Kapitel 167 – Teil 2 - Der verkaufte Kuss
Kapitel 167 – Teil 2 - Der verkaufte Kuss
„Kein Chance. Bitte geh’ – das ist das einzige, was sie permanent wiederholt“, berichtete Adam frustriert, als er aus ihrem Zimmer kam. Er und Desdemona blickten Sean an. Er seufzte und versuchte nun seinerseits sein Glück.
Sie sah blaß aus und wirkte älter als zuvor, aber Sean atmete auf, denn er hatte sich ihren Zustand noch viel desolater vorgestellt. Dennoch spürte auch er ihren inneren Krieg.
„Julchen?“, sagte er leise.
Als sie seine Stimme hörte, sprang sie trotz ihrer noch nicht ganz verheilten Blessuren vom Bett und fiel ihm in die Arme. „Seani, mein lieber Seani, du bist da!“, wiederholte sie immer wieder, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie den einzigen Menschen an sich spürte, dem sie sich noch voll und ganz verbunden fühlte. Einige Momente lang genossen die Geschwister schweigend ihr Wiedersehen, doch dann ergab sich unweigerlich ein Gespräch.
„Was wirst du jetzt tun?“, fragte Sean, doch Julia zuckte nur mit den Schultern, denn es hatte sich, obwohl sie ihren Denkapparat schon so oft bis zum Qualmen strapaziert hatte, bisher keine lebbare Perspektive aufgetan. Sie sammelten noch einmal alle offenen Möglichkeiten und wägten sie gemeinsam gegeneinander ab, aber stießen auch mit zwei Köpfen schnell an deren Grenzen.
„Sean, wenn es behindert ist! Nat ist mein Onkel!“ – „Halbonkel“, korrigierte Sean. „Ja, aber seine Mutter ist meine Großtante, verstehst du? Auch ein Familienmitglied. – Aber selbst wenn ich wüßte, dass es gesund sein wird, was wird aus mir? Ich bin noch so jung, ich will noch kein Kind. Und schon gar nicht von diesem … diesem Bastard!“
Das „Bastard“ ließ Julias Eltern im Flur gleichermaßen zusammenzucken, aber wenigstens schien sie sich nun endlich mal auszusprechen. Desdemona sah unendlich traurig aus, so dass auch Adam selbstgebaute Burg wieder zu bröckeln begann.
„Sie muß da jetzt durch und wir unterstützen sie nach Kräften, ja?!“, versuchte er sie aufzumuntern. „Sowas ist heutzutage in einer halben Stunde erledigt und auch für die Seele gibt es professionelle Hilfe, damit sie das verdaut kriegt. Du wirst sehen, geben wir ihr ein halbes Jahr, vielleicht auch ein ganzes, spätestens dann wird sie wieder lachen.“
„Redest du etwa von Abtreibung?“, fragte Desdemona irritiert. „Natürlich“, antwortete Adam und bemerkte in dem Moment, dass er die andere offenstehende Option bisher überhaupt nicht in Betracht gezogen hatte.
„Das kann man doch nicht tun“, meinte Desdemona, „es ist ein Kind, mein Enkelkind. Das kann man doch nicht einfach umbringen.“ – „Das ist nicht dein Ernst, oder?!“, fragte Adam erschrocken.“ – „Stell dir vor, ich hätte genauso gedacht, dann hätten wir unser Julchen jetzt nicht“, gab sie zu bedanken und stand kurz vor einem Tränenausbruch.
„Nein“, sagte Adam eine Spur zu hart, „das kannst du nicht vergleichen! Wir waren nicht verwandt!“ Er hielt ihren Arm fest umschlossen und zog daran, als könne er dadurch Entscheidendes für sich bewegen. Desdemona spürte die immense Kraft seiner Gliedmaßen, die sie damals gegen seinen Willen hatte verlieren lassen, und machte sich steif. Doch dieses Mal war sie in keinem dunklen Park, sondern in ihrem Haus mit drei anderen Männern in ihrer Nähe, und so hatten die Dämonen der Vergangenheit keine Chance, sie zu überwältigen.
So stark er sich nach außen gab, so schwach war er innerlich und damit beschäftigt, seine Mauern zu stützen, deren Steine plötzlich einer nach dem anderen nachgaben.
„Adam, bleib stehen!!“, bat Desdemona ihn eindringlich, als sie dieses Bröckeln bemerkte. Er hatte mit einem Mal sein Haupt geneigt, das Gesicht schmerzhaft verzogen, ein erstes leises Stöhnen quälte sich nach außen. Einem wütenden Adam fühlte sie sich gewachsen, aber einem verzweifelten? Was sollte sie tun? Ihn heulen lassen? Ihn trösten?
Zu Desdemonas Erleichterung fing er sich wieder. Völlig erschöpft ließ sie sich aufs Sofa nieder, nachdem die Haustür hinter Vater und Sohn in Schloß gefallen war. Fünf Minuten später kam Julia die Treppe hinunter und setzte sich das erste Mal, seit sie bei ihrer Mutter wohnte, an den Tisch, um mit allein gemeinsam zu Abend zu essen.
Vor die Tür war sie jedoch seit ihrer Einquartierung in das Haus ihres Stiefvaters nicht gegangen. Doch Nathaniel gab die Hoffnung nicht auf. Irgendwann würde sie es tun müssen, er mußte nur Geduld haben …
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„Hi Sean, setz dich zu uns! Wir gucken
Vicky Cristina Barcelona. Hat gerade erst angefangen“, lud Joseph ihn freundlich ein.
Sean kannte den Film schon, da er ihn am Abend vor der Klassenfahrt noch bei Abi gesehen hatte, die aktuell in keinen Jungen ihrer Klasse, sondern Javier Bardem verliebt war. Was wenigstens keine Scherereien brachte, dachte er bei sich.
„So, so,
Vicky Cristina Barcelona – na, das paßt ja bestens! Sagt mal, habt ihr keine anderen Sorgen?“, bemerkte er gereizt.
„Doch, so einige“, gab Joseph ohne Umschweife zu, „aber irgendwie muß man sich auch einigermaßen bei Laune halten, wenn gerade eh nur Abwarten angesagt ist. Oder meinst du, dass es Julia besser geht oder Nat seine Ansprüche zurückzieht, wenn wir hier alle Trübsal blasen?“
Sean wußte, dass sein Onkel Recht hatte, aber er fühlte sich dennoch wie angeätzt von den beiden Erwachsenen gegenüber auf dem Sofa, die immer wieder, ganz offensichtlich ohne sich dafür zu schämen, demonstrierten, wie sehr sie sich mochten. Und dann auch noch
Vicky Cristina Barcelona – eine Geschichte um eine kuriose Ménage-à-troi. Sean fand das einfach nur zum Kotzen.
„Und wo ist Papa, bläst
der Trübsal?“ – „Keine Ahnung, eben war er noch hier“, sagte Naike und kuschelte sich mit der Wange an ihres Schwagers Brust. „Wißt ihr was? Ihr seid einfach zum
Kotzen!“, tat Sean dann lautstark seine Gedanken kund und verließ extra stampfenden Schrittes das Wohnzimmer.
Die zuvor gute Stimmung sank hinab in den Keller. „Sind wir das?“, fragte Joseph Naike. „Was?“ – „Na, zum Kotzen?“ – „Ich find nicht. Teenager finden doch eh alles doof, was ihnen nicht in den Kram paßt.“ Joseph kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Vielleicht sollten wir uns ein bißchen zurückhalten, bis das Schlimmste ausgestanden ist und alle sich wieder wohler fühlen.“ – „Aber ich bin doch froh, dass du da bist“, sagte Naike betrübt, „Ad hat sich total eingemauert, ich komme kaum zu ihm durch.“ – „So war er aber eigentlich schon immer, ich hatte mich eh gewundert, als er sich plötzlich einer Frau öffnete. Und das auch noch einer mit lila Haaren, dickem Arsch und Flügeln!“, grinste Joe breit. Naike knuffte ihn erbost in die Seite. „Ich gehe mal nach ihm schauen, wir gucken dann nachher weiter, okay?“
Doch als Naike im Obergeschoß angekommen war, hörte sie Sean im Badezimmer mit Adam reden. Sie verbot sich zu lauschen, obwohl sie zu gerne mitgehört hätte, was sich Vater und Sohn mitzuteilen hatten, und ging wieder hinunter, um das Mittagessen vorzubereiten, während Joseph mit Johanna und Marie im Puppenhaus für Aufruhr sorgte.
„Mmmhh, Lavendel und Melisse, gemischt mit Rosmarin … Lass mich raten:
tetesim Anti Stress Bad?” – “Jap, macht müde Männer munter”, bestätigte Adam. „Also nicht
Vicky Cristina Barcelona? – „Hm?“ – „Na, der Film. Wäre doch bestimmt genau das Richtige für dich, Maman und Onkelchen haben ihn unten an, vielleicht magst du dich ja dazu kuscheln?“ – „Barcelona ist eine wundervolle Stadt, Sean, ich war damals dort für ein Semester. Viel besser als England, kann ich dir empfehlen“, dozierte Adam über die Provokation seines Sohnes hinweg.
„Ich scheiß auf Barcelona, ich will dass Joseph auszieht und zwar dalli“, raunzte Sean mißmutig. „Hör mir mal gut zu, du kleiner Schwerenöter, ich habe dir schon einmal gesagt, dass dies meine Entscheidung ist und nicht deine. Du mischt dich nicht in meine Angelegenheiten und ich mich nicht in deine – ist das ein für alle mal klar?!“ – „Hast du aber getan, deswegen mußte ich mich monatelang heimlich zum Ballett schleichen.“ – „Das ist wahr und es tut mir auch leid“, gab Adam zu, „man kann seine Haltung zu einer Sache schließlich ändern.“
„Wie is’n das überhaupt passiert?“ – „Wie ist was passiert?“ – „Na, wodurch hast du deine Meinung geändert, einfach so?“ – „Ähem, ja … also …“ Adam lachte leicht verschämt, während er in Gedanken hektisch nach einer passenden Antwort kramte. „Äh,
Brokeback Mountain hab ich gesehen“, log er dann. „Und das war alles?“, wunderte sich sein Sohn. Jetzt kam Adam in Fahrt. „Und dein Onkel war maßgeblich beteiligt, du hast es also quasi ihm zu verdanken, dass ich mich umentschied.“
„Hm, na, wenn das so ist …“ – „Ich schwöre Stein und Bein“, bestätigte Adam noch einmal seine Aussage. Aber so richtig überzeugt war Sean nicht. Irgend etwas sagte ihm, dass doch mehr dahinter steckte. Aber das würde er wohl nie erfahren. Erwachsene waren schon seltsam. Er dachte an Angelina und fühlte sich ebenso seltsam.
Da Sean noch Hausarrest hatte, bekam er Besuch von Levent und die beiden unterhielten sich zuerst über dessen Eltern, die ihren Sohn seiner Meinung nach viel zu kurz hielten, dann über die wundersame Wandlung Adams, was auch Levent sich natürlich nicht erklären konnte, zumal er
Brokeback Mountain nicht kannte, und dann über Frauen im allgemeinen und Angelina im Speziellen. Da sich in dieser Sache wegen des Arrests nicht Neues getan hatte, begann sich Levent dann wieder über seine Eltern zu beklagen, dass sie ihm kein Waveboard kauften, obwohl fast alle in der Klasse eines hatten und er sich nachmittags oft ausgeschlossen fühlte, wenn seine Kameraden damit herumtollten.
„Ach, Professorchen-Alarm auf dem Balkon über dir.“ Levent drehte sich um, konnte aber von seinem Platz aus nichts sehen. „Was meinst du? Dass dein Vater mithört?“ – „Vielleicht“, sagte Sean und grinste plötzlich lausbubenhaft.
„Du, ich hätte da eine Idee.“ Sean grinste noch verschmitzter. „Ich brauch’ mein Waveboard nicht, die Teile sind mir viel zu wacklig und ich bin ja eh wegen dem Training selten beim Fahren dabei, das steht hier nur in der Ecke rum und staubt ein. Von mir aus ist es deins, wenn du …“
Den letzten Teil des Satzes sagte er noch leiser als alles zuvor, so dass Levent im ersten Augenblick glaubte, ihn falsch verstanden zu haben. Sein Mund klappte auf. Klappte wieder zu. „Is nich dein Ernst, oder?! Du verarschst mich.“
„Nee, nee. Nur ganz kurz, keine Minute und es ist deins. Ich hab mir auch eben noch die Zähne geputzt.“ – „Aber bei uns gab es was mit Knoblauch.“ Sean lachte und ließ sich nach hinten in den Sand purzeln. Levent sah sich in Gedanken mit Seans hypergenialem Waveboard über den nachmittäglich freien Schulhof flitzen. Wann immer er wollte? Einfach so, für lau?
„Du bist so ein Arsch.“ Levent grinste. „Rache ist süß“, kommentierte Sean selbstgefällig.
„Da, er steht auf dem Balkon. Ohne Hemd!!“ – „Zeig her!“ – „Nix da, ich muß mir das einprägen, um die nächsten Stunden noch davon zehren zu können.“ – „Och, komm. Mir ist total langweilig hier, ich kann so einen Anblick auch gut gebrauchen.“
„Nanu, was hat er denn jetzt?“ – „Was is’n?“ – „Er schaut drein, als hätte ihn der Blitz getroffen.“ – „Zeig!“
„Uuuahhhh! Sean knutscht Levent!!“ – „Waaaas?? Das ist jetzt nicht wahr, oder?!“ – „Nu gib das Ding schon endlich her, ich seh da bloß Punkte am Strand.“
„Uuuahhhh! Tatsächlich!“ – „Na, sag ich doch! Oh shit, das hatte ich nicht geplant. Also entweder ist das jetzt Show oder du mußt sich umorientieren.“ – „Ich faß es nicht. Ich faß es einfach nicht.“
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Adam war in der kleinen Taverne gewesen. Zuerst hatte er den Abend mit Kartenspielen verbringen wollen, um sich auf diese Weise vom Lauf der Dinge abzulenken, aber als Joseph
Brokeback Mountain in den DVD-Spieler gesteckt hatte, war er panisch aus dem Haus geflüchtet und sein Bruder und Naike hatten sich verständnislos angeschaut und ihre völlig zufällige Filmauswahl alleine geguckt. Leicht angetrunken, aber noch Herr seiner Sinne, schlich er müde die Treppe hinauf und ging ins Kinderzimmer, um zu schauen, ob Johanna und Marie auch wohlbehalten schlummerten.
An der Tür hielt er irritiert inne. Irgend etwas stimmte hier nicht. Etwas war anders als sonst, doch im ersten Moment wollte ihm nicht kommen, was es war.
Aber doch, jetzt begriff er, die Gitterbettchen waren fort und seine beiden Töchter lagen in recht hübschen Zwei-Meter-Betten mit Rahmen aus farblich zum Zimmer passender Korbflechterei.
Er durchquerte den Raum und ging zu Marie, die tief zu schlafen schien, wobei sie hin und wieder ein bißchen brabbelte. Sie wirkte irgendwie fremd, aber dennoch war es ohne Zweifel sein jüngstes Kind. Adam hob ihre Decke an und schaute darunter. Nicht nur ihre Arme waren lang, sondern auch ihre Beine. Adam fröstelte es.
Sein Unbehagen verließ ihn auch am Bett von Johanna nicht. Auch sie wirkte, als hätte man sie während seiner Abwesenheit in die Länge gezogen. Aus dem ersten Frösteln entwickelte sich kalter Schweiß und sein Herz begann spürbar zu pochen. Er nahm ihre warme Hand. Johanna begann sich zu drehen, öffnete kurz die Augen, um sich dann wieder einzurollen. „Nacht Papa“, nuschelte sie schlaftrunken mit ihrer typischen Johanna-Stimme. Bloß eine Oktave tiefer als sonst.
Der kalte Schweiß klebte an Adams Körper und sein Herz raste nun, als gäbe es für das schnellste einen Preis zu gewinnen. Mit dem ersten heftigen Panikschub rannte er hinüber ins Schlafzimmer, wo alles so war wie immer. „Naike? - Naike??“ Er rüttelte an ihr, doch sie murrte nur abweisend und kuschelte sich noch tiefer in ihre Decke.
Er lief noch einmal rüber ins Kinderzimmer. Wie zuvor: Korbbetten, Schulkinder – keine Veränderung! Atemlos stürzte er die Treppe hinunter zu Joseph, der wie Naike auf seiner provisorischen Lagerstatt behaglich schlummerte. Er rüttelte ihn so lange, bis er wach war und völlig verwirrt um sich blickte. „Was? Wie? Was ist … eh … passiert?“ – „Die Kinder, was ist mit denen?“, rief Adam fahrig. Joseph erschrak. „Nein, ich meine die Betten“, korrigierte sich Adam hastig. Wo sind die Gitterdinger?“ Joseph seufzte erleichtert. „Ach,
das meinst du. Mensch, wir waren heute Nachmittag bei
Simkea und die Betten hatten uns für die beiden so gut gefallen, dass wir sie gleich mitgenommen haben. Nach dem Film haben wir sie dann noch aufgebaut, weil Jo und Marie so lange genervt haben, dass wir nicht drumherum kamen.“
Adam beruhigte die Erklärung seines Bruders ein wenig, aber seine Gliedmaßen fühlten sich noch immer an wie Wackelpudding. „Aber sie … sie sind so groß“, stammelte er. „Na, zwei Meter lang halt, wie alle großen Betten.“ - „Nein, die Kinder mein ich.“ Joseph lachte kopfschüttelnd. „Wieviel hast du intus, Bruderherz, hm? Kinder wachsen nun mal, das ist ziemlich normal.“ Adam nickte nachdenklich. „Magst du zu mir unter die Decke kommen? Du scheinst ja echt’n Vollschock zu haben.“ Nach diesem Angebot floh Adam aus dem Zimmer und Joseph ließ sich seufzend zurück in die Kissen fallen, während sein Bruder zurück ins Schlafzimmer schlich und sich tollkühn Naikes Laptop schnappte.
Adam schloss die Tür zu seinem Arbeitszimmer ab, baute das Gerät auf seinem Tisch auf und stand zunächst vor einem Paßwort-Problem. Ohne lange zu überlegen, rief er einen Freund und Kollegen namens Geert an, der sich sehr gut mit Computern auskannte und von dem er wußte, dass er oft noch bis in die Nacht an seinem saß. Und so war es auch in dieser Nacht, doch Geert mochte zwar kompetent sein, aber ein Hacker war nicht. Dafür aber um so intelligenter. Adam wunderte sich zunächst, als Geert ihn fragte, ob seine Frau ihn sehr lieben würde. Er bejahte diese Frage, woraufhin sein Freund ihm riet, es doch einfach mal mit seinem Vornamen samt Geburtsdatum zu probieren. „Adam050468“ – falsch! Geert riet ihm, es weniger kompliziert zu machen und das Jahr wegzulassen, denn Frauen seien einfach gestrickt. „Adam0504“ – falsch! Vergiß es, dachte sic Adam, doch nachdem er von Groß- auf Kleinschreibung gewechselt hatte, surrte der Rechner und die erhoffte Benutzeroberfläche erschien. Adam bedankte sich überschwenglich bei seinem Komplizen und dieser wünschte ihm viel Glück bei seinen Nachforschungen.
Plötzlich fühlte er sich nicht mehr so recht wohl dabei, seine Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken. Aber letztlich überwog die Neugier und noch viel mehr seine Sehnsucht nach Seelenfrieden, und er begann sich durch die vorhandenen Dateien zu klicken. Offizielle Dokumente, ein erster Romanentwurf – er hatte gar nicht gewußt, dass Naike schrieb – allerlei Listen zur Alltagsplanung und unzählige Fotos von den Kindern. Und auch im Emailprogramm fand er nur Bestellungs- und Anmeldebestätigungen zahlreicher unterschiedlicher Anbieter, Korrespondenz mit Jessica und anderen Freundinnen, die er unangetastet ließ, und er wollte sie schon gerade wieder abmelden, als ihm auffiel, dass bei einer Mail im Archiv der Name seiner Frau sowohl im Absender als auch im Empfänger stand, nur mit unterschiedlichen Hosts. Der Inhalt las sich unbedeutend, aber warum schrieb Naike an sich selbst? Oder war es nur ein Versehen gewesen?
Wieder wollte er sich ausloggen, als ihm die Idee kam, sich doch noch einmal die Fotos von Johanna und Marie anzuschauen, die Naike letztens auf dem Spielplatz gemacht hatte, und diese mit ihrem jetzigen Aussehen zu vergleichen.
Doch plötzlich stieß er noch auf einen weiteren Ordner mit dem Namen „familie“. Sich auf noch mehr hübsche Bilder seiner Kinder freuend, doppelklickte er darauf und zuckte zusammen. Er starrte auf die Fotos, sein Herz galoppierte erneut los, als gäbe es kein Morgen, und sein Unterkiefer senkte sich automatisch abwärts, wo er für mindestens fünf Minuten verharrte, so dass seine Mundhöhle begann einzutrocknen.
Die Bilder zeigten Naike in einer ihm völlig unbekannten Umgebung, die sehr unordentlich wirkte. Sie sah ein wenig anders aus als sonst, irgendwie fremd, und mit ihr waren auf vielen Fotos drei blonde Mädchen unterschiedlichen Alters abgebildet, auf einem auch ein Mann, der ein bißchen aussah wie Paul. Die Bilder trugen Titel wie „urlaub2008“, „geburtstag_12“, „karneval_kiga“ oder „einschulung“. Naikes Haare waren mal kurz, mal lang, und Adam sah Dinge, die er nicht kannte. Aber er entdeckte auch sich selbst, an einer Pinnwand über einem völlig chaotischen Schreibtisch hängend. Führte seine Frau etwa ein Doppelleben im Ausland? Oder war sie ein Alien?
Durch und durch verschreckt, rupfte Adam den Netzstecker aus der Wand, klappte das Notebook zu und brachte es leise wieder an Ort und Stelle zurück. Dann schnappte er sich sein Kissen und legte sich zitternd zu Johanna ins Bett, die trotz des wilden Herzschlags ihres Vaters selig weiterschlief, während dieser noch eine gute Stunde an die Decke starrte.
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Am nächsten Morgen wurde Joseph durch laute Stimmen aus dem oberen Stockwerk wach, die alles andere als freundlich klangen.
Er ging folgte ihnen, blieb an der Schlafzimmertür stehen und legte sein Ohr an. Adam und Naike zankten bereits am frühen Samstagmorgen um acht Uhr – na prima. Doch worüber redeten die? Es klang in Josephs Ohren völlig bescheuert, aber nicht uninteressant.
“Nun fang’ bitte nicht schon wieder damit an”, verteidigte sich Naike aufgebracht. „Wir haben gestern zufällig diese Betten gesehen, ja – Mensch,
du bist doch weggelaufen, statt den Film mit uns zu gucken, wann hätte ich dir davon erzählen sollen? Und wenn du deine Kinder nur so wenig beachtest, dass du nicht einmal bemerkst, wenn sie größer werden, dann kann ich dir auch nicht helfen!“
Hübsch gelogen, aber Naike schwindelte es. Sie mußte hier weg und zwar schnell, denn Adams Augen hatten animalisch zu funkeln begonnen – kein gutes Zeichen, der Vesuv qualmte S.O.S.!
Sie umrundete ihn und floh auf den Balkon. Tat plötzlich so, als sei das Wohlbefinden von Johanna und Maries frisch gepflanztem Blumensamen das Allerwichtigste auf der Welt und begann mißmutig in den Töpfen zu stochern, in denen sich noch kein zartes Grün blicken ließ. Als sie dann auch noch das kleine Gießkännchen nahm, riß Adam es ihr aus der Hand und forderte noch einmal äußerst aggressiv eine sofortige Erklärung für die seltsamen Phänomene, die er immer wieder beobachtete, doch sie wiederholte nur wieder hilflos ihre üblichen Geschichten. Als sie ihn erneut umrunden und wieder zurück ins Haus flüchten wollte, um sich Joseph zur Unterstützung zu holen, stellte er sich ihr in den Weg und blockierte die Tür. Dann fragte er sie mit bebenden Lippen nach dem Dateiordner „family“.
“Mist, sie streiten sich. Die brüllen sich richtig heftig an!”
“Mein Gott, Judy!! Er schlägt sie!!!”
Ihr Kopf flog zur Seite. Meine Wange wurde warm, sie wurde heiß. Die Holzbohlen unter mir schienen vor und zurück zu schaukeln, ich ließ mein Fernglas sinken und klammerte mich daran fest. In meinem Kopf begann es zu dröhnen, aber wenigstens ging der Schwindel zurück. Hastig setzte ich das Glas wieder an.
Mein Alter Ego war vom Balkon verschwunden. Adam rieb sich seine Hand mit schmerzverzogener Miene, als hätte er sich ebenfalls verletzt. Ich starrte wie hypnotisiert darauf, sie war groß und sehnig, die Finger lang und schlank – die Hand eines Feingeistes, eines Denkers.
Mit einem Mal spürte ich sie auf meiner Stirn liegend, wie sie über meine Nase auf den Mund glitt, sein Daumen meine Lippen teilte und in die Mundhöhle drang. Meine linke Gesichtshälfte brannte jetzt wie Feuer, als seine Hand ihre Reise fortsetzte und meinen Hals umschloß, als gehöre er ihr allein. Ich schnappte nach Luft und begann mit den Armen zu rudern, die Holzbohlen schwankten wieder mächtig, ich stolperte in die Küche. „Judy?! Judy???!“
Plötzlich war alles wieder still.
“Verdammt, wo bist du?!” Eben hatte sie noch hier gesessen und ihr Reisetagebuch geschrieben, aber jetzt fand ich die Küche leer.
Ich lief durch die Räume und den Leuchtturm zweimal hoch und jeweils wieder runter ...
... doch meine Freundin blieb verschwunden. War sie etwa ganz alleine …?
Ich musste los und Judy so schnell wie möglich finden, bevor sie in irgendwelche Schwierigkeiten geriet, fragte mich allerdings, wie mir das gelingen sollte, mit einem Gesicht, dass es auf dieser Insel bereits gab und das jeder kannte.
Ja, ich bin wieder zurückgekommen, um ihm näher zu sein, ihn aus einer anderen Perspektive beobachten zu können als sonst, zu sehen was er tat und was er ließ. Aber stets wohl getrennt durch das schützende Meer, bestens ausgerüstet mit meinem kleinen Fernglas auf den Augen. Doch schien es hier andere Gesetze zu geben, als in meiner Welt. Gesetze, die es zuließen, dass sich Sinne teilten. Oder war es bloß die Tatsache, dass ich schon so lange in anderer Form hier lebte?
Ich rutschte ins Philosophieren ab, was mir zum Glück bewußt wurde, als ich Judys Fahrrad an der Hauswand lehnen sah. Ich sprang auf und lief den Hang hinunter zu der kleinen Bootsanlegestelle. Zum Glück besaßen wir zwei, ein großes und ein kleines. Das große Boot lag noch da. „Oh Mann, hätt’ ich Judy bloß nicht mitgenommen!“, tadelte ich mich selbst, als ich hineinsprang und das dicke Tau löste.