Kapitel 114 – IndianaJones74
Kapitel 114 – IndianaJones74
Plötzlich kam Jessica aus dem Haus gestürmt: "PAUL! ADAM! Kommt schnell - Sean ist bewusstlos und krampft ganz schrecklich!" Paul starrte zuerst Jessica und dann Adam an, schmiss seinen Säbel auf den Boden und lief dann wie in Trance ins Haus. Adam sah für einen Moment den Boden unter sich aufgehen und tat einen direkten Blick in die Hölle. Sean! Dann rannte auch er hinterher.
"Wir sollten ihn über Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus behalten und einmal komplett durchchecken, aber so wie es ausschaut, war es nur ein gewöhnlicher Fieberkrampf, sowas ereilt viele Kinder und sieht zwar schrecklich aus, ist aber normalerweise nicht gefährlich.
Und wie Sie sahen, schläft er ja bereits wieder und atmet dabei ganz gleichmäßig. Dem geschwollenen Kieferbereich nach zu urteilen, wird es sich wahrscheinlich um
Parotitis epidemica handeln, eine Viruserkrankung, die im Volksmund "Mumps" genannt wird." Als Paul den Verdacht von Doktor Blythe hörte, fühlte er gleißende Angst durch seinen Körper kriechen. Ausgerechnet Mumps! Die Krankheit, die in seiner Kindheit der Auslöser für seine heutige Sterilität war. Naike sah ihn an und wusste genau, was er dachte. Sie legte ihre Hand beruhigend auf seine Schulter, aber er schüttelte sie ab, als würde er sich vor ihr ekeln wie vor einer kalten Schlange.
"Wer kommt denn jetzt nun mit, wir müssen losfahren, ich habe noch andere Patienten. Diese Nacht ist irgendwie der Wurm drin", sagte Doktor Blythe müde. "Ich will ja nicht neugierig erscheinen ... was auch immer hier sonst noch abgegangen ist, das ist ihre Sache, aber neben ihrem Sohn sehe ich hier noch zwei Verletzte und es ist meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass sie sich ebenfalls in Behandlung begeben sollten, mit Schnittwunden ist nicht zu spaßen."
Adam war der Meinung, dass ein Pflaster reichen müsse und stieg nur in den Krankenwagen, um Sean ins Krankenhaus zu begleiten. Paul reagierte überhaupt nicht auf Ansprache und starrte einfach nur vor sich hin, was Gilbert sehr besorgte, aber ohne Zustimmung des Patienten konnte er nichts machen, wenn er sich nicht gerade in einer Gefahr befand, die ihn zum Handeln gezwungen hätte. "Paul? … Es tut mir leid", sagte Naike leise und eine kleine, heiße Träne rollte über ihre rechte Wange. Dann wandte sie sich mit gesenktem Kopf ab, stieg mit in den Krankenwagen und sie fuhren durch die dunkle Nacht davon.
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Gegen Morgen brachte Carla von Doberschütz ihre Tochter Henriette zur Welt und bereits am nächsten Tag war ihr neues Heim bezugsfertig, Veto Alvarez hatte Wort gehalten.
"Jess, du machst Witze, ein Strandhaus? Mit allem drum und dran? Ja, wie reich ist der denn?" - "Tja ...", antwortete Jessica, Glück muss man haben ..." - "Das ist aber ein sehr eingeschränktes Glück, Jessica, ich gehe mal davon aus, dass Carla sich alles ein bisschen anders vorgestellt hat", schmunzelte Naike. Dann verabschiedete sie sich von ihrer Mitbewohnerin und fuhr in die Kaserne nach Hohenfelde. Paul hatte sie seit jener Nacht nicht mehr gesehen, er hatte ein wenig Wäsche und seine Zahnbürste in einen Koffer gepackt und nächtigte vorerst in Blauseidigheide, wo er nun eh rund um die Uhr im Einsatz war.
Sean war nach seinem Krankenhausaufenthalt wohlbehalten wieder zuhause eingetroffen, es hatte sich tatsächlich nur um einen Fieberkrampf gehandelt, aber jetzt war auch Abilene betroffen. Naike und Jessica waren mit ihren Nerven am Ende, als die beiden Racker endlich wieder auf ihren Beinen standen, und zur Krönung fand plötzlich überraschend ihre Alterung statt. Während Jessica diesen Vorgang natürlich als völlig normal empfand, war es für Naike wie auch beim ersten Mal ein Schock, denn in der Welt, aus der sie kam, lief das ja nun doch ein wenig anders.
Carla stand minutenlang sprachlos mit ihrer neugeborenen Tochter vor ihrem neuen Heim und konnte kaum glauben, was sie da sah. Bei aller unschönen Entwicklung, aber das war der absolute Hammer!
In so einem schönen Haus hatte sie noch nie zuvor gewohnt. Und außerdem war sie nun auch noch direkte Nachbarin ihrer Freunde. "Na, Henriette, was meinst du? Wagen wir den Neuanfang?" Die kleine Henni kuschelte sich noch ein bisschen mehr an ihre Mama und schlief dann in ihrem Arm ein. Carla ging ins Haus, bestaunte es von innen und legte ihr Baby dann in die bereitstehende hübsche Wiege. Dann setzte sie sich an den Computer im Schlafzimmer und sah ihre Mails durch. Neben den üblichen rauen Mengen Spam befand sich darunter auch eine Nachricht von "IndianaJones74", was ihr sogleich einen freudigen Schrecken einjagte. Er wollte sie treffen, so bald es ging! Und die junge Mutter entschied sich, es zu wagen, denn sie hatte ihrem Chat-Partner in den vergangenen Monaten alles erzählt, was ihr widerfahren war, und wenn er sich jetzt dennoch mit ihr treffen wollte, schien es ihm offenbar nichts auszumachen, dass sie gerade ein Baby bekommen hatte.
Gleich am nächsten Nachmittag ließ Carla die kleine Henni in der Obhut eines lieben Kindermädchens und fuhr mit klopfendem Herzen zur
Naniwa Sushi Lounge, wo sie sich mit "IndianaJones74" zum Blind Date verabredet hatte. Sie hatten keine Fotos ausgetauscht, deshalb war die ganze Sache besonders spannend. Erkennungszeichen war ein Reiseführer über Japan, den sie beide besaßen, wie sie zuvor herausgefunden hatten.
Als sie eintraf, war es noch ziemlich leer im
Naniwa ...
... von einem wenigstens halbwegs attraktiven Single in ihrem Alter war weit und breit nichts zu sehen.
Sie setzte sich an die Bar und sah sich plötzlich Doktor Gilbert Blythe gegenüber sitzen, der ihr bei der Entbindung von Henni geholfen hatte.
"Hi, so schnell sieht man sich wieder, alles klar mit Ihnen und Henni?" - "Danke der Nachfrage, es geht uns prächtig, ich komme morgen noch mal zur Nachuntersuchung!" - "Gerne. Was treibt Sie her? Sie sitzen hier so einsam, das kann doch nicht richtig sein." – Carla errötete. "Ich bin verabredet und hoffe, dass mein Date gleich kommt", sagte sie frei heraus.
Auch Gilbert war zum Glück nicht weniger ehrlich. "Ja, so ein Zufall … ich auch! Ich wollte es mal wagen, mich mit einer Frau aus dem Internet zu verabreden. Ein Abenteuer, ich weiß, aber man sollte nicht immer nur arbeiten und dabei die anderen schönen Dinge im Leben vergessen." Carla nickte völlig perplex, holte ihren Reiseführer aus der Tasche, legte ihn gut sichtbar auf die Theke und biss sich ein wenig verschüchtert auf die Unterlippe. Doktor Blythe starrte auf das Buch, kratze sich überrascht am Kopf und legte dann sein Exemplar daneben. Und dann mussten sie auf einmal herzhaft lachen und erst einmal auf die Überraschung anstoßen.
Es wurde ein für beide interessantes erstes Date, man hatte einen ähnlichen Geschmack, und Doktor Blythe erzählte von seinen bisherigen Reisen, was Carlas Herz vor Begeisterung zum Hüpfen brachte, denn sie wollte für ihr Leben gern auch viele fremde Länder kennen lernen.
Schnell waren sie beim Du angekommen. "Weißt du was? Wir lernen uns jetzt erstmal in Ruhe ein bisschen mehr kennen, warten, bis Henni ein Stück gewachsen ist und wieder Frieden herrscht, und wenn wir uns dann noch mögen, fliegen wir zusammen nach Japan und essen Sushi soviel wir mögen, direkt vor Ort, ok?!" Gilberte zwinkerte Carla, die so entspannt lächelte wie lange nicht mehr, fröhlich zu und übernahm dann wie ein richtiger Gentleman die Rechnung.
Sie nahmen sich ein Taxi, setzten mit der Fähre über, und Gilbert brachte seine neue Eroberung noch bis vor ihre Tür. „Also dann, vielen Dank für den angenehmen Nachmittag!" - "Ich kann noch immer gar nicht glauben, dass ausgerechnet du der "IndianaJones74" bist!", scherzte Carla, und Gilbert zeigte ihr daraufhin mit einer geschickte Geste, wie er durchaus in der Lage war, eine Peitsche zu schwingen, um damit vielen fiesen Schlangen und anderem Getier den Garaus zumachen. Das Gelächter der beiden wurde jedoch jäh von Melissa Fuller unterbrochen, die alles andere als fröhlich aussah und ungeduldig gewartet hatte, um auch endlich mal etwas sagen zu können. „Äh, darf ich Sie mal kurz stören?“, räusperte sich die Nachbarin und überbrachte eine Nachricht, die schlechter nicht sein konnte.
“Haben Sie schon gehört, Fräulein von Doberschütz und Herr Doktor, ab sofort werden sämtliche Männer unter 45 Jahren als Reservisten eingezogen und ins Krisengebiet ausgeflogen!!", erzählte Melissa aufgeregt wie ein Wasserfall und aus Carlas vormals roten Freudenbäckchen wich im Nu jegliche Farbe. Auch dem Doc stand der Schreck ins Gesicht geschrieben. Er wusste zwar, dass er als Arzt einen Sonderstatus hatte und man ihn nicht einziehen, sondern lediglich zur Betreuung der Heimkehrer einsetzen würde, da die Inselbewohner ansonsten ohne medizinische Versorgung wären, aber er dachte mit Grausen daran, wie viele Frauen mit und ohne Kinder nun mit völlig unbestimmter Zukunft zurückbleiben mussten.
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Seit sechs Tagen trug Paul nun schon dieses lästige Gipspflaster. Es drückte so unangenehm, dass er die letzten Nächte kaum hatte schlafen können, nicht mal die vergangene in seinem eigenen Bett – die letzte Nacht daheim, obwohl er nicht einmal wusste, ob es überhaupt noch sein Heim war. Wütend riss er das lästige Ding ab, obwohl Doktor Blythe eigentlich mindestens zwei Wochen Tragezeit angeordnet hatte.
Seine Nase sah überraschend gut aus. Ohne das Pflaster tat sie auch nicht mehr halb so weh. Nur die linke Seite seiner Brust schmerzte ihn noch beim Atmen, aber es führte kein Weg daran vorbei, heute ging es los. Keine Zeit mehr für Schonung, die angebrochene Rippe würde schon wieder heilen, wenn er ein bisschen auf sich Acht gab, macht er sich selbst Mut. Paul seufzte tief und verließ dann zielstrebig das Badezimmer.
Er versuchte nun, die gedrückte Stimmung im Haus mit künstlich guter Laune aufzubessern. Aber Abilene weinte in Naikes Armen und Sean wirkte wenig überzeugt von den großartigen Worten seines Stiefvaters, dass Männer nun mal dazu berufen wären, um Frieden zu kämpfen, wenn es denn sein musste. Der Junge hatte ebenfalls in der Nacht zuvor kein Auge zugemacht, nachdem er sich von seinem Vater Adam Tallis hatte verabschieden müssen, ohne zu wissen, ob er ihn je wieder sah.
Naike bemühte sich Jessica zu beruhigen, die jetzt auch noch zu weinen begann und wie üblich wieder einmal mehr Theater machte, als eigentlich nötig, und damit den Kindern noch zusätzlich Angst einjagte. "Ich bin doch gleich wieder bei euch, Jess, wir werden das gemeinsam schon schaffen, ja?!" Jessica jammerte laut. Abilene drückte ihren Vater noch fester an sich. So sehr, dass es ihm fast das Herz brach, sein kleines Mädchen zurücklassen zu müssen.
Dann verließen die beiden Generäle schnellen Schrittes die Simlane 10 und stiegen in den bereits wartenden, laut knatternden Hubschrauber, der sie nach Blauseidigheide bringen sollte.
Sean fühle sich wie taub und ganz leer, denn geweint hatte er in der Nacht bereits genug.
Mit rauschendem Getöse hob der Hubschrauber ab.
Kaum zehn Minuten eisigen Schweigens später sahen Naike und Paul bereits Blauseidigheide unter sich ...
... die ehemalige Kaserne, die ihren Betrieb inzwischen wieder hatte aufnehmen müssen.
Waren das da unten etwa Albert und Gerda Kappe? Naike stand bereits jetzt der Schweiß auf der Stirn.
Während Paul gleich sein Büro aufsuchte, um die letzten Vorbereitungen zu treffen, ließ sie für einen Moment alt vertraute Umgebung auf sich wirken. Hier hatte sie einst zusammen mit Nicolas, Joseph und Julia eine Woche Bootcamp wegen eines Verstoßes gegen die nächtliche Sperrstunde verbracht, die damals wegen der Suche nach einem Serientäter verhängt worden war. Trotz aller Anstrengungen war es eine vergnügliche Woche gewesen, an die sie gerne zurückdachte. Aber nun wirkte alles ganz anders, es gab keine Werkbänke mehr und auch keine Fitnessgeräte. Hier wurde sich nun auf eine harte Mission mit noch völlig offenem Ausgang vorbereitet.