~ 8.Kapitel ~
~*Nachtgeflüster*~
Passender Songtitel: Everything – Lifehouse
Es tut gut, wenn eine Freundin dir ihren Arm um die Schulter legt und dir sagt, dass alles gut wird. Selbst wenn das vielleicht nicht stimmt. Aber in einem kurzen Moment ist man bereit all das zu glauben was man selbst hofft und Juli hoffte nichts sehnlicher, als dass alles wieder in Ordnung werden würde, während sie in ihrem Zimmer saß und wartete. Maria leistete ihr Beistand. Sie war die erste gewesen, die auf magische Weise von Alices Auftreten Wind bekommen hatte, sie leugnete es, aber Juli wusste, dass Carlo sie angerufen hatte um ein Augen auf sie zu werfen.
„Ich kann immer noch nicht fassen, dass sie uns allen etwas vorgespielt hat und sich nun bei euch eingenistet hat“, fauchte Maria und erhob sich.
„Sie hat sich nicht eingenistet und ich bin freiwillig gegangen, Maria. Ich glaube so ist es am besten.“
„Juli, du musst nicht die Starke spielen. Ich sehe doch, dass du am liebsten schreien und heulen möchtest und, dass du so sauer auf Carlo bist, dass es dich fast zerreißt. Sogar ich hätte es gerne gesehen, wenn er sie mit einem Fußtritt aus Terracina geschmissen hätte“, lächelte Maria und blieb vor Juli stehen, die ihrem Blick auswich. Maria hatte ja so Recht, aber sie konnte jetzt nicht wie ein heulendes Wrack zurück bleiben, sie
musste nun einmal stark sein, sonst würde sie daran zergehen, an die unglaubliche Vorstellung, dass er nun alleine mit ihr war und gestern die erste gemeinsame Nacht mit ihr in einem haus verbracht hatte. In
ihrem Haus.
„Ich weiß doch, Maria. Ich wünschte nur, dass er sich anders entschieden hätte, aber wenn ich fair bin, weiß ich, dass ich auch so gehandelt hätte und du auch. Ich will nur, dass dieses miese Gefühl aus meiner Magengegend verschwindet“, schluchzte sie und drückte ihren Kopf in ihre Hände. Wie gut es plötzlich tat zu weinen, alles hinauszulassen, den Kopf irgendwie frei pusten zu können. Maria kniete sich nieder und nahm sie vorsichtig in den Arm, wippte sie leicht hin und her und versuchte sich vorzustellen, wie sie Carlo eine scheuern würde, dafür, dass sie seine Verlobte so schlecht behandelte. Aber dann stutzte sie. Juli hatte Recht. So unfair es klang und so mies es war; Carlo blieb nichts anderes übrig, als sich um Alice zu kümmern. Jeder hätte es getan und, dass er ihr zufällig begegnet war war vielleicht nur Schicksal gewesen, aber was hatte es nur mit den beiden vor?
Das Schicksal hatte schon zu grausame Spielchen mit den beiden gespielt.
~*~
Am Nachmittag tauchte Carlo bei Juli auf, doch sie ließ ihn durch ihren Vater abblitzen. Zu schwach erschien sie Carlo jetzt unter die Augen zu treten. Er würde nur sehen wie schwach sie war, wie wenig Vertrauen sie doch in ihn hegte und er sollte nicht so leiden wie sie, doch sie konnte ja nicht ahnen, dass ihn diese Abfuhr stärker mitnahm, als sie leiden zu sehen.
Carlo wusste weder ein noch aus. Für ihn war dieser Zustand unerträglich. Unsicher stand er in der Straße und starrte auf das Haus, aus welchem Julis Vater ihn eben gerade so höflich hinausgebeten hatte. War das was Juli sich wünschte? Ihn nicht mehr zu sehen? Das konnte es nicht sein! Sie liebte ihn. Und sie wusste, dass er sie ebenfalls liebte! Oder zweifelte sie wirklich? Unruhig lief er um das Haus herum, bis er den Garten erreichte, dort schwang er über den Zaun und blieb in dem sauber gestutzten Rasen stehen. Julis Fenster war leicht geöffnet, ansonsten war niemand zu sehen. So nah er konnte postierte er sich unter ihrem Fenster.
„Juli?“, rief er. Nichts geschah. Er kam sie wie ein Vollidiot vor, hier zu stehen und seine Verlobte dazu zu bewegen nur ein Wort mit ihm zu sprechen. Er hatte wirklich geglaubt, dass sie sich in Einverständnis getrennt hätten, dass er sie jeden Tag besuchen könnte, bis sie wieder bereit wäre bei ihm einzuziehen. Aber er hatte sich geirrt und das schlimmste war, dass er es ihr nicht verübeln konnte. Er fühlte sich mies, so als würde er die Leute bestrafen, die er liebte und all die Begünstigen, die es nicht verdient hatten und er wusste genau wen er damit meinte.
„Ich weiß du hörst mich!“, rief er wieder, dieses mal lauter.
Genauso wie der Rest der Nachbarn mich jetzt wohl auch hören wird, dachte er zynisch.
„Verdammt Juli! Komm schon! Willst du, dass ich bettele? Dass ich hier niederknie? Ich tu es; aber SAG endlich etwas!“ Doch von ihrem Fenster aus war kein Mucks zu hören und niemand zu sehen.
Er wartete einen Moment und atmete dann tief durch. Er benahm sich wie ein Trottel, wie ein verkorkster Romeo, dem wohl nicht soviel Glück zukam. Aber hatte er denn eine andere Wahl? Er war schon immer unfähig gewesen auf etwas zu warten, wenn er nicht wusste, ob dieser Zustand vielleicht ewig andauern würde. Aber er spürte, dass Julis Fenster geschlossen bleiben würde und so trat er langsam den Rückzug an.
~*~
Gian Marco stand in der Küche der Pizzeria und knetete gähnend den Teig für eine Pizza, während im Hintergrund alte Oldies aus dem Radio dröhnten. Während er den Teig einmal kurz in die Lüfte schmiss dröhnte der nächste Oldie aus den Boxen.
„The only one who could ever reach me, was the son of a preacher man”, sang Gian Marco lauthals mit. “The only boy who could ever teach me, was the son of a preacher man.”
“Ich hab irgendwie immer geahnt, dass du schwul bist”, hörte er eine Stimme hinter sich sagen. Sofort wirbelte er herum und sah Maria in der Tür stehen, breit grinsend. Er erwiderte das Grinsen.
„Oh, meine liebe. Ich habe viele Dinge an mir von denen du nur zu träumen gewagt hast“, meinte er mit einem hochnäsigen Ton und streckte den Teig langsam in der Form. Maria blieb an der Tür stehen und beobachtete ihn einen Moment. Sie mochte ihn unheimlich. Egal wie schlecht es einem doch zuvor gegangen war, wenn man in seine Nähe kam konnte man nichts anderes tun, als zu lachen und glücklich zu sein. Sie wünschte sie hätte dieses Talent, denn Juli brauchte in ihrer Momentanen Verfassung nichts geringeres.
„Ich muss mit dir sprechen“, verkündete sie und versuchte ernsthaft zu bleiben, während Gian Marco seiner Pizza den letzten Feinschliff verlieh.
„Schieß los, ich hör zu.“
„Alice ist wieder hier.“ Noch bevor Gian Marco einen laut von sich geben konnte segelte seine Pizza, die er gerade in den Backofen schieben wollte zu Boden, dass es nur so schepperte. Regungslos blieb er stehen, starrte Maria an.
„Was?!?“ Doch Maria schüttelte nur den Kopf, kniete nieder und versuchte die Pizza noch irgendwie zu retten. Während sie die Reste zur Ablage trug klärte sie ihn soweit auf wie Carlo bereit gewesen war sie aufzuklären. Als sie fertig war stand Gian Marco noch immer schweigend in der Küche und starrte sie fassungslos an. Fast wäre sie soweit gewesen ihn anzuschnauzen, dass er ihr doch endlich glauben sollte, doch er kam ihr zuvor.
„Wieso sagt der Hund kein einziges Wort?“, schnaubte Gian Marco.
„Er selbst weiß es erst seit gestern Nachmittags, Juli ist gestern Abend ausgezogen und vollkommen fertig mit den Nerven, sie glaubt nun, dass alles mögliche in ihrem Haus geschieht und ehrlich gesagt, ich kann nichts gegenteiliges behaupten, du weißt wie sehr Carlo Alice geliebt hat, wie er sie vergötterte“, ließ Maria ihn bedenken, doch Gian Marco winkte heftig ab.
„Das glaubst du doch nicht im ernst? Carlo liebt Juli.“
„Ja, sicher tut er das. Aber er würde nie aufhören Alice zu lieben, das hast du selbst mal gesagt und nun da sie hier ist. Er muss unheimlich verwirrt sein. Ich will nur nicht, dass er irgendwelche Dummheiten begeht, verstehst du? Er hat mich heute angerufen und mir alles erzählt, damit ich mich um Juli kümmern kann und nun bin ich hier und erzähle dir alles, damit du dich um ihn kümmern kannst. Ich glaube er hat es verdammt noch mal nötiger!“, sagte sie energisch und blickte Gian Marco fest an. Dieser sagte für einen Moment nichts mehr, dann nickte er.
„Gut. In Ordnung, obwohl ich Carlo für einen vernünftigen Menschen halte“, doch noch während er diesen Satz ausgesprochen hatte musste er sich ins Gedächtnis rufen, wie kompliziert es gewesen war Juli und Carlo zusammen zu bringen, weil Carlo eben alles andere als vernünftig gehandelt hatte, gerade wenn es um Juli ging und der damalige Grund war kein anderer gewesen als Alice. Gian Marcon schnaufte tief aus.
Verdammt Carlo, wenn du dich dieses mal nicht am Riemen reißt wirst du mich als Wachhund nicht mehr los, knurrte er in Gedanken.
~*~
In der Küche trank Carlo etwas und ließ sich auf dem Küchenstuhl nieder, der Schock des abends lag ihm immer noch in den Knochen und er spürte es bei jedem Atemzug. Er schrak auf, als er hinter sich Schritte vernahm. Alice stand in der Tür, das fahle Mondlicht ließ nur ihre Konturen erkennen, aber er würde sie unter Hunderten wieder erkennen. Sie trug ein einfaches Nachthemd.
„Hey“ Meinte sie flüchtig und trat näher, Carlo versuchte leicht zu lächeln.
„Hey…“ antwortete er ihr und sie ließ sich auf einem Küchenstuhl nieder, sah ihn lange an ehe sie etwas sagte.
„Geht es dir besser?“ Carlo nickte stumm.
„Ja... etwas“ er nahm sein Glas und trank ein Schluck, ihre Gegenwart schien ihn plötzlich nervös zu machen, was wohl daran lag, dass sie kaum etwas trug. Damals wäre es kein Problem gewesen, er hatte sie oft genug sogar nackt gesehen... aber jetzt? Gott, wie konnte er nur an so etwas denken, wenn Juli jetzt vermutlich auch nicht schlafen konnte und wütend aus dem Fenster starrte.
„Ich konnte nicht aufhören, die letzten zwei Jahre an dich zu denken“, flüsterte Alice leise. Carlo hob den Blick, runzelte die Stirn.
„Du meinst die zwei Jahren, in welchen in an deinem leeren Grab gesessen hab und dich betrauerte, bis es mich fast umbrachte?“ Sie schwieg und betrachtete ihre zarten, bleichen Hände. Die gleichen Hände wie damals, fuhr es ihn durch den Kopf.
„Ich habe jede Wut von dir verdient, auch Julias Hass“, flüsterte sie, ohne aufzublicken. Carlo betrachtete sie und wandte seinen Blick ab, es war zu schmerzhaft sie zu betrachten, zu sehen, dass sie es war. Es zu begreifen und es gleichzeitig nicht zu verstehen. Ständig die gleichen Fragen; Warum? Wieso? Er hatte es absolut satt, er wollte das alles so nicht.
„Juli hasst dich nicht, den einzigen den sie nicht versteht bin ich. Ich muss damit leben, dass sie nicht mehr mit mir sprechen will“, sagte er bitter. Alice schwieg einen Moment, dann ergriff sie seine Hand, wie sie es zuvor auch schon öfters getan hatte, doch plötzlich war es etwas anderes, es war nicht die nette Berührung, die sagt, dass sie da war. Es war mehr. Und auch Carlo spürte dies tief in seinem Inneren und dort gab es einen Winkel der sich dagegen sträubte, doch ein anderer Teil schrie nach dieser Art von Berührung, weil er so lange darauf warten musste.
„Wenn ich dich so betrachte glaube ich einen Engel zu sehen“, hauchte er und verstärkte den Druck um ihre Hand, beinahe so fest, dass es ihr schmerzte. Aber er wusste sich nicht anders zu helfen. Das Verlangen wollte ihn nicht loslassen.
„Ich wünschte ich wäre ein Engel, aber ich bin es nicht, Carlo“, sagte sie und schluckte tief.
„Nein“, lächelte er „du bist viel mehr als nur das“
Alice atmete schwer aus und schloss für einen Moment die Augen, spürte den Sand auf ihrer Haut und das Salz des Meeres in ihren Haaren, ihre Lippen brannten von seinen Küssen und ihr Hals durstete nach seinen Berührungen. Es war ihr, als wäre sie tief in die Vergangenheit zurück versetzt worden.
Er hatte sie nicht berührt, hielt nur ihre Hand und betrachtete sie, aber trotzdem fühlte sie sich genauso wie früher, sie war wieder zwei Jahre jünger. Nur für einen Abend. Feuer brannte in ihr, als sie die Augen öffnete und seine sinnlichen Lippen vor sich sah. Er hatte sich erhoben und stand nun direkt vor ihr, sie schluckte tief zu tief... er schien ihre Nervosität zu fühlen.
Fühlte es sich falsch an? Nein, nicht im Geringsten. Carlo war wieder wie in die Vergangenheit zurück versetzt, in eine Zeit wo Juli noch gar nicht existierte, wo sie glücklich mit Ben in Deutschland lebte, wo sie kein Kind unter ihrem Herzen trug und wo er sich Tag und Nacht nur nach Alice verzehrte. Ihre Lippen schienen perfekt ineinander zu versinken, passten wie für einander gemacht und auch ihre Zungen umkreisten sich wie Raubtiere auf Streifzug. Es war nichts fremdes. Für beide war es etwas vollkommen normales, den alten Geruch, den alten Geschmack wieder zu erleben. Alice fühlte nichts außer seinen Atem und seinen Mund, andere Körperteile glitten ihr aus der Hand, es ließ sich auch nicht vermeiden, dass ihre eigenen Hände ihn weiter nach hinten zogen, hinüber ins Wohnzimmer, zur Couch hinüber.
Mit einem leisen seufzen lagen beide auf der Couch und Carlos stämmiger Körper über ihren Beinen.
Er schien ebenso in Trance, schien auch das Meer im Hintergrund zu hören, der Wind in ihrem Haar. Seine Hände an ihrem ganzen Körper. Sein Mund wanderte an ihrem Hals entlang hinterließ eine Spur voll mit Magie, funken sprangen aus seinem Mund, gaben ihr elektrische Stromschläge, sie unterdrückte ein tiefes Seufzen. Seine Küsse trafen ihr Schlüsselbein, er war zu weit von ihr entfernt, sein Mund war zu weit weg, er entglitt ihr, sie brauchte seine Lippen um nicht zu fallen. Ihre Beine schlangen sich um seine Hüften und ihre Hände fuhren in sein schwarzes Haar und sein Becken prallte gegen ihres... genau wie damals, er biss sich auf die Unterlippe um sein Stöhnen zu unterdrücken, nur ein leiser Laut verließ seinen Mund, eher er seine Lippen wieder auf ihre versenkte.
„Juli...“ hauchte er zwischen ihre Lippen und erstarrte... wer war Juli? Oh Gott. Carlo erhob sich panisch. Alice blickte schwer atmend zu ihm auf. Sie wirkte nicht weniger verstört wie er und Carlo konnte nicht fassen, was hier eben passiert war... er hatte Juli betrogen. Aber wie war das möglich gewesen? Er erinnerte sich plötzlich an nichts mehr. Nicht wie es dazu gekommen war und nicht wie es geendet hatte. Da lag nur Alice auf der Couch und sie sah so klein und verletzlich aus. Aber er schien plötzlich nicht mehr klar denken zu können, so schnell er konnte riss er die Tür auf und stürmte nach draußen, ins Freie.