Kapitel 142 - Plan B
Kapitel 142 - Plan B
Keine zehn Minuten Fußweg entfernt, machte sich auch Julia für die Trauung bereit und verbrachte eine halbe Ewigkeit in ihrem Badezimmer.
Was sich allerdings dann auch lohnte, wie ihr Freund Ramon Alvarez feststellte, als sie sich endlich blicken ließ.
"Julchen, ich glaube, ich werde heute auch um deine Hand anhalten, denn ich kann nicht anders. Allerdings musst du vorher den Brautstrauß fangen, sonst sind mir leider die Hände gebunden, und wir müssen bis zur nächsten Hochzeitsfeier warten", witzelte der ebenfalls sehr attraktive junge Mann, was Julia wieder einmal völlig verlegen machte, denn offenbar hatte sie das fast unerschütterliche Selbstbewusstsein ihres Vaters nicht geerbt.
In Gerdas Etablissement hingegen wurde gerade gestritten, denn Manu konnte sich plötzlich nicht mehr erinnern, wo sie die geliehenen Festtagsroben für sich und ihre Kollegin verstaut hatte. Katharina und Hertha flippten beinahe aus, wollten sie doch auf keinen Fall zu spät kommen, denn immerhin hatten sie den längsten Weg bis zur Inselkirche.
Nach wilder Sucherei hatte man die Festkleidung endlich aufgestöbert, da gestaltete sich auch noch die Warterei auf das Taxi als harte Geduldsprobe.
Als aber auch diese Hürde gemeistert war, fiel Manu auf, dass ihre Uhr stehen geblieben war, als sie sie mit der im Taxi abglich. So waren sie nun also sogar etwas zu früh dran, und das Trio beschloss erleichtert, vor der Überfahrt auf die Insel noch Cappuccinos bei Starbucks einzunehmen.
"Darf ich dich kurz stören? Hier möchte dich eine Nastassja sprechen, sie wollte sich partout nicht abwimmeln lassen, tut mir leid", sagte Paul nervös und sah leicht verstimmt zu dem ungebetenen Gast hinüber.
Naike hatte nach Frisur und Make-up schnell zwischen Tür und Angel einen kleinen Käse-Schinken-Toast verdrückt, da sie so früh am Morgen meist noch keinen Hunger hatte, aber auf keinen Fall in der Kirche Magenknurren bekommen wollte, und sich danach mit ihrem restlichen Kakao für noch ein paar ruhige Minuten auf ihr Zimmer zurückgezogen, bevor es endgültig los ging. Doch jegliche Wirkung des wohlig warmen Getränks war verflogen, als ausgerechnet
die Frau in ihre Privatsphäre eindrang, die sie in der Sim-Welt am allerwenigsten mochte und von der sie gehofft hatte, sie niemals wiedersehen zu müssen. Was mochte sie wollen? Sie hatte doch ausdrücklich nur Adam und Joe eingeladen! Aufgewühlt legte Naike ihr Buch zurück in die Schublade ihres Schreibtisches und erhob sich betont langsam und würdevoll von ihrem Stuhl.
"Paul, ist schon in Ordnung, danke! Fahrt doch ruhig schon mal vor, das nervöse Gerenne hier im Haus macht mich noch ganz verrückt, ich werde dadurch auch nicht schneller fertig. Ich geb' mein Bestes und komme dann gleich mit dem Taxi nach, ok?! - "Bist du dir ganz sicher?" - "Ja, natürlich, macht dir keine Gedanken."
"Was wollen Sie von mir?", wandte sie sich dann an den Eindringling, "ich heirate in genau fünfundvierzig Minuten und habe keinesfalls vor, meinen Mann und meine Gäste warten zu lassen."
Nastassja Tallis machte wie gewünscht keine langen Worte: "Hören Sie, Naike, ich weiß, dass Sie mich hassen, ich habe einen unentschuldbaren Fehler begangen und Ihnen furchtbares Leid zugefügt. Und ich erwarte keinesfalls, dass sie mir das je verzeihen. Aber jetzt habe ich die letzte Chance, wenigstens dafür zu sorgen, dass sich das Schicksal vollzieht, welches ich einst zu verhindern versuchte." - "Was bitte meinen Sie damit?", unterbrach Naike die ziemlich pathetisch klingende Ansprache. "Mein Bruder liebt Sie über alles, ihr seid füreinander bestimmt." - "Weiß er das??", lachte Naike ungläubig laut auf, als wäre diese Behauptung ein lächerlicher Witz. "Du darfst Paul O'Meara nicht heiraten, das würde euch alle ins Unglück stürzen", ließ sich Nastassja nicht beirren, "bitte schalten Sie ihr Denken aus und hören Sie auf ihr Herz, dann wissen Sie es selbst!" Naike starrte für einen Moment verwirrt vor sich hin. "Aber Adam hat sich gegen mich entschieden! Er bekam ein Kind mit einer anderen Frau, schlug mich, als ich ihm meine Liebe gestand, und flüchtete anschließend aus dem Land. Es gibt nicht den geringsten Grund ..."
"Milo Richard ist Josephs Sohn, nicht Adams. Er wurde meinem jüngeren Bruder immer ähnlicher, je älter er wurde, da hat Eva-Maria ihre damaligen Seitensprünge gestanden und wenig später hatten wir es Schwarz auf Weiß. "Wie schön für ihn, dann herzlichen Glückwunsch!", hörte Naike sich selbst wie aus weiter Ferne sagen. Es war ihr plötzlich, als würde sie von etwas gesprochen, auf das sie keinerlei Einfluss hatte.
"Naike, bitte!! Seien Sie doch vernünftig, es ist noch nicht zu spät!!"
"Und wenn ich gar nicht vernünftig sein
will?", sprach die Naike-Stimme weiter. "Es ist
absolut zu spät - ihr könnt von mir aus alle hingehen, wo der Pfeffer wächst! Ich kann den Scheißnamen Tallis nicht mehr hören, ihr seid doch alle durch und durch verhunzt!!!“ Sie schnappte unhörbar nach Luft.
Zutiefst betrübt sah Nastassja sie an. Naikes ansonsten warme grün-braune Augen wirkten wie gefroren. Ein menschlicher Eisklotz in weißem Tüll, dachte Adams Schwester, und sie rang in Gedanken erfolglos nach weiteren Argumenten für ihren Bruder.
"Sie dürfen sich jetzt entfernen, ich hab's eilig!" - "Aber ..."
"Gut - wenn Sie unbedingt wollen, bleiben Sie da stehen bis Sie Wurzeln schlagen, ich habe Ihnen jedenfalls nichts mehr zu sagen!", rief Naike böse und rannte dann selbst aus dem Zimmer Richtung Bad.
Paul, Jessica, Nathaniel und die Kinder waren unterdessen aufgebrochen ...
... und fröhlich schnatternd voller Vorfreude in die gemietete Limousine gestiegen, die sie zur Inselkirche bringen würde.
Naike stand in ihrem kleinen Bad vor dem Spiegel und versuchte nicht zu heulen, um ihr Make-up zu schonen, aber es gelang ihr nur halbwegs. Die Affen liefen in ihren Gedankengängen Amok, und das ausgerechnet an diesem Tag, wo sie doch so gänzlich unerwünscht waren, wie schlechtes Wetter oder Autopannen.
Mantramäßig murmelnd wiederholte sie zig Mal, dass alles in Ordnung sei und versuchte damit, die wilden Viecher unter Kontrolle zu halten.
Nastassja hatte Naikes Zimmer nicht verlassen, sondern nach dem Gesprächs-Desaster stattdessen "Plan B" in Form einer kleinen Flasche hervorgeholt.
Zitternd goss sie ein wenig der darin enthaltenen Flüssigkeit in die auf dem Schreibtisch abgestellte Kakaotasse, hoffte inständig, eine ausreichende, aber nicht zu hoch dosierte Menge erwischt zu haben, und schob sie ein wenig vor, als könne sie damit sicherstellen, dass die Zielperson auch wirklich noch einmal daraus trinkt, bevor sie das Haus verlässt. Aber das lag nun allein in Gottes Hand …