@Rama79: Hehe, ja, von Darios Vergangenheit hat man bisher ja nur sehr wenig erfahren. Deswegen auch das Erinnerungskapitel. Julie weiß, dass er sich wieder mit seiner Familie vertragen hat, ich wollte das nur nicht auch noch in die Geschichte einbauen, weil das Kapitel dann ja noch länger geworden wäre. Für deine Komplimente und den netten Kommi danke ich dir sehr, ich freu mich schon immer auf deine Kommentare *g*
@Maus73: Oho, dann darf man gratulieren? Und in drei Wochen ist es soweit? Wow, ich sag dann einfach mal herzlichen Glückwunsch! Aber gut, dass du geduldig bist, ich weiß nämlich noch nicht genau, wann die nächste Fortsetzung kommen wird. Also nach der hier
Kapitel XX - Erinnerungen Teil 2 - Carolina, Ben und Olivia
Zum Glück ging allen die Arbeit schnell von der Hand, so dass die Küche bald fertig gestrichen war. Mirko hatte als Jugendlicher viel im Geschäft seines Vaters mitgeholfen, der Fliesenleger war, so dass er nun schöne weiße Fliesen in der Küche verlegte. Julianna mochte das bisherige Ergebnis jetzt schon. Ihr Wunsch war es gewesen, eine helle, freundliche Umgebung zu schaffen. Auch die Möbel hatte sie unter diesem Gesichtspunkt ausgewählt. Sie sollten modern, aber nicht klinisch sein, gemütlich, aber nicht altmodisch und ein wenig romantisch, aber nicht kitschig sein. Und sie fand, das war ihr auch gelungen. Am nächsten Werktag würden sie geliefert werden und bis dahin war noch viel zu tun. Das Bad hatte Mirko schon fertig gefliest, aber mit dem Betreten mussten sie noch warten. Das war ganz praktisch, weil Julianna den Handwerker, der ihre neue Badewanne, das neue Waschbecken und das Klo installieren sollte, ebenfalls erst für Montag bestellt hatte.
Unter großem Gelächter und viel Spaß hatten Julianna, Olivia und Esther die Holzverkleidung im oberen Flur und im Schlafzimmer entfernt und das Schlafzimmer neu tapeziert. Julianna hatte Olivia und Esther extra in einem Raum zusammen eingesetzt, weil sie hoffte, so würden die beiden ein bisschen zueinander finden, aber die Beziehung der beiden war wohl noch zu belastet. Jedes Mal, wenn Olivia Esther aus Versehen streifte, versteifte sich diese und lief schnell zu Julianna, um ihr irgendetwas zu zeigen. Immerhin ließ Esther mittlerweile kleine, glucksende Laute vernehmen, wenn Olli einen Witz machte und Olli bemühte sich daraufhin, noch witziger als sonst auch schon zu sein. Als Mirko an der Tür vorbeigekommen war, um Bescheid zu sagen, dass niemand mehr ins Bad dürfe, hatte er Julianna dankbar zugelächelt und war in Richtung Küche verschwunden. Sie freute sich, dass er ihren Plan guthieß und kleisterte fröhlich die nächste Bahn Tapete ein.
Im unteren Stockwerk gingen die Arbeiten auch schnell voran, so dass der Farbanstrich nur noch ein Mal erneuert werden musste. Carolina summte vor sich hin. Sie hätte es nie für möglich gehalten, dass ihr das Tapezieren so Spaß machen würde. Ein wenig besorgt musterte sie ihren Bauch. Hoffentlich schadete es dem Baby nicht, wenn sie hier mitarbeitete. Seltsamerweise verursachte ihr der Geruch des Kleisters aber gar keine Übelkeit, wie sie befürchtet hatte, sondern roch eigentlich ganz gut. Sie musste kichern. Ihr Geruchssinn war seit der Schwangerschaft ziemlich ausgeprägt, aber dass sie jetzt schon Kleister gut riechend fand? Sie war sehr gespannt, welche Änderungen das kleine Leben, das in ihr wuchs, ihr noch bescheren würde. Sachte legte sie sich eine Hand auf den Bauch. Noch konnte man nichts erahnen. Sie war so schlank wie immer und das Baby war noch nicht groß genug, als dass sie es hätte spüren können.
Aber es war da und es veränderte sie bereits jetzt auf elementare Weise. Jedes Mal, wenn sie an den kleinen Wurm dachte, bildete sich ein Kloß in ihrem Hals und sie empfand eine ungeheure Ehrfurcht und Dankbarkeit, dass sie in nicht allzu ferner Zukunft einem Kind das Leben schenken durfte. Josta und sie würden gute Mütter sein, das wusste sie einfach. Sie würden nicht zulassen, dass irgendjemand ihrem Kind etwas tat. Sie würden es lieben und beschützen, egal was noch kommen würde. Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht und ihre Stimmung wurde getrübt, als sie daran dachte, dass sie ihr Kind vor den bösen Zungen wohl kaum behüten konnte. Die Tränen schossen ihr in die Augen und sie wischte sie unwirsch weg. Seit der Schwangerschaft war sie viel weicher geworden. Kleine Ereignisse konnten sie jetzt in Tränen ausbrechen lassen.
Sei es der Zeitungsjunge, der jeden Morgen an ihrem Haus vorbeikam und dessen Zuverlässigkeit und Selbständigkeit sie rührte, oder die blöde Werbung im Fernsehen, in der ein Vater ein Auto kaufte und dafür von einem kleinen Mädchen mit "Danke, Papi, du bist der Beste!" belohnt wurde. Letztens hatte Josta sie sogar erwischt, wie sie in Tränen aufgelöst auf einer Parkbank saß, weil sie einen kleinen, in das Holz geschnitzten Engel entdeckt hatte. Seit sie ein Kind unter ihrem Herzen trug, war sie sich ihrer Verletzlichkeit, aber auch ihrer Weiblichkeit so bewusst wie nie zuvor. Und allein für diese Erfahrung würde sie ihr Kind ihr Leben lang lieben und darüber hinaus, wenn ihr das möglich war. Wer wusste schon, was noch so alles neben dem Leben existierte? Sie hatte sogar begonnen, den Menschen gegenüber, die ihr nahestanden, einen Beschützerinstinkt zu entwickeln. Hätte ihr jemand das vor ein paar Monaten gesagt, sie hätte ihn für verrückt erklärt. Aber es stimmte. Sogar Julianna sah sie mittlerweile mit anderen Augen.
Sie war so eifersüchtig auf sie gewesen. Aber das war nun vorbei. Mittlerweile sorgte sie sich richtiggehend um sie und sie hoffte, dass das Mädchen zur Vernunft kommen und eine Alarmanlage installieren würde. Aber sie war so naiv. Sie dachte, alle auf der Welt wären so geradlinig, ehrlich und aufrichtig wie sie selbst. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass neben ihrer Art zu leben noch so viele andere Arten bestanden. Und nicht alle waren gut. Einige aber doch. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sich erneut an den Bauch fasste und in eine Erinnerung versank, die ihr immer wieder ein Licht in schwierigen Zeiten gewesen war, auch wenn ihre Eifersucht auf Julie sie etwas getrübt hatte.
Es war ein wunderschöner Tag im Mai gewesen. Ich war mit Julianna verabredet und schon ein paar Minuten zu spät. Ben hatte mich darum gebeten, weil er glaubte, dass sie mal aus ihrer Wohnung raus und von Olivia wegkommen müsse. Eigentlich stimmte ich ihm zu, aber ich kannte sie noch nicht so lange und hatte bisher keinen rechten Draht zu ihr gefunden. Sie war eine graue Maus und immer so ruhig und still. Ich hingegen wollte frei sein, Spaß haben und viel unternehmen. Allein, was sie sich als Treffpunkt ausgesucht hatte – ein Café! Es war fast 17 Uhr, Zeit, um sich schon mal einen Platz in einer Bar zu sichern, oder sich für die Disco fertig zu machen und nicht, sich wie eine alte Oma kakaoschlürfend in ein Café zu setzen. Schnell hastete ich weiter. In Fräulein Perfekts Welt war es sicherlich ein Kapitalverbrechen, wenn man eine Viertelstunde zu spät kam.
Ich bog um eine Ecke und konnte nicht fassen, was für Zufälle es manchmal gibt. Dort stand Josta und wartete offensichtlich ebenfalls auf jemanden. Schnell eilte ich auf sie zu. "Was machst du denn hier?", begrüßte ich sie und gab ihr schnell einen Kuss. Sie lachte: "Ich bin mit meinen Eltern verabredet. Sie müssten eigentlich auch jeden Moment hier sein. Deswegen ist es vielleicht auch besser, du gehst jetzt wieder." Den letzten Satz hatte sie mit eindeutig trauriger Stimme ausgesprochen und ich seufzte. "Ich weiß. Aber einen Abschiedskuss bekomme ich doch noch, oder?" Sie lächelte verführerisch und zog mich zu sich hin. "Natürlich", hauchte sie und küsste mich mit unheimlicher Zärtlichkeit. Ich hätte den Kuss gerne intensiver werden lassen, aber Julianna wartete und Jostas Eltern wussten auch noch nichts von mir. "Bis später dann!", verabschiedete ich mich und wechselte die Straßenseite.
Die Leute starrten mich an und flüsterten. Sie flüsterten immer. Hinter vorgehaltenen Händen schienen sie eine Gasse zu bilden und ich ging schneller, um ihren abwertenden Blicken zu entgehen. Doch ihre Worte konnte ich nicht ausblenden. Hämische, gemeine, sensationslüsterne Worte, bestimmt, um zu verletzen. "Hast du das gesehen? Die hat eine Frau geküsst!" – "Bestimmt war es die Schwester…" – "Das glaubst du doch wohl selbst nicht, ich bitte dich." – "Nein nicht wirklich. Unmöglich, dass die ihrer Obszönität so in aller Öffentlichkeit frönen. Das ist ja so ekelhaft." – "Widernatürlich, das ist es!" Das Wort hing mir nach. Lag es nicht in der Natur des Menschen zu lieben? Konnte Liebe falsch sein? Ich wusste es nicht. Ich spürte nur, wie ich ein bisschen abstumpfte. Jedes Mal ein bisschen mehr. Innerlich rüstete ich mich. Baute meinen Schutzpanzer wieder auf.
Josta schaffte es jedes Mal, meine weiche Seite zum Vorschein zu bringen und meinen Panzer zu durchbrechen. Dafür liebte ich sie, aber ich durfte nicht zulassen, dass anderen Menschen das auch gelang. Josta war ein unendlich lieber Mensch. Sie würde mich nie verletzten - andere Menschen schon. Mürrisch und abgehetzt ließ ich mich schließlich Julianna gegenüber auf einen Stuhl fallen. Sie lächelte, wirkte aber auch leicht verunsichert und sagte nur: "Hallo!" Ich nickte ihr zu und eine Weile sagte niemand etwas. Mir war das ganz recht, ich hatte keinen besonderen Drang zu reden und die Lust auf dieses Treffen war mir auch gehörig vergangen. Prüfend starrte ich auf meine Fingernägel und wartete, bis es ihr endlich zu dumm werden würde und sie sich unter einem fadenscheinigen Vorwand verabschieden würde.
Als sie sich schließlich räusperte, atmete ich auf. Na endlich! Doch statt eine Ausrede vorzutragen, fragte sie nur: "Sag mal, kennst du die Frauen da hinten? Die starren dich die ganze Zeit an." Ruckartig drehte ich mich um und sah die beiden Frauen in der Mitte des Platzes stehen, die sich so gemein über Josta und mich ausgelassen hatten. Langsam drehte ich mich wieder zu Julianna um. "Ich kenne die nicht. Keine Ahnung, warum die hier sind", log ich "wann kommt denn der verdammte Kellner?" Julianna zuckte mit den Schultern und sagte: "Ich weiß auch nicht. Aber… ah, ich glaube, da ist er." Und sie deutete auf einen livrierten Mann mit einem furchtbaren Schnauzbart. Bevor wir ihn jedoch zu uns winken konnten, war eine schrille, kreischende Stimme zu vernehmen. "Joooooosef", rief sie und als ich mich erneut umdrehte, sah ich, dass eine der beiden Frauen Joooooosef heftig zuwinkte, der sie daraufhin mit einem strahlenden Lächeln begrüßte.
Sie tuschelten eine Weile miteinander und ihre Blicke wanderten dabei immer wieder zu unserem Tisch herüber. Mir schwante Übles, ganz Übles. Der Kellner setzte sich mit gewichtiger Miene in Bewegung und meine Ahnung wurde zur Gewissheit. So, wie er Julianna und mich musterte, hatte er offensichtlich vor, die Moral seines Cafés zu heben und Julie vor schlimmem Unheil – mir – zu bewahren. "Guten Tag", setzte er mit reservierter, näselnder Stimme an und Julianna strahlte ihn an. "Ich hätte gerne einen Kakao und ein Stück Käsekuchen", sagte sie und der Kellner blinzelte überrascht. "Nun", sagte er "eigentlich bin ich nicht hier, um Ihre Bestellung aufzunehmen." Er hatte offensichtlich nicht mit Juliannas Höflichkeit gerechnet. Eigentlich war sie nicht nur höflich, sondern sogar sehr herzlich.
Im Moment sah sie allerdings etwas verständnislos aus. "Aber warum denn nicht?", fragte sie und man sah dem Kellner an, dass es ihm etwas unbehaglich zumute wurde. Er nestelte an seinem Kragen herum, als wäre der zu eng und ich lehnte mich etwas entspannter als zuvor zurück. Das versprach ein durchaus amüsantes Schauspiel zu werden. Bisher hatten Josta und ich immer freiwillig die Örtlichkeit gewechselt, wenn wir bemerkt hatten, dass uns mal wieder jemand aus dem Restaurant schmeißen wollte. "Nun", begann er und ich konnte sehen, dass sein Schnauzbart leicht zitterte "Ich möchte Sie eigentlich bitten, dieses Café zu verlassen." Schade eigentlich. Er war so schnell auf den Punkt gekommen, dass das Schauspiel ein vorzeitiges Ende nahm. Seufzend griff ich nach meiner Tasche, aber Julianna hielt mich auf. "Lass das, Caro!", herrschte sie mich regelrecht an und ich musterte sie erstaunt.
Die graue Maus ging auf die Barrikaden und zeigte ihre Krallen? Unglaublich, aber wahr. Julianna stand auf. "Warum sollen wir denn aus dem Café gehen? Vorhin haben Sie mir doch auch ein Wasser gebracht. Ist es, weil meine Freundin ein wenig ausländisch aussieht? Haben Sie etwa damit ein Problem? Ich kann Ihnen mal etwas sagen. Woher ein Mensch kommt, oder wie er geboren wird hat überhaupt nichts zu sagen. Wichtig ist doch nur, wie er handelt. Und meine Freundin ist ein guter Mensch, dass Sie's nur wissen! Und ich sag Ihnen noch was, nicht Sie werfen uns aus dem Café, wir gehen freiwillig! Wo gibt es denn noch so was, dass jemand so veraltete Wertvorstellungen hat und so verklemmt ist? Komm Caro, jetzt können wir gehen."
Und sie stand auf und stolzierte hochnäsig an dem völlig perplexen Joooooosef vorbei. Schnell griff ich nach meiner Tasche, zuckte entschuldigend mit den Schultern und lief ihr nach. "Ich kann nicht glauben, dass du das getan hast", sagte ich lachend, als ich sie eingeholt hatte. Sie sah mich an und hatte immer noch eine wütende Miene aufgesetzt. Doch dann wurden ihre Züge weicher, bis sie schließlich ein nervöses Kichern ausstieß. "Ich auch nicht", gestand sie. "Ich hatte heute einen ganz schlechten Tag in der Firma und… keine Ahnung. Irgendwie bin ich grad eben geplatzt. Meinst du, ich sollte noch mal hingehen und mich entschuldigen? Vielleicht war alles ein Missverständnis und er ist jetzt traurig, weil ich ihn so angefahren habe!"
Sie blieb stehen und sah mich unsicher an. Ich lachte und griff nach ihrem Arm. "Komm schon", sagte ich "wir gehen irgendwo anders hin. Glaub mir, von dir wird er noch Generationen von Kunden erzählen und sich in ihrem Mitleid suhlen." Julianna lächelte jetzt wieder und ließ sich bereitwillig von mir mitziehen. Auch wenn sie es nicht wusste, sie hatte mich gerade von einer riesigen Last befreit. Ich wusste, wenn der Tag kommen würde, an dem ich bereit wäre mich zu outen, dann würde sie zu mir stehen. Ich wusste, ich hatte gerade eine Freundin gefunden.
Ein lauter Knall riss Carolina aus ihren Gedanken. Fluchend hüpfte Ben wie Rumpelstilzchen vor ihr herum und rieb sich seinen Fuß. Er hatte offensichtlich gerade einen Stapel Laminat darauf fallen lassen. "Du könntest mir echt mal helfen!", schimpfte er, doch Carolina wandte den Kopf ab und erwiderte schnippisch: "Ich darf nicht schwer heben, wegen dem Baby, weißt du?" Und mit diesen Worten ließ sie Ben einfach stehen. Er sah ihr nach und rieb sich nochmals seinen schmerzenden Fuß. Seufzend machte er sich daran, das Laminat im Wohnzimmer weiter zu verlegen. Er fand es ziemlich kompliziert, zumal er so etwas noch nie gemacht hatte. Mirko hingegen schien ein Alleskönner zu sein. Verstohlen schielte Ben in die Küche, in der Mirko wie eine Maschine die Fliesen verlegte: Schnell, sauber, effizient.
Seufzend blickte er auf das kümmerliche Stück, das er in einer Stunde gerade mal verlegt hatte und schüttelte den Kopf. Manchen Menschen schien aber auch einfach alles zuzufliegen. Olivia hatte ihm erzählt, dass er sogar ein ziemlich hohes Tier in irgendeinem Automobilkonzern war. Missmutig rümpfte Ben die Nase. Sowohl handwerklich, als auch intellektuell begabt, wenn das mal nichts war. Wenn er da seine eigne Laufbahn ansah… Aber wie hatte Julie damals so schön gesagt? "Solange du etwas machst, dass dir Spaß macht und auch noch anderen Menschen nützt, solltest du dir von niemandem einreden lassen, dass es unpassend oder schlecht ist." Lächelnd machte ich mich wieder daran, die Holzplanken aneinanderzureihen.
Dieser Mirko war schon wieder ein gutes Stück weitergekommen. Es war eine eintönige Arbeit, aber dennoch seltsam befriedigend. Durch den immer gleichen Ablauf ergab sich schnell eine Routine. Laminatstück hinlegen, ausrichten, zur Verbindung mit Schlagholz und Hammer draufhämmern, fertig. Nächstes Stück hinlegen, ausrichten, hämmern. Das gleichmäßige Klopfen des Hammers war beinahe melodiös. Klopf, Klopf, Klopf – Klopf, Klopf, Klopf – Klopf, Klopf, Klopf
"Ich komme ja schon!" Missmutig stapfte ich in Richtung Tür und warf auf dem Weg dahin einen Blick auf die Uhr. Schon fast 12, aber dennoch war ich aus tiefem Schlaf gerissen worden. Erneut klopfte der unerwünschte Besucher an die Tür und ich riss sie wütend auf. "Was ist?", zischte ich unbeherrscht und hielt dann erschrocken inne. "Julianna, was machst du denn hier?" Sie lächelte mich an. "Ich wusste gar nicht, dass du da bist", sagte sie und ich runzelte die Stirn. "Und warum bist du dann hier?", fragte ich, während sie sich an mir vorbei in die kleine Wohnung schob, die ich damals noch bewohnte. "Ich dachte, ich könnte es ja mal probieren", nuschelte sie, während sie sich auf das Sofa setzte. "Schön hast du's hier", sagte sie, nachdem sie sich umgesehen hatte.
Ich setzte mich neben sie und grinste sie an. "Lügnerin." Nachdenklich sah auch ich mich um. Nein, meine Wohnung war nicht schön eingerichtet. Sie wirkte trist und trostlos, das Sofa war alt und abgesessen und man merkte der Wohnung deutlich an, dass sie im Grunde genommen nur zum Schlafen und Essen benutzt wurde. Aber es war nun mal sehr mühsam, auf eigenen Beinen zu stehen. Soweit ich mich erinnern konnte, hatten immer meine Eltern alles bezahlt. Meine Markenklamotten, meinen Führerschein, mein erstes Auto… Die Liste war endlos. Seit nunmehr einem Jahr war der Geldhahn allerdings abgedreht. Ich solle mal lernen, auf eigenen Füßen zu stehen, hatten sie gesagt. Ein blanker Hohn war das. Natürlich hatte ich mich nie auf das Geld meiner Eltern verlassen und auch selbst gearbeitet, aber es war doch ein ziemlicher Schlag, auf meinen gewohnten Lebensstandard verzichten zu müssen.
Unvermittelt riss mich Julianna aus meinen Gedanken. "Warum bist du denn jetzt hier? Hast du Urlaub, oder musst du heute irgendwie später zur Arbeit?" Ertappt sah ich auf meine Füße und die Schamesröte schoss mir ins Gesicht. "Ich…", begann ich und suchte fieberhaft nach einer glaubwürdig klingenden Lüge, aber irgendetwas an der Art, wie sie mich ansah, gab mir das Gefühl, dass ich es ihr vielleicht doch sagen sollte. "Ich wurde entlassen", brachte ich schließlich über die Lippen und wunderte mich selbst darüber, wie kühl und gelassen das klang. "Hm", machte Julianna nur. Hm? Was sollte das heißen? Hm war doch doch keine Antwort, überlegte ich gerade als sie weiterfragte. "Und was machst du jetzt?", wollte sie wissen und ich sah sie unsicher an.
Die Wahrheit war, ich wusste es selbst nicht so genau. Unwillkürlich musste ich lachen, als ich daran dachte, dass ich selbst meine Arbeitslosigkeit bisher eher als Urlaub betrachtete hatte. Der bitteren Realität hatte ich mich noch nicht gestellt. "Keine Ahnung", antwortete ich ihr also wahrheitsgemäß und sah sie an, um ihre Reaktion abzuschätzen. Ihre Meinung war mir unendlich wichtig, schon immer. Sie sah mich ungläubig an. "Aber du musst doch irgendetwas machen wollen. Jeder Mensch hat irgendein Ziel im Leben", sagte sie und ihr war anzuhören, dass sie ein wenig entsetzt über meine scheinbare Planlosigkeit war. "Na ja, ich hab gedacht, ich suche mir ne reiche Witwe und erbe dann viel Kohle", scherzte ich und erntete einen missbilligenden Blick von ihr. "War nur ein Witz", fügte ich schnell hinzu, nur für den Fall, dass sie mir glauben könnte. "Das weiß ich doch", sagte sie und lächelte leicht dabei "aber du musst doch was machen. Hast du denn schon Bewerbungen geschrieben?"
Erneut wurde mir unnatürlich warm und mein Gesicht schien zu glühen. Konnte ich wirklich riskieren, ihr alles zu sagen? Oder würde sie dann enttäuscht sein? Ich beschloss, es zu wagen. "Ja weißt du, das ist so. Meine Eltern haben ziemlich viel Geld und kennen viele Leute und so. Und mein Schulabschluss war nicht so der Beste. Ich hatte mehr Partys im Kopf und keinen Bock auf Schule. Und dann hat mein Vater mir die Ausbildung verschafft und dafür gesorgt, dass ich übernommen wurde. Ich hab immer da gearbeitet, aber jetzt bin ich entlassen worden. Rationalisierungsmaßnahmen."
Ich ließ den Kopf hängen und begann ein außerordentliches Interesse für meine Zehen zu entwickeln. "Hm." Schon wieder dieser Laut! Konnte sie denn nichts Vernünftiges sagen? "Also hast du eigentlich nie das machen können, wozu du Lust hattest, oder? Deine Eltern haben im Grunde genommen für dich entschieden", sagte sie schließlich und als ich sie ansah, bemerkte ich, dass ein Ausdruck großen Mitgefühls auf ihrem Gesicht lag.
Ich lachte sie großspurig an, um zu verbergen, wie sehr sie mich mit diesen Worten traf. "Sie wissen nun mal, was am Besten für mich ist und es hat mir nie geschadet. Ich hatte immer viel Kohle und einen guten Job." Ich war recht zufrieden mit meiner Rede, doch Julianna schüttelte den Kopf. "Also ehrlich", sagte sie zweifelnd "du bist doch nicht glücklich. Wie können deine Eltern wissen, was das Beste für dich ist, wenn du es noch nicht einmal weißt? Du sitzt hier rum, schläfst bis mittags und das nur, weil du nicht weißt, wie es ist, wenn man alleine entscheiden muss." Ihre Worte hatten mich mehr getroffen, als ich es für möglich gehalten hätte. Aber sie sprach noch weiter: "Irgendetwas muss es doch geben, was du gerne machen willst, was aber durch den Plan deiner Eltern verhindert wurde.
Jetzt ist doch deine Chance, das nachzuholen!" Sie hatte Recht. Natürlich hatte sie Recht. Aber es war mir peinlich, darüber zu reden, was ich mir eigentlich wünschte. Und mein Zeugnis war dafür auch zu schlecht, ganz davon abgesehen, dass ich kein Abitur hatte. Als ich ihr all das sagte, merkte ich sofort, dass es ein Fehler gewesen war. Sie sah mich verletzt an und fragte: "Also vertraust du mir nicht. Ist es das? Oder warum willst du mir nicht sagen, was du machen möchtest?" Nur Julianna konnte auf die Idee kommen, ich würde ihr nicht genug vertrauen. "Das ist es nicht", beteuerte ich also schnell und gab mich dann geschlagen. "Jeder, dem ich bisher davon erzählt habe, hat gelacht. Alle finden, das passt nicht zu mir und ich will nicht, dass du auch über mich lachst." Sie lächelte mich aufmunternd an und schüttelte den Kopf. "Das werde ich schon nicht, keine Bange", antwortete sie.
Ich holte tief Luft und sammelte all meinen Mut zusammen. "Ich wollte schon immer gerne etwas mit Kindern machen. Am liebsten Pädagogik studieren und dann meine eigene Erziehungsberatungspraxis eröffnen. Aber wie gesagt, mein Zeugnis ist miserabel und ich hab kein Abi." Ich sah sie an und wartete darauf, dass sie lachen würde, aber sie tat es nicht. Stattdessen sah sie mich mit glänzenden Augen an. "Aber das ist doch toll!", rief sie aus und klatschte in die Hände. "Ich liebe Kinder, da hast du dir wirklich einen superschönen Beruf ausgesucht. Und du solltest dir merken, solange du etwas machst, dass dir Spaß macht und auch noch anderen Menschen nützt, solltest du dir von niemandem einreden lassen, dass es unpassend oder schlecht ist."
Sie strahlte mich an und ich fühlte mich plötzlich so frei wie noch nie in meinem Leben. Natürlich könnte ich das schaffen. Viele Leute holten ihr Abitur nach und hatten keine Probleme damit. Und ich war nicht mehr so wie früher. Ich war älter und meine Partylust hatte etwas nachgelassen. Ich hatte in meiner Ausbildung bewiesen, dass ich konzentriert auf ein Ziel hinarbeiten konnte. Ich würde es schaffen. Dankbar lächelte ich sie an und runzelte dann die Stirn, als mir etwas einfiel. "Warum bist du eigentlich hier?", fragte ich sie und sie sah plötzlich verlegen aus. "Dario und Olli brauchen etwas Zweisamkeit, hat Olivia gesagt. Also bin ich quasi vorübergehend ausquartiert worden." Sie seufzte und ich wusste, dass sie daran denken musste, was Dario und Olivia wohl gerade taten. Dario war wirklich ein Idiot, dass er sie immer und immer wieder so verletzte und gar nicht merkte, dass sie etwas für ihn empfand. Und Olivia, sie hatte doch ohnehin nur sich selbst im Kopf. Und natürlich…
"Miiiiiiirko!", flötete Olivia und kam die Treppe heruntergeschwebt. Erschreckt fuhr Ben auf und sah, dass Mirko schon wieder ein ganzes Stück weitergekommen war, während er sich hier in seinen Erinnerungen verloren hatte. Seufzend griff er sich das nächste Laminatstück und begann wieder zu hämmern. Währenddessen ließ Olivia sich vor Mirko auf dem Boden nieder und sah ihn nachdenklich an. Ihre aufgesetzte und betont heiter-fröhliche Maske war von ihr abgefallen und Mitleid an ihre Stelle getreten. Nachdem sie sich mit einem Blick in das Wohnzimmer vergewissert hatte, dass Ben beschäftigt war und ihr nicht zuhörte, fragte sie ihn leise: "Ist alles in Ordnung mit dir? Du wirkst so bedrückt." Mirko sah überrascht von seiner Arbeit auf, lächelte dann schüttelte den Kopf. Er wischte sich die Hände an seiner Hose ab, stand auf und zog Olivia dabei mit hoch.
Dann gingen sie in eine Ecke und lehnten sich gegen die Wand. "Du merkst aber auch alles", sagte er immer noch lächelnd und gab Olivia einen Kuss. "Es ist nur… Versteh mich nicht falsch, aber deine Freunde… Sie stehen eher auf Darios Seite fürchte ich. Außer Julianna redet kaum einer mit mir und Ben schaut die ganze Zeit herüber und guckt grimmig. Ich glaube, am Liebsten würde er mir seinen Hammer an den Kopf werfen." Olivia gluckste, wurde aber gleich wieder ernst. "Das glaube ich nicht", antwortete sie sanft "es ist nur für alle Beteiligten etwas schwierig. Sieh mal, wir alle kennen uns jetzt schon seit vier Jahren. Und wir mögen uns, auch wenn es mal Streit und Zickereien gibt. Natürlich ist es schwer, jetzt jemand Neues aufzunehmen, aber das liegt nicht an dir. Ich liebe dich und ich bin mir sicher, die anderen werden auch noch sehen, was für ein toller Kerl du bist. Und um Dario brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Im Grunde genommen ist er schon seit Ewigkeiten in Julie verschossen."
Den letzten Satz hatte sie sehr leise gesagt und ihr war deutlich anzumerken, dass sie diese Tatsache auch nicht gerade kalt ließ. Mirko seufzte und strich ihr über die Wange. "Es ist nur so schwer", fasste er in Worte, was sie beide gerade fühlten. "Ja", hauchte Olivia "aber ich bin bei dir. Ich lasse dich nicht allein und du musst dich nicht alleine durchkämpfen." Mirko nickte, zog sie noch enger an sich und dann versanken sie in einem Kuss, der nie zu enden schien. Olivia schloss die Augen und gab sich ganz Mirko hin. Was sie gesagt hatte, barg noch eine tiefere Bedeutung und während der Kuss intensiver wurde, rollte eine einsame Träne ihre Wange herab und ließ den Kuss plötzlich salzig schmecken.
"Ich habe ein eigenes Zimmer, weißt du?", sagte ich stolz und warf mich in die Brust. Sollte diese Julie-Jana, oder wie auch immer die hieß, ruhig gleich merken, wie der Hase hier lief. "Und eine eigene Stereoanlage hab ich auch, aber die darf nur ich benutzen, niemand sonst! Vielleicht noch Tristan, aber der ist größer und stärker und darf deshalb sowieso alles." Tristan war doof. Er tat mir immer weh. Er war schon so groß und er sagte immer, dass er alles dürfe. Auch wenn ich mich manchmal wehren wollte, ich konnte es nicht und ich durfte es auch nicht. Große Brüder durften so was. Die Tränen traten mir in die Augen und ich lenkte meine Aufmerksamkeit schnell auf etwas anderes, bloß weg von diesem verschwommenen dunklen Fleck, der meine Erinnerung war.
Mein Blick blieb an den Schleifen im Haar von diesem neuen Mädchen hängen. Mama hatte gesagt, ich solle nett zu ihr sein, weil ihre Mutter und ihr Vater ganz böse gewesen waren und sie niemanden mehr hatte und es ganz schlecht ist, wenn man niemanden hat und allein ist. Das habe ich verstanden, ich war ja auch schon groß. Nur nicht so groß wie Tristan. "Deine Haare gefallen mir", sagte ich also und lächelte sie versuchsweise an. "Die sind fast so schön wie meine, aber wenn wir Vater-Mutter-Kind spielen, will ich die Mama sein. Mamas haben nämlich alle schöne, blonde Haare, so wie meine Mama. Okay?" Das Mädchen sagte immer noch nichts und ich wippte mit meinen Füßen auf und ab, während ich auf ihre Antwort wartete.
Schließlich ertönte ein leises Krächzen und ich musste mich näher zu ihm beugen, um es zu verstehen. Julie-Janas Stimme klang, als hätte sie sie lange nicht mehr benutzt. Darüber musste ich fast lachen, wie konnte jemand seine Stimme nicht benutzen? Jeder Mensch musste doch reden. Aber ich lachte nicht, weil ich nicht wollte, dass sie traurig war. Das wäre gemein gewesen. Es war schlimm, traurig zu sein, das wusste ich. "Dann möchte ich das Kind sein, darf ich?" fragte sie schüchtern und ich nickte strahlend. "Natürlich darfst du. Aber du musst dann auch immer alles machen, was ich will, okay?" Sie nickte und lächelte leicht, aber ich konnte sehen, dass ihre Unterlippe immer noch zitterte.
Bestimmt würde sie bald wieder zu heulen anfangen. Eigentlich wusste ich gar nicht so genau, ob sie mitspielen durfte. Da musste ich erst David fragen, der war schon sieben und immer der Vater, wenn wir spielten. Unsere Mamas sagten immer, dass wir ganz süß zusammen wären. Und das war gut, denn wenn sie uns süß fanden, würden wir bestimmt nicht von hier wegziehen müssen, so wie Nadine. Ihre Mutter war einfach mit ihr weggezogen, ganz weit. Man musste über eine halbe Stunde dorthin fahren, wenn man sie besuchen wollte. Und das war weit. Glaubte ich zumindest. Ihre Mama hatte das bestimmt nur gemacht, weil Nadine hier noch keinen so tollen Freund hatte wie ich.
"Soll ich dir einen Witz erzählen?", fragte ich schließlich, aber diese Julie-Jana sah mich nur an. Vielleicht konnte sie noch nicht so gut reden wie ich. Mama sagte immer, dass ich ein richtiges Plappermäulchen wäre und dass niemand so schnell reden könne wie ich. Ich wusste nicht genau, was ein Plappermäulchen war, aber ich fand, es hörte sich gut an, wenn sie das sagte. "Okay", sagte ich unsicher, weil die mich nur anstarrte. "Treffen sich zwei Eier. Da sagt das eine zum anderen: 'Ich wünsche mir nichts mehr, als mal in einen Spiegel zu schauen.' Da sagt das andere Ei: 'Bloß nicht, dann bist du ja ein Spiegel-Ei!' " Ich kicherte über meinen eigenen Witz. Als David ihn mir letztens erzählt hatte, habe ich mich nicht mehr eingekriegt vor Lachen.
Aber Julie-Jana verzog keine Miene. Langsam wurde es mir zu doof. Irgendwie war die voll langweilig. Ich kickte ein wenig einen Stein herum, der vor meinen Füßen lag, aber als er wegrollte, hatte ich nichts mehr zu spielen. Ich beugte mich herunter, so weit, bis ich in ihre Augen sehen konnte. "Ich geh dann mal in mein Zimmer, ja? Ist das okay?" Ich fragte extra laut und langsam und wartete artig, bis sie nickte. Mama wäre sonst bestimmt auch böse gewesen, wenn die gepetzt hätte. Fröhlich hüpfte ich in Richtung Haus. Vielleicht hatte sie einfach nur Kopfschmerzen? Papa hatte das auch manchmal und dann mussten wir alle ganz leise sein und er brummte immer nur wie ein Bär.
Ich kicherte. Wie ein Bär hatte sich Julie nicht angehört, aber vielleicht war das bei Mädchen anders und nur alte Leute klangen wie Bären. Ich war fast am Haus angekommen, als Tristan plötzlich aus der Haustür kam. Abrupt blieb ich stehen und sah mich panisch um. Die Sonne schien auf einmal weg zu sein, es war kälter und dunkler geworden und ich hatte sofort große Angst. Aber es war niemand da, der mir helfen könnte und der Weg ins Haus, wo Mama und Papa waren, war durch ihn versperrt. Andere Leute waren die einzige Möglichkeit, um zu verhindern, dass er mir wehtat. Tristan war schon ziemlich alt. Sechzehn Jahre schon und er hatte mir gesagt, dass ich deswegen auf ihn hören müsse und alles machen müsse, was er mir befiehlt.
Aber wenn Mama und Papa da waren, war er immer nett zu mir und ließ mich in Ruhe. "Hallo Häschen", zischte er und sah mich so an, dass ich Angst bekam. Seine Augen guckten schon wieder so, wie sie immer guckten, wenn er wieder spielen wollte. Ich wollte weglaufen, schreien, irgendetwas machen, aber ich konnte nicht. Er kam immer näher und ich konnte sehen, dass es ihm gefiel, dass ich Angst hatte und dass ihm das Spaß machte. Ich bemerkte noch am Rande meines Bewusstseins, dass nun ein kräftiger Wind durch die Baumkronen wehte, der die Blätter rascheln ließ. Eigentlich mochte ich das immer, wenn es so war. Der Herbst war meine Lieblingsjahreszeit, aber jetzt erschien es mir nur noch Furcht einflößender.
"Keine Sorge", hauchte Tristan und beugte sich ganz tief zu mir herunter, so dass ich riechen konnte, wie es aus seinem Mund stank. "Ich möchte mir mal unsere neue Eroberung ansehen." Und er ließ mich einfach stehen und ging weiter. Natürlich war ich erleichtert, dass es so war und natürlich dachte ich für einen Moment daran, einfach wieder ins Haus zu gehen, wo Leute waren, falls er es sich anders überlegen würde, aber Julie-Jana war doch ganz allein! Ich wollte nicht, dass er ihr auch wehtat, also rannte ich schnell hinter ihm her. "Tristan, du hast gesagt, nur Brüder dürfen das und du bist nicht ihr Bruder, also lass sie in Ruhe!", schrie ich und mein Herz klopfte ganz doll gegen meinen Brustkorb. Ich hatte solche Angst, dass er sich umdrehen und "Du hast Recht, also lass uns ein bisschen Spaß haben", sagten könnte, wie er es so oft tat.
Aber er lachte nur und ging weiter. "Keine Sorge Häschen, ich will sie mir doch nur mal ansehen. Du kommst auch schon früh genug wieder an die Reihe!" Tränen liefen mir jetzt über die Wangen und ich konnte sie nicht aufhalten. Ich hatte so furchtbare Angst und ich schämte mich so sehr, weil er immer dachte, das alles würde mir Spaß machen, auch wenn ich mich noch so sehr bemühte, ihm zu zeigen, dass ich es hasste. Ich musste doch irgendetwas falsch machen, wenn er mich immer so falsch verstand. Trotzdem rannte ich weiter. Julie wirkte so schwach und ich wollte sie beschützen, auch wenn ich noch ein Kind war. Eigentlich war sie sogar älter, aber Mama sagte immer, dass Alter nichts mit Mut zu tun hat, also lief ich weiter.
Ich musste ganz schön rennen, um mit Tristan mithalten zu können, aber seine Beine waren schon viel länger als meine und so kam er vor mir bei Julie-Jana an. "Hallo Engelchen", schnurrte er und berührte sie sacht an der Schulter. Mich überkam ein fast übermächtiger Würgereiz, als ich das sah und ich lief schnell zu ihr hin. "Lass sie in Ruhe!", rief ich und stellte mich vor sie. Sie sah mich aus großen Augen an, doch als sie sich hinter mich drängte, spürte ich, dass auch sie zitterte. Auch sie musste gemerkt haben, was für eine Ausstrahlung von Tristan ausging. Und dass er kein netter Mensch war. Ängstlich umklammerte sie jetzt meinen Arm, als Tristan mit wutverzerrter Miene auf uns zukam. "Hast wohl Angst zu kurz zu kommen, was?", zischte er mich an und ich senkte schnell die Augen.
Aber bitte, wenn du willst, können wir das hier und jetzt erledigen. Er ging immer weiter auf uns zu und auch ich klammerte mich jetzt an Julie, während wir langsam zurückwichen. "Bitte mach, dass er aufhört!", flüsterte ich ihr verzweifelt ins Ohr. Die Tränen rannen mir weiter ungehindert über das Gesicht. Sie sah mich einen Moment lang fast prüfend an. Dann öffnete sie den Mund – und schrie. Sie schrie so laut, wie ich es noch nie in meinem Leben gehört hatte. Er war so durchdringend und schrill, dass Tristan entsetzt einige Schritte zurückwich und Mama und Papa aus dem Haus gelaufen kamen. "Schon gut", rief er "dich will doch eh keiner haben, guck dich doch mal an! Du bist eh total hässlich und wirst nie einen Typen abkriegen."
Wir wussten nicht genau, was das bedeutete, aber ohnehin war nur wichtig, dass Papa jetzt direkt zu uns zukam, während Mama entsetzt Tristan, Julia-Jana und mich musterte. "Was ist denn los, um Himmels Willen?", rief Papa und er sah wirklich erschrocken aus. Ich hatte ihn noch nie so ängstlich gesehen. Alle sahen nun Julie an, die zu schreien aufgehört hatte und erwarteten eine Erklärung. "Da war eine Spinne", sagte sie, zog mich am Arm und lief mit mir weg.
Zitternd löste Olivia sich aus der Erinnerung und aus der Umarmung von Mirko. Dieser Blick von Julie, kurz bevor sie zu schreien begonnen hatte, das wusste sie heute, war der Moment gewesen, indem Julianna beschlossen hatte sie zu beschützen. Sie dachte nicht mehr oft an diese Zeit, oder an Tristan, aber in ihren Träumen verfolgten die Ereignisse sie jede Nacht. Oh, er hatte sie nie vergewaltigt, das nicht. Missbrauch war es trotzdem gewesen. All diese kleinen Berührungen, die er angeblich machen durfte, die sich aber nur widerwärtig und falsch angefühlt hatten. Wie lange hatte sie die Schuld bei sich gesucht? Dafür, dass sie Julianna von ihrem Geheimnis verraten hatte, oder dafür, dass Tristan überhaupt diese Dinge mit ihr tat? "Das ist unser kleines Geheimnis, Häschen. Niemand darf etwas davon wissen", hatte er immer gesagt, wenn er sich nachts wieder aus ihrem Zimmer geschlichen hatte.
Olivia bemerkte, dass Mirko sie fragend ansah und schüttelte leicht den Kopf, bevor sie sich in seine Arme warf und eng an ihn schmiegte. Er war nicht Tristan und er würde ihr nie wehtun, das wusste sie, aber manchmal hatte sie auch vor seinen Berührungen Angst. Davor, dass er nicht wieder aufhören würde, wenn sie nein sagte. Mirko schob sie sanft von sich weg und sah sie zärtlich an. "Irgendwann wirst du mir davon erzählen", sagte er und Olivia nickte. "Ja, irgendwann." In diesem Moment steckte Dario den Kopf in die Küche und sah sich suchend um. Also er die Beiden entdeckte, sagte er nur leise "Oh!" und zog sich wieder zurück. Er schien es sich aber anders überlegt zu haben, denn kurz darauf kam er wieder rein. "Ich kann es eigentlich auch gleich hinter mich bringen", murmelte er und lächelte gezwungen.
"Also", er holte tief Luft "meine Firma gibt demnächst einen Wohltätigkeitsball. Und ich wollte euch fragen, ob ihr vielleicht auch kommen möchtet. Die anderen haben schon zugesagt. Es geht um ein Kinderkrankenhaus, das dringend saniert werden muss. Also, wenn ihr Lust habt… Ich würde mich freuen, wenn ihr kommt." Er sah sie unsicher an und Olivia nickte, ebenso unsicher. "Also gut, ich schreibe dir dann eine Mail, wann und wo das genau ist", verabschiedete sich Dario und ging hinaus.
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So, das war Kapitel 20. Ich hab es natürlich nicht geschafft, mein Versprechen zu halten und diesmal etwas weniger zu schreiben, aber ich hoffe ihr verzeiht mir. Kapitel 21 wird dann wirklich kürzer.
LG Kuona
*EDIT:
Sweet-Butterfly, dein Posteingang ist voll, deswegen konnte ich dich nicht benachrichtigen!