Kapitel 22
„Bitte? Wovon reden Sie überhaupt? Ich bin nicht schwanger, das ist auch auf keinen Fall möglich! Können Sie mich bitte aufklären, wie Sie darauf kommen?”
„Nun, es kann natürlich sein, dass uns eine Verwechslung oder ein Fehler unterlaufen ist, ich schlage vor, einen weiteren Test vorzunehmen. Aber alles deutet darauf hin, dass sie in der sechsten Woche schwanger sind.”
„Ja ja, da haben Sie sich wohl vertan! Ehrlich gesagt habe ich das Gefühl, hier geht alles schief! Vielleicht sollte man doch über eine Verlegung von Bl... äh, meinem Verlobten nachde…”
„Frau Reichner, kann es einfach sein, dass sie von der Schwangerschaft nichts wussten? Natürlich hätte man Sie über das Ergebnis der Blutuntersuchung informieren müssen, da muss ein Kommunikationsproblem vorgelegen haben und das werde ich auf jeden Fall überprüfen. Aber es ist doch möglich…”
„Nein, ist es nicht!”
Wütend stand ich auf und funkelte den grauhaarigen Mann an, der seelenruhig an seinem Schreibtisch saß.
„Kümmern Sie sich lieber um ihre wirklichen Patienten, scheinbar kommen Sie damit schon nicht klar, und machen Sie sich nicht mehr Probleme, als Sie haben! Ich gehe jetzt, und ich komme gleich morgen früh wieder, vielleicht ist Ihnen bis dahin ja etwas eingefallen, wäre auf jeden Fall von Vorteil, auch für Sie!”
Ich drehte mich um und war in Begriff zu gehen, doch Dr. Volker hielt mich zurück.
„Ich verstehe, wenn Sie wütend sind, das ist eine belastende Situation für Sie”, redete er in viel zu sanfter Stimme auf mich ein.
„Belastend?!” Ich wirbelte wieder herum und war mittlerweile richtig sauer. „Waren Sie schon einmal in einer solchen Situation? Sie haben ja keine Ahnung! Und da kommen sie mir mit so nem Schwangerschaftsmist, das kann ich echt nicht gebrauchen!”
„Trotz allem würde ich gerne eine neue Blutprobe von Ihnen nehmen, damit ich sichergehen kann…”
„Nein! Verbringen Sie ihre Zeit mit den wichtigen Dingen und vergessen Sie endlich dieses Hirngespinst!”
Ich warf mir meine Jacke über die Schulter und ging entschlossen zur Tür.
„Frau Reich…”, hörte ich ihn mir noch hinterher rufen, doch die zufliegende Tür übertönte seine Stimme.
-
Immer noch genervt und wütend kam ich kurz vor elf Uhr nachts zu Hause an, knallte die Tür hinter mir und schmiss meine Sachen in die Ecke. Wieso war das Leben nur so zum kotzen? Was hatte ich nur falsch gemacht, dass es immer mich traf?
Ich haute auf den Lichtschalter, was Stan, der auf einer Wolldecke in der Küche lag, hochschrecken ließ. Für den Bruchteil einer Sekunde zuckte auch ich zusammen, als ich in die Augen des Riesenhundes sah, denn fast hatte ich ihn vergessen und nicht damit gerechnet, dass er hier war.
„Ist alles zu viel auf einmal”, murmelte ich, kickte meine Schuhe weg und schaute mir dann Stans neuen Platz genauer an.
Vanessa hatte zwei alte Kochtöpfe rausgekramt, einen mit Wasser und den anderen mit… Hundefutter gefüllt? Wo hatte sie das denn her? War sie etwa extra noch einkaufen gewesen? Dieses Mädchen überraschte mich echt, und ich war ihr unaussprechlich dankbar. Ich hatte weder die Ahnung, noch die Energie, mich großartig mit Stan auseinanderzusetzen. Das tat mir zwar schon ein bisschen Leid, aber für mich gab es einfach grade wichtigeres und so bemerkte ich es, wie schön es war, Menschen zu haben, die einem halfen.
Eine Tür ging auf und eine verschlafene Mara mit zotteligen Haaren betrat die Küche.
„Was machst’n so’n Krach?”, grummelte sie, lächelte aber dabei und zeigte mir, dass sie nicht wirklich wütend war und drehte sich dann auch schon zum Kühlschrank um und öffnete diesen, wie sie es immer machte, wenn sie nachts aufstand.
„Wie geht’s ihm?”, fragte sie, während sie in das Innere des Kühlschrankes starrte.
„Er ist aufgewacht. Aber die sagen, er ist immer noch nicht über den Berg…”
„Immerhin etwas”, sagte das blonde Mädchen und schloss beiläufig die Kühlschranktür.
„Man ich hab’ Hunger und wir haben nichts Gescheites zu essen in diesem Haus!”, beschwerte sie sich. „Ist doch immer das Gleiche!”
Ich ignorierte Maras Gejammer über das nicht vorhandene Essen schon lange, und so antwortete ich nichts darauf.
„Diese Ärzte machen mich echt wütend!”, schnaufte ich, während ich mich an den Tisch setzte. Ich hoffte, dass Mara noch etwas dableiben würde, damit wir uns unterhalten konnten.
„Inwiefern?”
„Ich glaube, die haben überhaupt keine Ahnung von dem, was sie da machen. Labern irgendwelche Fremdwörter, die sie auswendig gelernt haben, aber zu mehr scheinen sie nicht fähig zu sein. Hauptsache, alles hört sich schlau an.”
„Was sagen sie denn?”
Mara kramte Brot und Frischkäse heraus und begann, sich ein Brot zu schmieren.
„Erzählen mir da was von Zyanose und immulogischen Komplikationen, hallo? Und Volumenmangelschock, pah. Lauter so Zeugs halt. Wahrscheinlich verstehen sie das selbst nicht!”
„Weißt du, das ist eben die Fachsprache und…”
„Wenn sie so gebildet sind sollen die halt auch mal was machen! Lernen die denn im Studium nichts anderes als Fachwörter?”
Mara setzte sich zu mir an den Tisch, nachdem sie den Frischkäse grob auf ihr Brot geschmiert hatte und kaute jetzt lustlos darauf rum.
„Auch?”
„Nein danke. Wie kannst du nur mitten in der Nacht so was essen?”
„Wieso nicht?”, fragte sie mit vollem Mund. „Habe eben Hunger. Was sagt eigentlich Black, habt ihr miteinander gesprochen?”
„Nicht wirklich, die pumpen ihn so mit Medikamenten voll, dass er nichts mehr mitkriegt. Er sieht so… blass und… leblos aus, Mara.”
„Ach Maus, das wird schon wieder. Der weiß doch, dass er dich nicht alleine lassen kann. Das braucht nur seine Zeit, du kannst nicht erwarten, dass er gleich wieder aufsteht und rumhüpft.”
Mara beäugte ihr Brot, riss sorgfältig die Rinde ab und aß sie getrennt vom Rest.
„Wieso isst du immer so umständlich?”, fragte ich, sie misstrauisch anstarrend.
„Macht eben Spaß. Aber wieder zu Black. Haben die Ärzte gar nichts Verständliches gesagt?”
„Nur, dass sie keine Ahnung haben. Ach ja, und dass ich schwanger bin.”
Ich rollte die Augen, während sich Mara an ihrem Brot verschluckte.
„Schwanger?”
„Ach die spinnen doch, so ein Quatsch. Du müsstest dieses Krankenhaus sehen, die kriegen da nichts auf die…”
„Lia”, unterbrach Mara mich und schaute mir in die Augen. „Du bist schwanger?”
„Nein man, natürlich nicht. Ich sag doch, die…”
„Bist du dir sicher?”
„Jetzt fang du auch noch so an. Ja, bin ich. Ich habe immer verhütet, das weiß ich ganz genau. Und ich fühl mich auch nicht schwanger, das würde man ja wohl merken.”
„So früh noch nicht… Willst du denn zur Sicherheit noch mal einen Test machen?”
„Warum denn?”, fragte ich genervt. Ich war echt gereizt, dass Mara sich quasi auf die Seite des Arztes schlug und versuchte, mir eine Schwangerschaft anzuhängen. Eigentlich konnte ich jetzt eher jemanden gebrauchen, der zu mir stand.
„Ich habe keine Zeit für so einen Mist”, fuhr ich fort.
„Ich glaube nicht, dass es das Baby interessiert…”
„Was denn für ein Baby überhaupt?”, schrie ich und merkte, wie ich rot vor Wut wurde. „Mara, ich - bin – nicht – schwanger!”
„Natürlich”, sagte diese gekonnt zickig und rollte ihre Brotscheibe zusammen.
„Wenn man das nicht will, ist man es auch nicht, oder was? So unwahrscheinlich ist das doch gar nicht, du hast mit so vielen Männern geschlafen!”
„Ja, und immer verhütet!” Was sollte ihr Verhalten bloß? Wäre ich doch bloß gleich in mein Zimmer gegangen und hätte ihr all das nicht erzählt.
„Auch mit Black?”
„Ja man! Ja gut, die Pille habe ich schon manchmal vergessen, aber ich hatte immer ein Kondom, immer.”
„So was kann auch reißen…”
„Ist es aber nicht!!”, keifte ich und stand wütend auf.
„Ich wüsste, wenn ich schwanger wäre!”
Sauer stampfte ich in mein Zimmer und ließ die Tür hinter mir zufallen. Es war echt unglaublich, dass Mara sich mehr für das hergeholte Gelaber des Arztes interessierte, als für Blacks Zustand. Irgendwie hatte ich mehr Mitgefühl von ihr erwartet.
Ich zog meine Klamotten aus, ließ sie auf dem Fußboden liegen und schlüpfte in mein Nachthemd, das eigentlich zu kalt für diese Jahreszeit war, dann erwischte ich mich, wie ich kurz meinen Bauch streichelte.
Nein, da war nichts drin. Er war flach wie eh und je, nichts. Zum Glück, denn ein Baby war das Letzte, was ich jetzt noch brauchen könnte. Dass ich es abtreiben würde war für mich gar keine Frage, ein Kind von einem Freier zu kriegen stand überhaupt nicht zur Diskussion, trotzdem hatte ich jetzt nicht die Kraft, mich auch noch mit so was auseinanderzusetzen.
Erschöpft ließ ich mich auf meinem weißen Sofa nieder und trank eine Tasse kalten Tee aus, der noch auf dem Beistelltisch stand.
‚Sie sind schwanger’, lief es mir immer wieder durch den Kopf. ‚Sie sollten dem Baby und sich Ruhe gönnen!’
‚Hör auf’, sagte ich mir, ‚denk lieber an Black, denn das ist Realität!’, doch meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Kondom gerissen, so ein Quatsch. Als wenn ich auf so was nicht achten würde! Hielt Mara mich für so unerfahren? Als wenn ich nicht ordentlich verhüten können würde. Pah!
Ich kuschelte mich in mein Bett und versuchte einzuschlafen, doch es wollte mir nicht gelingen. Ich merkte, wie meine Füße und mein Gesicht froren und kauerte mich enger zusammen. War Zeit, dass es wieder Frühling wurde. Ich seufzte leise.
Dabei hatte der Winter noch nicht einmal begonnen… Doch er würde nicht mehr lange auf sich warten lassen, das war klar. Schon jetzt stiegen die Temperaturen nicht mehr über 10 Grad, es war windig und nass und die ganze Stadt sah trostlos aus. Bald würden auch die letzten bunten Blätter braun werden, herabfallen und man würde achtlos auf ihnen rumlaufen, bis sie schließlich verrotteten. Herbst glich doch immer so ein bisschen dem Tod. Keine Schmetterlinge flogen mehr durch die Luft, keine spielenden Kinder waren mehr in den Parks und all die schönen Blumen mit den prächtigen Farben, die ich im Frühling so liebte, waren verdorrt und wurden abgeschnitten und auf den Kompost geworfen. Wenn wir denn wenigstens einen vernünftigen, schönen Winter haben würden, aber nein, mehr als Schneematsch konnte man in Norddeutschland ja nicht erwarten. Gut, dass auf den Winter auch immer wieder ein Frühling folgte, in dem die Welt wieder zu leben begann, egal wie tot und verloren sie im Winter aussah.
Ob auch in Blacks Leben ein neuer Frühling folgen würde? Würde auch er wieder lebensfroh und jugendlich werden? Was war, wenn nicht?
‚Er ist noch nicht über den Berg’, hatten sie gesagt. Als ich über diese Worte nachdachte, verspürte ich einen Stich im Herz. Hoffentlich behielt Mara Recht und er würde es schaffen.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte und auf den Wecker schaute, war es erst kurz nach halb acht.
Aus der Küche hörte ich Stimmengewirr und so gab ich es auf, weiterschlafen zu wollen und trottete in die Küche, in der ich zu meiner großen Überraschung nicht nur auf Vanessa und Kira, sondern auch auf Vera traf.
„Guten Morgen”, murmelte ich verschlafen und setzte mich an den Tisch. Kira hatte eine Zeitung vor sich ausgebreitet und sah irgendwelche Anzeigen durch, während Vanessa dabei war, sich Brote zu schmieren.
Ich sah in Veras Gesicht, die sich grade einen Kaffee kochte und erschrak. Obwohl ihre Haare frisch gefärbt waren, vermochten sie nicht, ihr fahles Gesicht aufzuwerten. Ihre sonst so strahlend grünen Augen waren blutunterlaufen und ihr Gesicht wirkte eingefallen. Ihre Finger wirkten noch länger und dünner als sonst und bei ihrem Anblick musste ich kurz an ein Skelett denken.
„Lange nicht gesehen”, sprach ich sie an und erhoffte mir eine Reaktion, doch Vera schien unbeeindruckt.
Stattdessen vernahm ich, wie Kira kurz unauffällig von ihrer Zeitung hochsah und sie skeptisch und abfällig musterte.
„Was hast du denn so gemacht, in der letzter Zeit?”, fragte ich weiter.
„Ach weißt du, Lia”, gab Vera genervt zurück und sah mich kurz an, was die ganze Veränderung ihres Gesichtes entblößte, „So dies und das halt. Einfach nichts Besonderes, ja?”
„Ist ja gut, was reagierst du denn gleich so schnippisch?”
„Nur weil ich nicht jeden Tag hier abhänge, müssen mich jetzt alle ausfragen oder was?”
„Und wie läuft’s mit Jay?” Irgendwie wollte ich das Gespräch aufrechterhalten, denn ich vermisste Vera und die Unterhaltungen mit ihr doch sehr.
„Bestens!”, sagte sie und der Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie nicht ein weiteres Wort darüber verlieren wollte. Vera hatte eine unglaublich kalte und abweisende Art entwickelt, die mich erschaudern ließ.
„Verkauft er noch weiter schön sein Scheißzeug an wehrlose Kinder?”, mischte Kira sich ein und ich wünschte mir, dass sie doch einmal still sein konnte. Natürlich war Jay ein Mistkerl, aber warum musste diese Diskussion jedes Mal neu beginnen?
„Halt deine Fresse du abgemagertes Stück!”, keifte Vera bissig zurück und ich erschrak über ihre übertrieben unfreundliche Wortwahl. Das war nun wirklich untypisch für sie, die sonst doch eher ruhig blieb.
„Was? Weil ich die Wahrheit sage? Kannst du die nicht vertragen?”
„Komm Kira, ist gut…”, mischte sich Vanessa ein und ihre Stimme klang ruhig und erwachsen.
„Überhaupt nichts ist gut!”, maulte Kira. „Du siehst doch was dieses scheiß Zeug aus ihr macht!”
„Kira, du hast keine Ahnung!”, gab Vera zurück und ihre Augen blitzen. „Halt einfach das Maul, okay? Dein Gelaber will hier keiner hören!”
„Und deine Drogenvisage hier keiner sehen!!”, schrie Kira und stand auf.
„Wieso ziehst du nicht zu deinem Stecher, hä? Oder bringt der es nicht mehr?!”
„Pass bloß auf, was du sagst!”, zischte die rothaarige Frau, „Oder du kriegst ganz gewaltige Probleme!”
Ich stellte mich zwischen die beiden Frauen, die sich ansahen, wie rivalisierende Raubtiere und hielt sie auseinander.
„Ist ja gut jetzt, benehmt euch mal wie erwachsene Leute! Euer Verhalten ist unmöglich!“
Für eine Sekunde war alles still, dann sah mich Kira mit einem nicht zu deutenden Blick an.
„Ich habe sowieso keine Lust, meine Zeit mit so was zu vergeuden!“, meinte sie, blitzte Vera noch mal vielsagend an und verschwand in ihr Zimmer.
„Total der Kindergarten hier!“, lästerte Vera, als sie sich wieder an den Tisch setzte. Und diese Schlampe soll sich bloß in Acht nehmen!“
Ich verdrehte die Augen und ging wieder in mein Zimmer zurück.
Ein wehmütiges Gefühl breitete sich in mir aus. Was war nur aus unserer Clique geworden? Wie war es möglich, dass alles so schnell zerfallen konnte?
Obwohl es noch nicht einmal acht Uhr war, duschte ich schnell, zog mich an und beschloss, ins Krankenhaus zu fahren, um Black zu besuchen. Ich redete mir ein, dass es ihm heute ja vielleicht schon besser ging und selbst wenn nicht, war mir jeder Blick, den er mir zuwarf und jedes Wort, das er redete, die Fahrt dahin wert. An Stan verschwendete ich nicht viele Gedanken und auch wenn es naiv war, überließ ich ihn fast komplett Vanessa, die sich aber nicht beschwerte, sondern der die Hundepflege wirklich Spaß zu machen schien. Es war wirklich großes Glück, sie zu haben, aber zu diesem Zeitpunkt nahm ich es einfach als selbstverständlich hin und dachte nicht weiter darüber nach. Nun ging es nur um Black, dem es hoffentlich bald wieder besser ging.