21. Das stinkt langsam
Boah, diese verdammte, blöde Bruchbude geht mir langsam auf den Zwirn. Das Bett quietscht und nachts krabbelt ständig irgendwas ins Ohr oder piekst oder … arghs. Das ist nicht mehr zum Aushalten, und manchmal frage ich mich, was jetzt besser wäre: dieses unerträgliche Geräusch in Bliss Bay oder … hmpf, nein. Es ist beides zum Kotzen, obwohl das hier eigentlich noch harmlos ist. Doch ich schlafe immer spät ein oder gar nicht oder … bäh. Ich bin so müde, dass ich nicht mehr klar denken kann, und dann habe ich ständig Hunger, weil das Essen hier echt Dreck ist und … Ja ja, ich weiß. Immer nur am Meckern. Aber kommt ihr doch mal einen Tag hierher, dann würdet ihr auch meckern.

Also erstmal Essen machen. Vielleicht gibt es heute, so ganz in der Früh, ja auch mal was anderes, außer flockiger Milch und brühender Hitze. Und diese Küche. Boah. Ich will wieder nach Hause. Soll ich vielleicht alles hinschmeißen und mit Chelsey zurück in ihr Zuhause? Da ist wenigstens die Welt noch heile. Meine beste Freundin vermisst mich bestimmt auch schon.
Maaann, ich bin so müde. Sollte ich nicht eigentlich abschalten? Einfach mal zur Ruhe kommen? Dann schwitzt und klebt man nur noch und das Bett stinkt und … hmm?! Warum schießen mir jetzt die Gedanken mit Marcel durch den Kopf? Wo ist er eigentlich schon wieder? Letztens, das fühlte sich so echt an, und dann ist alles wieder beim Alten. Ich verstehe gar nichts mehr. Meine Gedanken kreisen in alle möglichen Richtungen.
Das Wetter ist hier auch total anders. Schwül und voller Insekten. Ständig fliegt irgendwas ins Essen und die Wasserversorgung lässt immer noch zu wünschen übrig. Ich frage mich, warum wir gerade hier gelandet sind? So abgeschottet von allem. Wusste Martin nicht, dass das eher eine leere Wohnsiedlung ist? Und hier soll der Rat sich getroffen haben? Wie lange soll das her sein?
Tja, und was macht Chelsey nachts so? Natürlich schlafen. Ihr macht das total nichts aus. Wie macht sie das nur?

Alles klar. Nächster Versuch.
Zehn Minuten später jedoch …
ARGHS, DAS KANN DOCH NICHT WAHR SEIN!!!!! Wie spät ist es eigentlich? Welches Jahr haben wir? Jetzt muss ich auch noch aufs Klo und mein Knie juckt. Hmm? Puh. Ich sollte schlafen.

Erstmal strecken und dann wieder ab ins Bett. Ich bekomme das schon hin. Na klar, bekomme ich das hin.
Und morgen sehe ich hoffentlich Marcel wieder. Habe immer noch so viele Fragen und ich sollte langsam mal Chelsey darauf ansprechen. Sie hört mir ja nie zu, doch mir ist das wichtig. Sie versucht, ihre Vergangenheit zu verdrängen, doch … gähn. Nein, ich muss erstmal wieder ins Bett.
Später, wenn ich dann irgendwann mal ausgeschlafen bin, werde ich sie definitiv drauf ansprechen. Wir sind ja jetzt hier alleine und weg von ihrer alten Heimat. Keine schlimmen Erinnerungen mehr. Also kann sie doch auch langsam reden, oder nicht? Boah, ist das warm. Egal. Ich schlafe erstmal.

Doch dann ...
„Hmm? Warum kratzt mein Hals? Süße? Ist die Luft so trocken?“
Alles klar. Ich gebe auf. Nein, ich kann eh nicht mehr schlafen.
Wir beide sind total durch. So durch, dass ich meine Brille nicht mehr finde und warum auch immer ich meine Cornflakes-Schüssel in den Garten bringe. Äh. Wir passen langsam richtig in diese Umgebung. Zombies würden hier niemals auffallen.
Bäh, und dann haben wir draußen gefühlt 96 Grad. Ich sollte den Backofen auf 30 Grad stellen und mich reinsetzen. Das ist eindeutig angenehmer. Puh. Nachher in der Stadt werde ich mir so einen Propellerhut kaufen oder einen Fächer. Irgendwie sowas. Und beachtet bitte nicht meine Augenringe. Das ist mittlerweile normal.
Tante Chelsey schläft zwar weitaus länger als ich, aber hey. Fakt ist, dass es trotzdem drei Uhr morgens ist. Und was machen wir da? Richtig. Pflanzen gießen und so. Den Pflanzen ist diese Suppe an Dreckwasser ja noch egal. Hauptsache, da wächst mal was. Also, auf geht’s. Wenn ich zwischendrin nicht wieder einschlafe.
Chelsey redet in der letzten Zeit kaum noch. Sonst war sie immer so aufgedreht. Aber ich dachte, dass es auch ihr helfen würde, wenn wir einfach aus Bliss Bay verschwinden würden. Oder ist jetzt vielleicht einfach nur die beste Zeit, mit ihr mal zu reden?

„Chelsey? Darf ich dich mal was fragen?“
Sie dreht sich jedoch nur um und starrt mich an. Ob der Zeitpunkt wohl doch noch nicht der beste ist?

„Nö, und ich werde auch niemals mit dir drüber reden, denn ich weiß genau, was kommen wird. Lass mich mit in Ruhe, ja?"
„Aber warum? Was ist, wenn ..."
„Amelie. Lass gut sein, ja? Sie sind tot und basta. Punkt! Aus! Ende!"
„Aber …“
Hmpf.

Sie nimmt auch nur den Sack mit Dünger und wendet sich dem Gemüse zu. Na toll. Vielleicht sollte ich es anders angehen?
Hm. Ich höre sie auch nur nuscheln. Und wenn das so weitergeht, hat das Gemüse bald einen Vorrat für drei Jahre an Dünger. Wow, sie knallt das ganz schön drauf. Aber es macht mich stinkig, versteht ihr? Es ist so absurd, und ich wollte bestimmt alles andere, als in dieser Gegend landen.
Bis mir dann die Idee kommt. Ich habe ihr zwar schon erzählt, dass ich Stimmen höre und so, aber immer ist sie abgehauen. Doch es muss auch mal einen Moment geben, wo sie nicht einfach weghören kann. Irgendwann muss ich sie treffen. Ob sie will oder nicht.
„Und was ist mit den Kirschbäumen, die ich habe wachsen lassen? Warum kann ich mit Marcel reden? Seit wir hier sind, konnte ich ihn förmlich spüren.“
Chelsey hört auf, das Gemüse zu düngen, und stellt den Sack zur Seite. Habe ich sie jetzt endlich? Bitte, bitte. Sie dreht sich um, doch schaut mir vorerst nicht in die Augen. Dann schließlich doch. Sie seufzt und schaut mich erstaunt an. Hört sie mir jetzt endlich zu?
„Du lässt Kirschbäume wachsen? Wann war das? Und wie lange spürst du Marcel schon?"
„Tante Chelsey. Das versuche ich dir doch schon die ganze Zeit zu erklären, aber du hörst ja nie zu. Ich kann verstehen, dass dich der Unfall fertig macht, aber meinst du, mir geht es besser mit diesem komischen, was auch immer da passiert?!”
„Süße, ich …“
„Ich drehe langsam durch, ja? Irgendwer wollte mir in Bliss Bay das Leben zur Hölle machen. Diese Stimmen - dieses Schreien. Es war so kalt, verstehst du? Aber du läufst nur singend durchs Haus und gießt Blumen. Hallo? Wenn jemand helfen kann, dann du, aber …“
„Ich äh. Ich wusste das nicht. Ich … als ich in diesem Haus war, da …“
„Chelsey, ich weiß, wie du dich fühlen musst. Ich verstehe dich da total. Aber du musst verstehen, dass auch ich wissen möchte, was hier gespielt wird. Niemand sagt mir was, und das stinkt langsam.“
„Hm.“
Sie macht eine kurze Pause.
„Okay, ich äh. Was willst du wissen? Es, es tut mir leid, ich …“
Vielleicht war es ja doch richtig, hierherzukommen? Weg von diesem Tatort. Dem Ort des Grauens. Endlich fühlt es sich mal an, als wäre Chelsey nicht nur ein Geist. Ich bin happy.
Während wir also gemeinsam anpflanzen, stelle ich Fragen und Chelsey ist tatsächlich gewillt, Antworten zu liefern. Auch wenn es ihr manchmal gar nicht leichtfällt.
„Ich wundere mich, dass ich überhaupt jemals wieder von Magie hören würde. Seit dein Opa den Krieg beendet hatte, gab es keine Magier mehr. Er war der letzte. Nur er beherrschte noch all die Magie. Als er 18 Jahre alt wurde, hatte er sämtliche Magie in sich aufgesaugt. Jede einzelne. Danach nannte man ihn den „letzten Magier“.
„Und du sagst, dass du Marcel sehen kannst?“
„Ja. Erst dachte ich, dass ich mir das alles nur einbilde, doch seit wir hier sind, kann ich ihn spüren. Was bedeutet das?“
„Hm. Süße, ich … es … du musst verstehen, dass es nicht einfach ist, ja? Sowas konnte mein Vater alles. Also mit Geistern sprechen. Er musste schwarze wie auch weiße Magie beherrschen lernen und … irgendwie kannst du das wohl auch. Und äh … mit Geistern sprechen können eigentlich nur Nachtwandler. Aber du sagtest, dass du auch Kirschbäume zaubern kannst? Das ist eigentlich … unmöglich. Magie gibt es nicht mehr.“
„Nachtwandler können sowohl mit Toten, als auch mit Menschen aus anderen Dimensionen kommunizieren. Sie sind nicht zu unterschätzen und haben sehr viel Macht. Die schwarzen Magier haben damit Welten zerstört und … Aber sag, Süße, du spürst ihn wirklich?“
„Äh, ja. Denke ich zumindest. Letztens fühlte es sich so an, als würde ich seinen Atem spüren.“
„Ich kann das irgendwie alles nicht glauben. Mein Vater ist tot. Er hat uns eine letzte Dimension erschaffen. Und zwar diese hier, verstehst du? Damit endete der Krieg und wir lebten zwar alle weiterhin zusammen, aber jeder versuchte, sich was Neues aufzubauen. Und … puh. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Weil. Äh. Aber Moment. Wenn du Marcel spüren kannst, dann heißt das, dass er nicht tot ist, verstehst du? Und das heißt, du bist auch eine Nachtwandlerin? Ich, ich verstehe das nicht.“
„Moment, Marcel lebt?“
Ich bin total baff. Marcel lebt?
„Hey, Süße, ich … äh. Ich will dir keine Hoffnung machen, aber hattest du nicht auch mal gesagt, dass er meine Schwester sehen würde? Meinen Vater? Oh, Moment. War da nicht auch mein Schwager?"
Das heißt also, dass mir Tante Chelsey ja doch zugehört hat. Wollte sie es einfach nur verdrängen und hat es nicht zugegeben?
„Aber … hmpf. Aber das ergibt keinen Sinn, Süße. Mein Vater ist tot, verstehst du? Aber wieso spürst du Marcel? Leben sie doch? Ich bin verwirrt.“
Kurz hört sie auf zu arbeiten und schüttelt nur kurz den Kopf. Sie macht sich weiter ans Werk.
„Nein, sie sind definitiv tot. Das weiß ich.“
„Hör zu, Süße. Ich werde zusammen mit dir Antworten suchen, ja? Wenn du wirklich eine Nachtwandlerin bist und Kirschbäume zaubern kannst und … puh, das würde heißen, du bist auch ein Waldgeist und … hast du etwa Paps seine Magie erhalten? Aber wie? Hat er sie dir gegeben? Amelie, wir müssen versuchen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Ja, es würde mir schwerfallen, aber ich weiß, wie man das machen könnte, ja? Wenn sie alle noch leben, dann … dann wäre das toll, verstehst du? Und wenn sie nicht mehr leben, dann könnte ich wenigstens noch Tschüss sagen.“
Wir beschließen also, den Rest noch einzupflanzen, und machen uns eeeendlich gemeinsam auf die Suche nach Antworten. Das lässt ihr gar keine Ruhe mehr. Ich höre sie ständig nur nuscheln und sagen:
„Oje. Wenn sie eine Nachtwandlerin ist und vielleicht auch verflucht, dann … ich muss sie beschützen.“
Sie ist total durcheinander.
„Du musst mir alles erzählen, ja?“
„Ja, klar.“
„Hast du vielleicht das Gefühl, dass du weiße Haare hast?"
„Wie bitte?“
„Also sie sind rot gefärbt. Doch, warum? Waren sie vielleicht weiß und du fandest das so hässlich?"
„Äh. Moment, du redest von diesem Fluch?"
„Okay, halt, Süße. Hihi. Bevor wir irgendwas machen …“
Plötzlich lässt sie alles stehen und liegen und ist total happy. Also versucht es zumindest.
„Wir gehen jetzt was frühstücken und dann ab ins Wasser, ja?“
„Äh."

„Das wäre so toll, wenn sie alle noch leben würden. Ich habe ihnen noch so viel zu erzählen. Und du hast sicher viele Fragen. Ich werde alles beantworten, ja? Wirklich alles. Das ist so krass."
„Ähm, Chelsey. Wir wissen doch noch gar nichts."
„Ja, aber Marcel sagte, dass sie auch alle da sind. Also können wir Kontakt aufnehmen."
„Äh."
Uff. Jetzt dreht sie wieder total durch. Okay, klar. Ich habe sie jetzt vielleicht mal endlich in der Leitung, aber so aufgedreht wie sie ist, ist sie auch nicht gerade hilfreich.
„Und du sagst mir, ob deine Haut in der Sonne verbrennt, ja? Ob sie wirklich qualmt. Weil, dann ..."
„Wieso sollte sie brennen?“
„Ach, nein, komm. Ich zeig’ dir, wie man surft, hihi.“
„Hä?“
„Das ist so toll, hihi.“
„Und wenn du wirklich zaubern kannst, dann kann ich dir zeigen, wie man gut bleibt, ja? Das darf sich nicht wiederholen und du musst die Welt beschützen. Und wenn ich dir dann Surfen beigebracht habe, dann kannst du eben auch surfen, hihi.“
Was zum Geier redet sie da?
Okay, alles klar. Ich lasse das erstmal im Raum stehen und werde mir mit Chelsey nun doch mal einen schönen Tag machen. Der Strand ist einfach zu genial, um sich nun darüber den Kopf zu zerbrechen, was sie da alles gemeint hat. Ich denke, ich bin langsam auf dem richtigen Weg, doch auch Chelsey muss sich erstmal sortieren. Es ist gerade etwas viel, da ich ja auch nicht viel Schlaf bekomme. Dann diese Hitze. Puh.
„Komm, Süße. Worauf wartest du? Vielleicht bist du ja auch noch ein Wellenreiter? Hihi. Wir müssen das alles rausfinden.“
„Okay, cool. Machen wir.“
Boah, ist sie aufgedreht.
Doch ich hoffe, dass ich ihr jetzt nicht zu viel Hoffnung mache und sie denkt, dass ich jetzt alle wieder zurückholen kann. Ich merke seit Bliss Bay, dass Chelsey ordentlich leidet. Jetzt verstehe ich alles. Doch ich werde ihr helfen, ihren Kummer zu beseitigen. Und somit starten wir mit einem Ausflug ans Meer. Mit einem abgekühlten Kopf kann man besser nachdenken und hey. Seit wann kann meine Tante surfen? Wie auch immer.
Die nächste Folge wird auf jeden Fall ein bisschen nass, hihi. Der Spaß muss jetzt einfach mal sein. Und dann sortiere ich alles Stück für Stück.
