Kapitel 7 - Teil 2
Salzige Tränen liefen mir die Wangen hinunter, als ich meinen Citroen durch den zähfließenden Stadtverkehr nach Hause lenkte. Ich fühlte nur eine tiefe Leere in mir und dachte nicht viel nach, erst das Geschreie aus der WG, welches mir schon im Treppenhaus entgegentönte, holte mich in die Realität zurück. Grade als ich die Tür öffnen wollte flog diese mir entgegen und eine aufgebrachte Vera stürmte heraus.
„Du bist so was von unreif”, schrie sie noch mal die tränenüberströmte Vanessa an, die wie ein Häufchen Elend am Küchentisch rumsaß, dann polterte sie Treppen herunter und knallte die Haustür so laut, dass ich Angst hatte die Fenster würden zerbrechen. Zurück blieb nur das Schluchzen von Vanessa, das das nervende Geräusch der Geschirrspülmaschine durchbrach.
„Was ist denn hier los?!”, fragte ich irritiert, während ich meine Stiefel und meine Jacke auszog.
„Ach, die blöde Kuh spinnt doch”, entgegnete Vanessa sauer. „Die hält sich voll für was Besseres, denkst wohl sie ist die Geilste!” Mit diesen Worten stand Vanessa auf und stapfte in ihr Zimmer, wie sie sauer die Tür hinter sich knallte. Ich wunderte mich sehr über die herrschenden Zustände im Haus. Was war bloß vorgefallen? Hatte ich was verpasst?
Noch nie hatte ich Vanessa so verheult und aufgebracht gesehen, war sie doch immer die Schüchternste und Zurückhaltenste. Dass zwischen Kira und Mara die Fetzen flogen, war alltäglich, man hatte sich daran gewohnt und wie schoben es auf die Tatsache, dass Geschwister eben so waren. Aber zwischen Vera und Vanessa war doch immer alles harmonisch gewesen? Mir fiel auch kein Grund ein, warum man sich mit Vanessa streiten konnte, war sie doch immer völlig unauffällig und würde auch nie provozieren. Eigentlich war sie überhaupt nicht der Streittyp. Ich grübelte. Was konnte nur gewesen sein? Jetzt interessierte es mich wirklich.
Ich legte meinen Kopf in meine Arme auf den Tisch und dachte nach, als ein paar Minuten später Kira in die Tür kam. Sie war völlig durchgeschwitzt, hatte einen roten Kopf und eine schnelle Atmung, offensichtlich kam sie grade aus dem Fitnessstudio
„Hey Kira, alles klar?”, begann ich, doch der Versuch, ein Gespräch mit ihr anzufangen war vergeblich, denn sie war spät dran, hatte in ein paar Minuten einen Kunden und musste noch duschen. So blieb ich wieder alleine in der Küche sitzen, einsam und allein, nur das monotone Geräusch des Geschirrspülers im Hintergrund laufend, welches nach einer undefinierbaren Zeitspanne vom Klingeln des Telefons übertönt wurde. Völlig unmotiviert aufzustehen wartete ich einen Moment, doch der Anrufer ließ sich nicht abwimmeln und das Gerät klingelte munter weiter. Genervt stand ich auf und griff zum Hörer.
„Ja?!”
„Oh hallo”, plapperte eine hohe Frauenstimme los.
„Hier ist Else, ich hätte gerne meine Tochter Lia gesprochen.”
„Mama, ich bin am Apparat”, antwortete ich, nun noch genervter, und seufzte. Was wollte die denn jetzt?
„Oh, hihi, ich erkenn dich gar nicht mehr, du hörst dich ja so erwachsen an jetzt”, schallte es mir entgegen.
„Ähm, ja…. klar.” Ich fand es irgendwie bezeichnend, dass meine Mutter nicht mal mehr meine Stimme erkannte. Seit ich ausgezogen war, hatten wir den Kontakt so gut wie möglich vermieden, von beiden Seiten. Seit Jahren hatte ich sie nicht mehr gesehen, manchmal hielt sie es aber wohl für ihre mütterliche Pflicht, ab und zu mal bei mir anzurufen. So konnte sie ihr Gewissen beruhigen, denn sie kümmerte sich ja schließlich um mich. Natürlich wusste sie nichts von meinem Leben, ich tischte ihr irgendwelche Lügen auf, um mir nerviges Nachgefrage und Diskussionen zu ersparen. Meine Mutter hatte keine Ahnung, was für ein Mensch ich geworden war, ich wusste dass es sie irgendwo auch nicht interessierte, und so konnte es ruhig dabei bleiben.
„Was machst du denn so Schätzchen?”, fuhr sie fort. „Hast du endlich einen Job gefunden?”
Ich hatte wirklich keine Lust auf dieses Gespräch.
„Ach, so dies und das Mama. Was sich grad so ergibt.”
„Aber du brauchst doch einen richtigen Job!” Sie tat entrüstet.
Natürlich, es konnte ja nicht sein, dass ihre Tochter eine von den Menschen am unteren Ende der Angesehenheits-Skala geworden war. Aber brauchte ich auch nicht irgendwo viel mehr eine richtige Mutter? Eine Familie? War es nicht das, was mir fehlte?
„Ich habe mich bei einigen Stellen beworben, Mama. Es sind ein paar Vorstellungsgespräche in Sicht”, log ich.
„Oh, wie schön. Hihi, das freut mich für dich. Es geht dir doch gut?!”
„Ja, natürlich geht es mir gut, Mama.”
„Das ist schön zu hören, Schätzchen. Ich muss dann auch mal wieder auflegen, du weißt ja, der Haushalt und alles, man ist doch immer beschäftigt.”
„Natürlich Mama. Man sieht sich ja dann”, antwortete ich mit dem Wissen, sie nie wieder zu sehen. „Ja, ich hab dich auch lieb.”
Kapitel 7 - Teil 3
Am Abend hockten Vanessa, die sich mittlerweile wieder abgeregt hatte, die beiden Schwestern und ich auf der Couch vorm Fernseher rum. Mara aß Chips und machte Kira mit dem Knistern der Tüte wahnsinnig, während diese sich die Nägel lackierte. Vanessa lag in ihrem Pyjama zusammengerollt auf dem anderen Sofa und wir beide verfolgten mehr oder minder gespannt eine langweilige Soap.
Es war also ein ganz normaler Abend, ohne Vera, die, wie wir vermuteten, sicher bei Jay war und sich dort amüsierte. Sie war immer gegen Drogen gewesen und ich fand es absolut unverständlich, wie sie sich nun mit einem dreckigen Dealer abgeben konnte, aber das wusste wohl nur sie selbst. Sein roter Sportwagen war eines von Veras Lieblingsargumenten, aber eigentlich wussten wir alle, dass Vera nie dermaßen oberflächlich gewesen war. Vielleicht hatte sie sich geändert. Vielleicht war es auch was anderes. Ich beschloss, nicht mehr so viel darüber nachzudenken.
„Mensch kannst du mal aufhören zu fressen?!”, schrie Kira plötzlich Mara an und wir alle zuckten erschrocken zusammen. „Das macht mich voll kirre, ich vermal mich dauernd. Du bist sowieso schon fett genug, du isst ja nur noch!”
„Ach halts Maul”, gab Mara zurück, „besser als so ein abgemagertes Stück wie du.“
„Du bist doch fresssüchtig”, brüllte Kira, den Nagellackentferner aufdrehend. „Schau, wie viel du in dich reinstopfst! Das ist doch nicht normal. Niemand isst so viel wie du, das ist ja eklig. Und mit so was bin ich auch noch verwand, ich fasse es…”
„Könnt ihr mal die Fressen halten!?!”, schrie Vanessa auf einmal dazwischen und übertönte selbst Kira. „Ihr benehmt euch wie die Kleinkinder, meine Güte. Ich will hier fernsehen!”
Kira und Mara verstummten und wir drei sahen uns erstaunt an. Was war bloß mit der sonst so stillen Vanessa los? Noch nie hatte ich sie schreien hören. Was war passiert?
„Was geht’n mit dir Mädel?”, fragte Kira, nachdem die erste Schrecksekunde vorbei war.
„Ach, lasst mich doch alle in Ruhe!”, keifte Vanessa, während ihr Tränen aus den Augen schossen und sie aufstand, um in ihr Zimmer zu rennen, doch Mara sprang ebenfalls auf und hielt sie fest.
„Was hast du denn?”, fragte das blonde Mädchen und zog ihre Freundin wieder auf das Sofa. „Was ist passiert?”
„Ach nix man”, schmollte Vanessa.
Kira tat desinteressiert und wischte an ihren Nägeln rum, aber ich wusste genau, dass sie heimlich sehr neugierig war, was Vanessa so durcheinander brachte. Auch ich war gespannt und sah das verheulte Mädchen an, das auf mich auf einmal einen heruntergekommenen Eindruck machte. Ich hatte das Gefühl, sie war viel blasser als sonst, hatte ihre schwarzen Haare zu einem unordentlichen Dutt gebunden und ihre Hautunreinheiten heute ausnahmsweise mal nicht überschminkt.
„Man ich hab’ halt ‘nen bisschen Stress okay?!” Vanessa schien nicht reden zu wollen und Mara nahm sie tröstend in den Arm.
„Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst, ja? Egal was es ist.”
Vanessa schwieg eine scheinbar endlos lange Zeit, dann nahm sie jedoch ihren Mut zusammen und erzählte uns, was sie so belastete.
„Vera hat herausgefunden, dass ich mit manchen Kunden ohne Kondom schlafe.”
„Du tust was?!” Maras Augen weiteten sich und auch ich traute meinen Ohren nicht.
„Ja man ich weiß, dass wir das nicht sollen, aber manche bezahlen weit über 100 extra.”
„Bist du noch zu retten?”, fragte Mara entsetzt. „Warum machst du das?”
Vanessa liefen wieder Tränen über die Wangen. Sie schaute zu Kira, die sich oberflächlich unbeeindruckt zeigte und sich weiter ihren Fingernägeln widmete, und dann zu mir. Ihr Blick war teils verlegen und teils hilflos und obwohl ich echt schockiert war, tat sie mir Leid.
„Hast du mal an die Krankheiten gedacht?”, fragte Mara weiter.
„Ja man, ich denke die ganze Zeit daran, denkst du ich finde das toll?! Mara… meiner Familie geht’s nicht so gut, du weißt, dass sie kein Geld haben und mein Vater ist krank. So verdiene ich etwas extra, was ich ihnen zuschicke. Ich will ihnen doch nur helfen…” Sie gestikulierte wild, schluchzte und Mara nahm sie wieder in den Arm.
„Du bist ein viel zu guter Mensch”, flüsterte sie. „Aber das darfst du nicht machen. Wir kriegen das anders hin, ich kann dir ein bisschen Geld geben… wir finden einen Weg. Setz deine Gesundheit nicht so aufs Spiel, das wollen deine Eltern doch auch nicht.” Vanessa nickte langsam und vergrub ihr Gesicht in Maras Schulter. Ich war überwältigt von der Freundschaft der beiden, und wie toll sie miteinander umgingen. Es musste so unglaublich schön sein, eine richtig gute Freundin zu haben.
„Lass uns in dein Zimmer gehen”, schlug Mara vor und die beiden Mädchen standen auf. Als sie die Tür hinter sich schlossen gab Kira einen genervten Seufzer von sich.
„Kinder.”
Ich war überrascht und verärgert über ihre Reaktion und da ich es für völlig unangebracht hielt warf ich ihr einen bösen Blick zu.
„Was?! Ich mein’, die sollen sich mal nicht so anstellen, was ist schon dabei? Ich mach’s dauernd ohne Gummi, na und?!”
Ich fühlte, wie meine Kinnlade langsam nach unten klappte.
„Bitte?!”
„Boah, bringt halt wirklich fast das Doppelte. Wenn die’s eben so wollen? Was soll schon passieren?”
„Was passieren kann? Soll ich dir das mal aufzählen? Sei doch nicht so naiv, Kira.”
„Blablabla, wie oft kommen all diese Krankheiten vor? Das wird wohl nicht ausgerechnet mir passieren. Ich mach’s auch nur bei denen, die gesund aussehen.”
„Du weißt genau, dass man HIV niemandem ansieht!”, argumentierte ich entsetzt und war nun wirklich sauer. Wie konnte man nur so gleichgültig sein?
„Boah Lia, du hörst dich an wie meine Mutter. Komm doch mal klar. Das ist doch nicht dein Leben. Was geht dich das an?”
„Schon mal darüber nachgedacht, dass ich dich zu sehr mag, als dass ich dich verrecken sehen will?”, fragte ich fassungslos.
„Mach dich mal nicht lächerlich”, spielte Kira alles herunter, immer noch mehr ihren Fingernägeln als mir zugewandt. „So tragisch ist das nun auch wieder nicht.”
„Weißt du…”, begann ich, schluckte den Rest des Satzes dann jedoch herunter. Es hatte doch sowieso keinen Sinn. Ich hatte nie gedacht, dass Kira so naiv sein konnte, aber irgendwie hatte sie ja Recht, es ging mich nichts an. Und so schnappte ich mir die Fernsehzeitung und blätterte durch die bunten Seiten der Medienwelt.
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Noch lange lag ich abends wach im Bett. Meine Gedanken kreisten um Vanessas Geständnis und Kiras Reaktion darauf, um meine Mutter, die mir wieder einmal versucht hatte ein Stück heile Familie vorzugaukeln und vor allem aber um Black und ich spürte noch immer seine Hand auf meiner Haut. Ich wollte gar nicht so abweisend zu ihm sein, aber ich war doch einfach gar nicht darauf vorbereitet gewesen. Ich war es nicht gewohnt, außerhalb meiner Arbeitszeit von Männern berührt zu werden, Außerdem war ich es auch nicht gewohnt, dass es mir gefiel. Wo sollte das auch hinführen? Wie unterschied man, von welchem Typen man Geld nehmen sollte und von welchem nicht? Einen Freund zu haben war mit diesem Job sowieso nicht möglich und absolut indiskutabel, welche Zukunft sollte uns also bevorstehen? Klar gefiel Black mir. Ich hatte gemerkt, dass er viel zu verbergen hatte, viel mehr als es zuerst schien. Aber er war doch ein netter Kerl und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass man sich sicher gut mit ihm unterhalten würde können, wenn er denn erstmal auftaute. Ich wollte immer noch unbedingt wissen, warum er zwei Mal mit mir im Beverly war und ich nahm mir vor, es auch noch herauszufinden.
Außerdem wollte ich was über sein Leben herausfinden, was er machte, und nicht zuletzt seinen Namen. Ich wusste, dass er nicht nur einer von Hugos normalen Drogenfreunden war, dafür war er einfach nicht der Typ. Aber was war es dann? Was verheimlichte er? Wie sah sein Leben aus und was war sein Ziel? Er hing garantiert nicht schon jahrelang nur mit Stan im Stadtpark rum, dessen war ich mir sicher. Ich beschloss, mich morgen noch mal mit ihm zu treffen, gleich nach meinem Kunden morgen Mittag. Dieses Mal würde ich mich weder abwimmeln lassen nicht abhauen, wenn er mich berührte. Vielleicht sollte ich ganz einfach gar nicht reagieren, was würde er dann machen?