...Fortsetzung
„Wie wäre es, wenn du mir mal alles erzählen würdest, Therese?“ sagte ich. „Bisher kommst du immer nur mit deinen grandiosen Entdeckungen, wenn ich irgendwas in die Richtung erwähne… Aber von selbst sagst du kein Wort!“ Sie legte einen grummeligen Gesichtsausdruck auf. „Weißt du, ich erzähle nichts, bis ich nicht sicher bin, daß es andere auch wahrnehmen. Komm mit, Klumpfuß, dann zeig’ ich dir, was ich meine!“ Sie zog mich aus dem Bett und stolperte zur Tür heraus.
Während ich auf eiernden Beinen hinter ihr her taumelte, erspähte ich aus dem Augenwinkel den Jungen, dem ich im Treppenhaus auf die Finger getreten war. Er verharrte in seiner Position, als hätte ich ihn bei etwas Verbotenem ertappt. Und als wollte man mir zeigen, daß ich recht hatte, versteckte er in einer hastigen Bewegung ein großes Stück rohes Fleisch hinter dem Rücken. Eigentlich war das ja nichts neues. Wenn jemand mal in den Genuß kam, Nahrung für sich beanspruchen zu können, so wollte er es auch für sich haben und verteidigte es mit allen Mitteln, wenn jemand auf die präkere Idee kommen sollte, es stehlen zu wollen. Doch schien mir der Fleischklumpen etwas zu groß für eine Ratte, was natürlich auch daran gelegen haben könnte, daß ich ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde gesehen hatte. Ich wollte die Geschichte schon gedanklich zu den Akten legen, da fiel mir ein weiteres Kind auf, das an einem großen Stück Fleisch herumkaute. Wo um alles in der Welt hatten sie plötzlich das Essen her? Ich wollte meinem Zweifel gerade verbalen Ausdruck verleihen, da schleifte Therese mich schon aus dem Heim in den diesig-nebligen Morgen hinein.
„So, wir machen jetzt einen kleinen Spaziergang!“ sagte sie fest entschlossen, während ich Mühe hatte, ihrem schnellen Schritt zu folgen. „Wo gehen wir hin?“ fragte ich.
„Weit genug weg, um den Stillstand zu sehen.“ antwortete sie.
Na das war ja mal eine grandiose Idee. Ich war gerade zuhause und froh darum, aus diesem surrealen Loch in der Zeit herausgekommen zu sein, da durfte ich mir diesen Zustand nochmal ansehen. Es war ja nicht gerade so, daß mich das alles vor einigen Stunden noch in übermäßige Panik getrieben hatte. Trotzdem hatte ich das Gefühl, daß es mich ein Stückchen weiter auf der Suche nach der Wahrheit brachte, wenn ich Therese folgte.
Nachdem ich einige Zeit still hinter ihr hergetrottet war, hielt sie an.
„Merkst du das?“ fragte sie und schaute mich mit großen Augen an.
„Was merken?“
„Genau!“ fuhr sie fort. „Nichts. Da ist rein gar nichts.“
Sie hatte recht. Man konnte die erdrückende Leere beinahe spüren. Kein Luftzug wehte, kein Grashalm bewegte sich und es gab nicht ein Geräusch. Mir wurde mulmig in der Magengrube.
„Das ist gruselig!“ bemerkte ich, während ich mich umschaute. Das Heim war klein und weit weg im Nebel hinter uns, während vor uns die lange Straße lag, die runter ins Dorf führte.
„Gruselig ist gar kein Ausdruck, James.“ entgegnete Therese. „Wir haben Sommer. Siehst du irgendwo hier Insekten? Wenn du auch nur eine Ameise findest, freß ich nen Besen!“
Ich brauchte gar nicht erst den Boden inspizieren, um zu wissen, daß Therese recht hatte.
„Wenn wir hier im Zeitstillstand sind und alles tatsächlich so ist, wie du es sagst…“ meinte ich. „…dann bedeutet das, daß du auch zu den Menschen gehörst, die im Stillstand existieren können.“ Therese stieß ein schallendes Gelächter aus. „Du hast recht, James!“ pflichtete sie mir bei. „Wir sind also etwas besonderes!“
„Es scheint so.“ sagte ich. „Aber würdest du nicht auch gerne wissen, warum? Oder inwiefern wir besonders sind? Willst du nicht auch wissen, warum das alles hier so verteufelt irreal erscheint? Einfach nur die verfluchte Wahrheit erfahren?“
Sie stoppte abrupt ihr Lachen. „Die traurige Wahrheit ist, daß ich mit meinen Spekulationen am Ende bin, James.“ entgegnete sie monoton. „Ich habe mir über all diese Beobachtungen den Kopf zermartert, und all das ergibt kein vollständiges Bild. Eher noch habe ich von einem tausend-Teile-Puzzle gerade mal 10 Teile, die nicht den geringsten Aufschluß darüber geben, wie das Bild im Ganzen aussieht. Wir haben keinen weiteren Hinweis, James. Keinen!“
„Vielleicht gibt es doch noch einen.“ sagte ich kaum hörbar und es erschien mir als passender Zeitpunkt, meine Träume auf den Tisch zu bringen.
„Welchen?“ fragte Therese und starrte mich durchdringend an, als würde mich die nächste Ohrfeige erwarten, wenn ich nicht sofort redete.
„Meine Träume.“ antwortete ich.
Eine Weile schaute ich Therese an, fest in der Annahme, daß sie jetzt ein desinteressiertes Gesicht zog, oder irgendwie anders zum Ausdruck brachte, daß ich meine kleinen Hirngespinste doch bitte für mich behalten sollte. Aber nichts dergleichen trat ein. Eher noch schaute sie mit einem erwartungsvollen Blick drein, der mir signalisierte, daß ich weiter erzählen sollte.
„Also, ich bin mir nicht mehr ganz sicher, Therese…“ begann ich. „…alles wirkt mit zunehmender Zeit … surrealer! Es ist, als verschwimmen immer mehr Details von dem, was ich weiß. Aber ich …. Ich habe mal unter sehr realistischen Alpträumen gelitten.“
Ich wartete erneut auf eine Reaktion von Therese und als diese abermals ausblieb, erzählte ich weiter.
„Es waren Träume von einer dunklen Person, ich habe nie ihr Gesicht gesehen. Aber ich weiß noch, da war was mit Toten und ich mußte etwas tun. Das alles ist schon sehr lange her, und ich kann mich kaum noch daran erinnern.“
„Aber ich kann!“ unterbrach sie mich. „Ich weiß noch, als wäre es gestern gewesen, wo du das ganze Heim zusammengeschrien hast wegen deinen beknackten Alpträumen. Und immer hast du gemeckert ‚Therese, Therese, ich werde nie wieder schlafen!’ – Das war die Nacht, wo du angefangen hast, zu hinken.“
„Ja genau…“ stimmte ich zu. „Aber das ist es nicht , worauf ich hinaus will. Viel eher ist es so, daß sich mit der Zeit meine Träume geändert haben. Ich weiß, es klingt blöd… Aber irgendwann wurden diese Alpträume immer…. traumhafter!“
„Was sollten sie auch sonst sein? Es sind immerhin Träume!“ erklärte sie.
„Ja, aber…“ Ich stotterte mehr, als daß ich redete. „Sie waren mal sehr realistisch, sodaß ich nicht wußte, ob es wirklich ein Traum ist, oder nicht. Aber als der Realismus in den Träumen aufhörte, wiederholten sich die Szenarien darin. Nur eben so, als wären es wirklich Träume gewesen. Und viele Jahre später taucht da plötzlich diese Frau auf!“
„Was für eine Frau?“ wollte sie wissen.
„Ihr Name ist Moe. Es ist, als wäre ich plötzlich aus der Welt gerissen. Ich befinde mich dann plötzlich in einem Zimmer. Alles ist sauber und ordentlich und durch das Fenster kann man unendlich weit sehen, ohne daß da auch nur ein Hauch von Nebel wäre.“
„Klingt wie ein schlechtes Märchen.“ pflichtete Therese mir bei.
„Nein!“ beharrte ich. „Was ich damit sagen will… Der Realismus ist mit diesen Träumen zurückgekommen. Moe verhält sich einfach nicht wie ein Traumcharakter! Sie trägt sogar jedesmal andere Kleidung. Das Zimmer verändert sich nicht im Ganzen, nur in Details. Manchmal steht etwas rum, was vorher nicht da stand. Aber es wirkt alles durchaus echt! Echter, als diese auf ‚Pause’ gestellte Vorhölle hier!“
Therese kaute auf einem Stück Gras herum. Eine Weile sagte sie nichts dazu, sondern starrte nur vor sich hin und schmatzte. „Hast du Moe nach Details gefragt?“ wollte sie schließlich wissen.
„Details?“ wiederholte ich.
„Genau! Ihr Nachname, ihr Geburtsdatum, ihr Sternzeichen, ihr Lieblingsessen – irgendwas, was diese Tante als Traumfigur entlarven könnte!“
„Nein.“ antwortete ich wahrheitsgemäß. „Aber dauernd fragt sie mich seltsame Dinge… Zeigt mir Bilder von Gesichtern und will wissen, ob ich die kenne. Sie hat einen ganz speziellen Geruch an sich, der sich nie ändert. Und manchmal stehen sogar Kekse auf dem Tisch!“
Therese seufzte und stopfte das Gras jetzt büschelweise in den Mund.
„Du bist doch keine Kuh!“ platzte es aus mir heraus, da es mich aufregte, daß sie mir nicht zuzuhören schien.
„Ich werde dich das nächste mal daran erinnern, wenn du mich als blöde Kuh beschimpfst!“ fauchte sie. „Egal, diese Moe…“
„Ja?“ warf ich ein.
„Weißt du, daß ich auch mal sehr seltsame Träume hatte?“ Sie grinste.
„Nein, woher auch?“ entgegnete ich.
„Das waren die langweiligsten Träume meines ganzen Lebens und ich hatte sie vor langer Zeit. Da befand ich mich immer in unterschiedlichen Szenerien und immer die gleiche Person wollte von mir wissen, was los sei. Und ich habe immer gelächelt und gesagt: ‚Nichts’, weil ich das Gefühl hatte, das ist es, was sie hören will!“
„Und was hat das jetzt mit Moe zutun?“ fragte ich.
„Alles oder nichts.“ antwortete Therese patzig. „Entweder deine Moe ist genauso ein Kandidat, der dauernd dummes Zeug labert, oder aber sie ist einfach nur eine Antwort deines Unterbewußtseins auf deine einsetzende Pubertät, du Lurch!“
Ich hatte das Bedürfnis, Therese zu schlagen.
„Wie zur Hölle hast du es eigentlich geschafft, im Wald zu sein, und gleichzeitig in deinem Bett zu liegen, Klumpfuß?“
„ICH WEIß ES NICHT!“ brüllte ich sie an. Mein Frustpegel, der sich zwangsläufig in jedem Gespräch mit Therese aufbaute, explodierte. „Ich dachte, DU bist hier die, die alles genau checkt!“
„Ich wünschte, es wäre so!“ sagte sie ruhig. „Und ich muß zugeben, daß ich deiner Moe tatsächlich eine Chance gebe, mit in diesem geheimnisvollen Sch.eiß zu stecken. Ich weiß nur noch nicht, wo ich sie einordnen soll.“
„Aber wenn sie da mit drinsteckt, dann bedeutet das, daß es außerhalb von Treesville noch etwas gibt!“ warf ich ein.
„Außerhalb ist gut.“ sagte Therese. „Ich frage mich nur, wie du es schaffst, im Schlaf woanders aufzutauchen. Aber scheinbar hast du das echt drauf. Erst bist du im Wald, obwohl du pennst, und dann wieder bei einer völlig fremden Person, die sonstwo lebt. Du beginnst tatsächlich, mich neugierig zu machen! Irgendwas hast du an dir, Klumpfuß.“
Therese schickte sich an, zu gehen und ich –folgsamer Hund- trottete ihr hinterher.
„Weißt du, was mich wurmt?“ begann ich wieder.
Sie sagte nichts.
„Mich wurmt, daß mir sicher bin, nicht im Kreis gelaufen zu sein im Wald. Und trotzdem kam ich wieder da an, wo Anna gestorben ist. Aber Annas Leiche war weg. Das ist total … unmöglich!“
„Vielleicht hat dich deine Hinkerei nach links gezogen und du hast nicht gemerkt, daß du im Kreis gelaufen bist.“ sagte sie gelangweilt.
„Und was ist dann mit Annas Leiche??“ fragte ich wieder. „Hast du je erlebt, daß eine Leiche aufsteht und geht?“
„Wäre dem so, hätte ich im Keller genug Entertainment und müsste nicht auf dich Schussel zurückgreifen.“ motzte sie.
„Aber bedeutet das nicht, daß irgendwas im Wald sein muß?“ Ich ließ nicht locker. „Irgendwer oder irgendwas muß Annas Leiche entführt haben!“
„Vielleicht war sie gar nicht tot und hatte nur einen allgemeinen Schwächeanfall, du Idiot. Und du hast sie allein gelassen! Vielleicht irrt sie jetzt noch irgendwo in dem Sch.eiß rum und hat sich verlaufen… oder gar einen Weg raus gefunden, du Blödmann!“
Mein Bedürfnis, Therese zu schlagen stieg proportional zu ihren Kommentaren.
Den Rest des Weges liefen wir wortlos nebeneinander her und ich war sichtlich erleichtert, als die Welt wieder zu atmen begann. Der Wind strich über das Gras und die Baumkronen raschelten. Auch wenn sich außer den Ratten kein Tier in der Nähe des Heimes aufhielt, so glaubte ich doch, wieder Teil eines funktionierenden Ökosystems zu sein. Und wo ich gerade an Tiere dachte, begegnete mir erneut ein Kind mit Fleischklumpen in der Hand.
„Wo haben die auf einmal das ganze Essen her?“ platzte es aus mir heraus.
Therese drehte sich nicht um, sondern sagte ganz beiläufig, als handelte es sich um die normalste Sache der Welt: „Die fressen sich jetzt gegenseitig auf, aber du verpennst ja lieber die heißesten News aus deiner Umgebung.“
Ich blieb wie angewurzelt stehen und während ich fassungslos darüber war, daß sich meine Mitbewohner zu Kannibalen entwickelt hatten, ging Therese stur und gelangweilt weiter ihres Weges, zurück ins Heim in ihren Keller, den sie als freiwilliges Exil auserkoren hatte.
...to be continued