. Triff dich morgen mit Joshua und schau einfach, was passiert. Du wirst herausfinden, ob deine Gefühle für ihn stark genug sind und ob die Zeit reif für eine neue Liebe ist. Wenn nicht, dann erklärst du es ihm… morgen um die Zeit wirst du dich klarer fühlen, so oder so… gib dich dem Ganzen einfach hin, lass dich einfach einmal fallen, Tessa. Dein Herz wird dir schon sagen, was die Wahrheit ist.“
Tessa sah Feli dankbar an. „Ja, Feli. Ja, du hast recht…“
Und während die Sonne hinter den Häusern versank und das Firmament in gold-roten Tönen färbte, verabschiedeten sich die beiden Freundinnen voneinander mit dem Gefühl, einander noch näher gekommen zu sein.
Fortsetzung folgt.
Zweifel
Zuhause angekommen fühlte Tessa sich immer noch nicht besser. Zu ihren belastenden Gedanken des ganzen Tages kam nun auch noch die Verwirrung um das, was eben zwischen ihr und Joshua geschehen war. Für einen Moment starrte sie auf ihre Hand, auf der vor kurzer Zeit noch Joshuas gelegen hatte. Sie wusste immer noch nicht, ob sie das Gefühl, welches diese Erinnerung in ihr auslöste, gut oder schlecht fand.
Stöhnend ließ sie sich auf ihre weiße Couch fallen und starrte das Bild, das darüber hing, wie hypnotisiert an, als könne es ihr irgendwelche Antworten geben. Vor kurzem hatte sie einige kleine Veränderungen in ihrer Wohnung vorgenommen. Eigentlich hätte sie gerne noch mehr verändert, aber das Geld einer Studentin war trotz der großzügigen Überweisungen seitens ihrer Eltern auf ihr Giro-Konto nicht ausreichend für derartige Dinge.
Tessa rieb sich die Augen. Sie fühlte sich müde und verspannt, fast ein wenig kränklich. Sie fröstelte. Es war draußen noch warm, aber in der Wohnung hatte die Kühle der Herbstnächte bereits Spuren hinterlassen. Tessa schälte sich aus ihren Kleidern, die trotz des Kältegefühls verschwitzt waren, und tappste in Unterwäsche ins Badezimmer, wo sie sich gedankenverloren ein Bad einließ.

Im heißen Wasser fühlte sie, wie sich ihre verkrampften Muskeln langsam entspannten. Der feine Geruch von Rose und Sandelholz hüllte sie ein, als sie das Badeöl langsam in der Wanne verteilte. Seufzend lehnte Tessa sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. Der Nachmittag zog noch einmal an ihren Augen vorbei. Ihr Herz hämmerte bei diesen Gedanken seltsam schnell gegen ihre Brust. Ob das vom heißen Wasser oder von den Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, kam, blieb dabei dahingestellt.
Vor Tessas innerem Auge erschien Joshuas Gesicht. Die markanten Gesichtszüge, das hervor gestreckte Kinn, die sanften, brauen Augen… dann wechselte das Bild und wurde zu einem anderen Gesicht, nicht minder anziehend… mit funkelnden, tiefsinnig und immer traurig blickenden blauen Augen… das braune Haar, das meist etwas ungepflegt ins Gesicht fiel… die markanten Gesichtszüge der hervorstehenden Wangenknochen…

Beide schienen nun nebeneinander zu stehen und sie fragend anzublicken. Jess auf gewohnte Weise mit seinen traurigen, aber unendlich tiefsinnig blickenden Augen… Joshua fast herausfordernd, kämpferisch…
Tessa schüttelte heftig den Kopf, und vertrieb die seltsamen Bilder so aus ihm.
„Was für ein Unsinn“, stieß sie stöhnend hervor, griff nach dem Naturschwamm, der stets am Rand der Badewanne lag und begann, das duftige warme Wasser auf ihrem Körper zu verteilen, was eine ungeheure Wohltat auslöste und sie erneut eine Zeitlang von ihren zerstreuten Gedanken abzubringen vermochte.

Nachdem sie eine Weile im duftig-warmen Wasser entspannt hatte, stieg sie schließlich seufzend aus der Wanne, hüllte sich in frische Unterwäsche und trocknete die Spitzen ihrer Haare. Wieder wanderten ihre Gedanken zu Joshua. Was sie mit ihm vereinbart hatte, war ein Date. Empfand er wirklich mehr für sie? Eigentlich war das doch offensichtlich.
Doch wie stand es um ihre eigenen Gefühle? Tessa vermochte es nicht zu sagen. Sie wusste nur, dass sich in ihr alles wie durcheinander gewürfelt anfühlte. Und genau das war es, was sich nicht richtig anfühlte!
„Da hast du dir ja ganz schön was eingebrockt“, sagte sie zerknirscht zu ihrem Spiegelbild, als wolle sie jenes dafür verantwortlich machen.

Sie spürte, dass die Unruhe sie nicht los ließ und entschied, dass sie dringend mit jemandem über das ganze Dilemma sprechen musste. Also griff sie zum Telefon und wählte Monikas Nummer. Sie hatte Glück, dass Freitag war, denn heute hatte ihre Freundin etwas früher Feierabend gemacht.
In wenigen Worten erklärte Tessa ihr, dass es ihr nicht gut ginge und sie heute Abend wenn möglich etwas Gesellschaft gut gebrauchen könnte.
Monika sagte sofort zu. Tessa seufzte. Vielleicht würde ihre Freundin ja helfen können, all diese widersprüchlichen Gedanken und Gefühle in geordnete Bahnen zu bringen.
Nachdem heißen Bad schien all die Kälte der Wohnung nicht mehr existent und Tessa schlüpfte rasch in eine Jeans und ein ärmelloses Top und nudelte sich ihre Haare an der Seite zusammen. Nur wenig später stand Monika vor der Tür und beide machten es sich vor dem Fernseher gemütlich. Monika spürte sofort, dass Tessa etwas auf der Seele lastete, doch sie schwieg und wartete, bis diese von selbst zu reden beginnen würde.

„Joshua hat sich für Sonntag mit mir verabredet“, platzte es plötzlich aus dieser heraus. Moni sah sie fragend an.
„Ist das… etwas ungewöhnliches?“ fragte sie dann verwirrt. „Ich meine, ihr ward in letzter Zeit häufig gemeinsam unterwegs, oder?“
Tessa atmete tief aus und schüttelte den Kopf. „Nein, das meine ich nicht. Wir treffen uns nicht einfach nur… er hat sich mit mir ver-ab-redet…“

Monika begriff und nickte einfach nur. Keine Überraschung war ihr ins Gesicht geschrieben, was Tessa verwirrte.
„Du findest das nicht irgendwie… erstaunlich?“
Monika lächelte. „Nein, Tessa, denn es war für mich nur eine Frage der Zeit, bis es dazu kommen würde.“
Tessa schluckte. War denn das, was zwischen ihr und Joshua war, so offensichtlich? Oder eher das, was NICHT zwischen ihnen war? Schon wieder schienen ihre Gedanken ein einziges verworrenes Knäuel zu sein.
„Ich hab es nicht so gesehen“, erwiderte sie darum nur. „Ich… ich bin furchtbar verwirrt, Moni…“

Monika sah Tessa lange an. „Hast du wirklich nicht bemerkt, dass Joshua mehr für dich empfinden könnte als reine Freundschaft?“
Tessa zuckte die Achseln. „Ach, ich … ich weiß es nicht. Irgendwie… ja, irgendwie schon. Aber wir sind nun schon so lange befreundet, schon seit mehr als zwei Monaten gehen wir regelmäßig miteinander weg. Es war immer sehr spaßig mit ihm… aber es gab nie echte Anzeichen dafür, dass da mehr sein könnte von seiner Seite aus.“
„Vielleicht wolltest du sie nur nicht sehen?“ gab Monika sanft zu bedenken.
Tessa seufzte. „Kann schon sein…“
„Und was ist mir dir, Tessa? Ist da bei dir mehr als bloße Freundschaft?“
Im Fernsehen quäkte irgendein hässlich gekleideter Sänger einen furchtbaren Schlager vor sich hin. Tessa schluckte.

„Ich weiß es nicht“, erwiderte sie schließlich. „Ich kann es nicht sagen, Monika… ich… ich fühle mich so unendlich verwirrt. Ich weiß nicht, was ich empfinde…“
„Oder weißt du nicht, was du empfinden DARFST?“
Tessa blickte ihre Freundin lange an und verzog dann das Gesicht.
„Es fühlt sich so falsch an, Moni… ich meine… wenn ich an Jess denke…“

Sie seufzte tief. „Ich weiß nicht, ob ich für Joshua mehr empfinde. Ich mag ihn. Ich mag ihn sogar sehr. Und es kribbelt, wenn ich ihn sehe, ja… ob es reichen würde, um…“, sie schien das Wort gar nicht aussprechen zu können , „das weiß ich nicht… aber ich kann doch nicht… ich meine… Jess ist gerade mal seit einem guten halben Jahr verschwunden. Es ist zu früh, oder?“
Monika sah sie sanft an und erwiderte dann langsam. „Tessa – für Trauer oder Vergeben gibt es keinen Zeitrahmen, den man festlegen kann. Ob es zu früh ist, kannst nur du allein entscheiden, aus deinem Herzen heraus. Und nur von dort. Und nicht aus Gewissensbissen oder Wertvorstellungen. Jess ist erst seit einem halben Jahr verschwunden, ja. Aber du hast ein Recht auf dein Leben. Und vor allem ein Recht auf Liebe. Und Glück.“
„Aber… ich… ich kann doch nicht…“, stammelte Tessa. „Moni – hieße das nicht automatisch, dass ich Jess aufgebe? Und jede Hoffnung darauf, dass er zurückkehren wird?“
Moni schüttelte den Kopf. „Das eine hat doch nichts mit dem anderen zu tun. Selbst wenn Jess zurück käme, wüsstest du nicht, ob ihre eure Beziehung fortführen könntet. Und Menschen ändern sich nun mal mit der Zeit. Auch du!“

„Aber – sieh dich doch an! Kevin ist seit zwei Jahren tot … und du… ich meine, du hast immer noch nicht…“
„Einen neuen Freund?“ erwiderte Monika und schnaubte. „Tessa, ich bin nicht das Maß aller Dinge! Erstens war ich viel länger mit Kevin zusammen als du mit Jess, ohne dass ich das nun als Maßstab nehmen will, dennoch… und zweitens ist Kevin tot…“
„Aber das spricht doch noch eher gegen mich!“ rief Tessa aus. „Du weißt, dass Kevin nie zurück kommen wird…“, fuhr sie dann sanft fort und drückte automatisch die Hand ihrer Freundin. „Aber ich weiß das bei Jess nicht… ich habe immer noch das Gefühl, ich bin es ihm schuldig, dass ich…“ Sie stockte.
„Auf ihn wartest?“ vollendete Monika ihren Satz. „Nein, Tessa, das bist du ihm eben nicht schuldig. Du hast ein Recht auf dein Leben… und was mich angeht… auch ich hatte schon andere Männer seit Kevin gestorben ist.“

„Davon hast du nie erzählt…“
„Weil es nicht erwähnenswert war. Ich war noch nicht in der Lage, eine echte Beziehung einzugehen. Aber ich sehne mich danach. Und ja, am Anfang war ich in der gleichen Lage wie du. Ich fragte mich, ob es nicht ein Verrat an der Liebe zu Kevin sei, wenn ich wieder versuche, glücklich zu sein… ob im Liebesleben, im Berufsleben oder Alltagsleben ganz allgemeinhin, aber besonders im Liebesleben. Doch ich habe einsehen müssen, dass es mir Kevin nicht wieder zurückbringt, wenn ich jeder Liebe und jedem Glück entsage… ganz im Gegenteil.“
Sie seufzte. „Das heißt nicht, dass ich ihn nicht trotzdem noch fast jeden Tag vermisse. Er ist hier drin…“ Sie legte die Hand auf ihre Brust und lächelte traurig. „In meinem Herzen. Und Jess ist in dem deinem! Du weißt nicht einmal, ob er noch lebt, Tessa… und du kannst nicht ewig auf ihn warten. Wenn du also etwas für Joshua empfindest, dann darfst du dies ohne schlechtes Gewissen. Nur du allein kannst entscheiden, wann die Zeit reif ist, wieder eine neue Liebe in dein Leben zu lassen!“
Tessa schluckte und starrte nachdenklich ins Leere.

„Ich weiß es nicht“, sagte sie dann langsam. „Du hast ja recht mit allem, was du sagst. Aber ich weiß nicht, ob ich schon bereit dazu bin. Was, wenn nicht?“
„Dann ist es eben so“, erwiderte Monika. „Du darfst dich nicht drängen. Wenn du noch ein Jahr brauchst, brauchst du noch ein Jahr. Wenn du noch einen Monat brauchst, einen Monat…“
„Aber Joshua scheint mehr für mich zu empfinden“, seufzte sie. „Ich will ihm nicht weh tun. Und er ist auch Felis Cousin. Ich meine… wenn ich ihn vor den Kopf stoße, dann stoße ich auch sie vor den Kopf… ich will nicht beide verlieren, weißt du…“
Monika nickte und sagte dann: „Joshua scheint ein lieber Kerl zu sein. Wenn du wirklich noch nicht so weit bist, dann wird er es sicher verstehen. Er kennt deine Geschichte und weiß, mit was er rechnen muss. Und Feli wird es auch verstehen. Selbst wenn Joshua danach nicht mehr mit dir zusammen sein möchte, auch nicht im freundschaftlichen Sinne. Aber vielleicht solltest du vorher noch einmal mit Feli sprechen, für alle Fälle. Es war nur fair, ihr alles zu sagen, oder?“
Tessa nickte. „Ja, du hast recht.“
„Aber du wirst zu dem Date gehen am Sonntag?“
„Ich weiß es nicht“, seufzte Tessa. „Ich bin mir furchtbar unsicher. Aber es ist bestimmt eine gute Idee mit Feli zu sprechen. Dann bin ich eine Sorge los…“
Sie griff nach ihrem Handy, das just in diesem Moment klingelte. „So ein Zufall“, lächelte sie. „Rate mal, wer das ist… hallo, Feli! Wie geht´s dir? Du, gut dass du anrufst…“

Am nächsten Tag traf Tessa sich am Nachmittag mit Feli. Sie hatten es sich in dem kleinen Garten hinter dem Mehrfamilienhaus, in dem sich Tessas Wohnung befand, gemütlich gemacht. Man hatte hier zwar nur den Blick auf einige schnöde Hinterhöfe und Hochhäuser, aber die Oktobersonne war noch so warm und milde, dass man jeden Strahl genießen musste.
Tessa hatte zwei Becher Saft mit nach unten gebracht und die wenigen Gartenmöbel, welche die Hausverwaltung hatte aufstellen lassen, mit einem feuchten Lappen vom Schmutz befreit.
Feli reckte das Kinn genießerisch Richtung Sonne. „Hach, der Herbst ist einfach toll, findest du nicht? Ich find´s zwar schade, dass der Sommer vorbei ist, aber irgendwie ist diese Jahreszeit doch schon was Besonderes…“

Tessa nickte. Wie besonders der Herbst für sie immer sein würde, konnte wohl niemand außer sie selbst begreifen.
„Hör mal, Feli“, begann sie zögerlich. „Ich muss mal mit dir reden, deswegen wollt ich dich auch auf jeden Fall noch heute sehen.“
Feli nickte und trank einen Schluck von dem kühlen Saft. „Ich hab mir sowas schon gedacht, als du gestern am Telefon so geheimnisvoll geklungen hast. Was ist los, Tessa? Ist was passiert?“
Tessa schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich… oder doch… ich weiß nicht so recht…“
Feli lachte. „Was ist denn mit dir? Du bist schon seit Tagen so zerstreut…“
Tessa lächelte. „Ja, ich weiß… das ist auch der Grund, warum ich mit dir reden muss…“

„Es geht um folgendes… Joshua und haben morgen eine Verabre… ein Date.“
Feli verschluckte sich fast an ihrem Saft und keuchte zwischen zwei heiseren Hustern.
„Ja himmel, dass er sich das noch mal traut, hätt ich gar nicht mehr für möglich gehalten!“
Tessa verzog das Gesicht. „Wusste hier eigentlich jeder aus mir, dass Joshua mehr als Freundschaft empfindet?“
Feli grinste. „Nein, es gibt da schon einige Menschen, die das noch nicht begriffen haben – abgesehen von dir natürlich. Ich tippe da beispielsweise auf den Hausmeister des Universitätsgebäudes, will mich aber nicht festlegen. Definitiv im Unwissen dürften auch die Bundeskanzlerin und der Dalaih Lama sein – wobei bei letzterem bin ich mir nicht ganz sicher, der hat schließlich Fähigkeiten, von denen wir alle noch was abkucken können.“

Tessa verzog säuerlich das Gesicht. „Lass die Scherze“, brummte sie. „Wenn du Bescheid wusstest, warum hast du mir dann nie was gesagt?“
„Süße, erstens hast du Augen im Kopf und zweitens musstest du das wohl von allein raus finden. Es war nie eine Frage, ob Joshua mehr für dich empfindet, sondern wie es um dich steht.“
Tessa seufzte. „Das ist der Knackpunkt“, sagte sie. „Hat Joshua jemals mit dir darüber geredet?“
Feli nickte. „Ja, aber nicht viel. Unser Verhältnis ist nicht so innig, weißt du. Nicht, dass wir uns nicht mögen oder so, aber wir hängen jetzt nicht ständig zusammen, nur weil wir verwandt sind… ich hab ihm damals gesagt, dass ich es nicht einschätzen kann. Und das kann ich wirklich nicht, auch jetzt…“
Es schien mehr eine Frage als eine Feststellung zu sein.

„Naja“, sagte Tessa langsam. „Ehrlich gesagt weiß ich es auch nicht so recht, Feli… ich mag Joshua schon sehr gerne und irgendwie ist da auch schon ein bisschen mehr als Freundschaft… aber weißt du, es ist alles nicht so einfach…“
Sie seufzte. Seit dem Gespräch mit Monika hatte sie sich viele Gedanken gemacht, war sich ihrer Gefühle aber noch genauso unsicher wie am Abend zuvor.
„Ich weiß einfach noch nicht, ob ich schon bereit bin, eine neue Liebe zuzulassen“, schloss sie schließlich und sah Feli offen an. „Ich mag Joshua sehr, er ist so ein lieber Kerl…“, sie lächelte, „ und er sieht auch gut aus…“

„Aber in deinem Herzen ist immer noch ganz viel Jess, oder?“, vervollständigte Feli ihren Satz.
Tessa nickte. „Ja, ich fürchte schon. Es ist noch nicht allzu lange her, weißt du. Es scheint mir zwar manchmal, als sei es in einem anderen Leben gewesen… weil sich alles so sehr verändert hat. Aber ich bin in mir doch noch dieselbe. Und ich weiß nicht, ob ich schon einen anderen Mann in mein Leben lassen kann… darf…“
Feli nickte verständnisvoll. „Ich hab mir das gedacht. Und Joshua bestimmt auch, er kennt die Geschichte ja…“
Sie schwieg einen Moment und blickte in die sich langsam hinter die Fassaden der Häuser herabsenkende Sonne.
„Hast du ein schlechtes Gewissen wegen Jess?“

„Ein bisschen, ja“, antwortete Tessa. „Ich hab gestern lang mit Moni gesprochen. Sie sagte, ich solle selbst entscheiden, ob es zu früh ist oder nicht… und ich könne nicht ewig auf Jess warten.“
„Ich kann nicht aus der Erfahrung sprechen, die Moni hat“, sagte Feli. „Gott sei dank kann ich das nicht. Und doch seh ich es ähnlich wie sie, Tessa. Du bist erst zwanzig, knapp einundzwanzig… du hast noch so viel vor dir… und ob Jess jemals wiederkommt…“
„Ich weiß… das kann niemand sagen.“ Sie schaute traurig in die verfärbten Blätter der vereinzelten Bäume um sich herum. „Ich kann im Moment nicht sagen, was morgen geschehen wird. Aber ich wollte mir dir reden und dir offen sagen, dass ich mir meiner Gefühle nicht sicher bin. Bist du mir böse?“
Feli sah sie irritiert an. „Wieso sollte ich?“
„Naja – Joshua ist dein Cousin…“
„Und du eine meiner besten Freundinnen! Bande, die noch stärker sind, wie ich meinen will!“
Sie lächelte sanft. „Ich weiß, worauf du hinaus willst, Tessa. Aber ich bin dir nicht böse, wenn du nicht mit Joshua zusammen sein kannst oder willst. Das wird an unserer Freundschaft kein bisschen was ändern.“

Tessa lächelte erleichtert. „Wirklich? Ich will Joshua nicht weh tun, Feli… und auch dir nicht.“
„Erstens identifiziere ich mich nicht mit jedem meiner etlichen Cousins“, erwiderte Feli augenzwinkernd. „Von denen es so viele gibt, dass ich nichtmal alle kenne – meine Eltern hatten jeweils acht Geschwister, wie du weißt… und zweitens glaube ich auch, dass Joshua genau weiß, worauf er sich einlässt. Wenn du noch nicht bereit bist, dann sag ihm das und erklär es ihm. Ich kenne ihn gut genug um zu wissen, dass er dir das nicht übel nehmen wird…“
Tessa sah sie erleichtert an. „Meinst du? Ich hab die ganze Zeit überlegt, ob ich mich überhaupt mit ihm treffen soll, um ihn nicht falsche Hoffnungen zu machen… aber genau das ist es ja… ich weiß nicht, ob es falsche Hoffnungen wären. Ich fühl mich so wohl in seiner Nähe, Feli… und ich mag ihn wirklich sehr.“

Feli lächelte Tessa sanft an. „Tessa – ich geb dir jetzt mal einen guten Rat. Mach dich nicht verrückt. Triff dich morgen mit Joshua und schau einfach, was passiert. Du wirst herausfinden, ob deine Gefühle für ihn stark genug sind und ob die Zeit reif für eine neue Liebe ist. Wenn nicht, dann erklärst du es ihm… morgen um die Zeit wirst du dich klarer fühlen, so oder so… gib dich dem Ganzen einfach hin, lass dich einfach einmal fallen, Tessa. Dein Herz wird dir schon sagen, was die Wahrheit ist.“
Tessa sah Feli dankbar an. „Ja, Feli. Ja, du hast recht…“
Und während die Sonne hinter den Häusern versank und das Firmament in gold-roten Tönen färbte, verabschiedeten sich die beiden Freundinnen voneinander mit dem Gefühl, einander noch näher gekommen zu sein.

Fortsetzung folgt.
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