Heute kommt endlich das nächste Kapitel. Es dürfte einige Fragen beantworten - aber natürlich nicht alle.
Tut mir leid, dass die Bilder etwas eintönig sind. Ich habe für den Computer eine Schrift gewählt, die halbwegs lesbar ist, aber dennoch "alienhaft" aussieht. Ich hoffe, das ist so in Ordnung.
Die Leere war unerträglich. Einsamkeit fraß sich durch ihren Körper.
Mira Nayim hatte alles verloren. Ihren Mann, ihre Kinder. Nichts war übrig geblieben. Sie war allein in diesem großen Haus voller Erinnerungen, voller Gefühle und Gerüche. Jeder Winkel trieb ihr neue Tränen in die Augen. Nichts was sie tat, konnte ihren Schmerz lindern.
Putzen hatte nicht geholfen. Backen hatte nicht geholfen. Rotwein hatte nicht geholfen. Das Klavier hatte am aller wenigsten geholfen – die Musik hatte zwar die Stille vertrieben, aber es war
Laanas Klavier.
Laanas Musik.
Von einer Nacht auf die andere war ihre Tochter verschwunden. Keine Nachricht, keine Spuren, keine Anhaltspunkte… und während Gacarin es noch nicht aufgegeben hatte, nach seiner Frau zu suchen, hatte Mira sofort gewusst, was geschehen war. Das Unvermeidbare, das sie immer hatte verhindern wollen.
Nicht darüber sprechen. Nicht darüber nachdenken. Das hatte zumindest in den ersten Jahren geholfen. Ihre Kinder waren auch ohne ihren Vater glücklich aufgewachsen, und Mira hatte auch ohne Carlos einen Weg gefunden, ihr Leben zu leben.
Es war grausam. Erst Carlos, dann Leyla… nun auch noch Laana.
Wie ein Fluch, dem Mira nicht entrinnen konnte, auch wenn sie sich noch so sehr bemühte.
Vielleicht war der Rotwein daran schuld, dass sie ihn plötzlich vor sich sah. Mit seinem traurigen Gesicht, den großen blauen Augen, die sie durchdringend gemustert hatten.
„Ich muss gehen“, hatte er ihr mit einer festen Stimme gesagt, die so gar nicht zu dem Ausdruck in seinen Augen gepasst hatte. Fast so, als rede er zu sich selbst. „Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, und ob ich wieder zurückkomme, aber das ist unsere einzige Chance, Mira! Sie wollen mich – und sie werden mich so oder so bekommen… Aber die Kinder, Mira, die Kinder! Vielleicht lassen sie die Mädchen in Ruhe, wenn ich ihnen gebe, was sie wollen… wenn sie keinen Grund mehr haben.“
Er hatte ein letztes Mal die Arme um sie geschlungen, ihren schmalen Körper an sich gepresst, viel fester, als er es sonst tat.
Es war heiß. Die Vögel wollten nicht aufhören zu schreien.
„Es wird alles gut werden, Mira. Ich verspreche es.“
Sie spürte, dass er in ihren Armen zitterte und mit den Tränen kämpfte. Er sagte ihr, dass er sie über alles liebte, dass sie glücklich werden sollte.
Wie, ohne dich?
Sie blieb allein zurück.
So viele Dinge hätte Mira ihm noch sagen sollen, so viele Fragen hätte sie ihm noch stellen sollen. Doch die Welt drehte sich schneller, als Mira ihr folgen konnte, die Vögel schrieen lauter, als sie es ertragen konnte – alles war so unwirklich gewesen.
Der Schmerz war erst später gekommen.
„Pass auf sie auf!“ hatte er noch gerufen. „Pass auf unsere kleinen Engel auf!“
Und sie hatte versagt. Grüne Männer hatten ihr erklärt, dass sie keinen Mann hatte, dass sie nicht reden durfte, dass sie auch den Ehering nicht mehr brauchen würde.
Langsam verschwanden die Bilder, und Mira war zurück in ihrer Einsamkeit. Vorsichtig richtete sie sich auf. Ihre Beine trugen sie auf den Balkon. Kühle Luft strich ihr über die Wangen. Ein paar Regentropfen mischten sich unter die Tränen.
Mira starrte hasserfüllt in den Sternenhimmel.
Irgendwo da oben war etwas, dem sie die Schuld für alles geben konnte. Etwas, das sie abgrundtief verabscheuen durfte.
Sie verzog den Mund und wollte schreien, aber es war nur ein verzweifeltes Flüstern, das ihren Mund verließ: „Gebt mir meine Familie zurück!“
Namakiha trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.
Seit Leylas Verschwinden war sie nicht mehr zur Ruhe gekommen – nur Gyras hatte sie davor bewahrt, ganz den Verstand zu verlieren. Er war es gewesen, der sie mit ins Archiv geschleift hatte, und dessen Hände nun mit geübten Bewegungen über den Touchscreen flogen – auf der Such nach Leylas Akte.
Nach einer Reihe von Passwörtern ( - Zufrieden stellte Namakiha fest, dass keines sie daran hätte hindern können, in das System einzudringen. - ) tauchte endlich ein vertrautes Gesicht auf dem Bildschirm auf. Namakiha überflog den Text.
Es schien alles in Ordnung zu sein. Nach ein paar Eckdaten – Rasse, Geburtsdatum, Haarfarbe, Größe – folgte ein kurzer Lebenslauf, der eigentlich nur das wiedergab, was sie bereits wusste.
„Abschluss mit Auszeichnung bestanden, ha!“ Namakiha schnalzte mit der Zunge und stieß dann auf den Abschnitt über Leylas Gesundheitszustand, über die Anfälle, für die noch immer niemand eine Erklärung gefunden hatte.
„Hm…“ Gyras warf Namakiha einen zweifelnden Blick zu. „Nichts…nur, dass kein Vater aufgeführt ist. Vielleicht wurde das vergessen.“
„Komisch… Such mal nach dem Ding, das Leyla untersucht hat! Schließlich ist das mit ihr verschwunden – wie auch immer das möglich war.“
Gyras tippte sich weiter durch die virtuelle Datenbank, bis er die Datei von Objekt QZ234B öffnete.
Namakihas schnelle Raubtieraugen erfassten sofort das Wichtigste: „Auf dem Schiff gefunden… Herkunft vermutlich Doka-System… streng vertraulich… Untersuchung durch Dr. Nayim… eventuell geht immer noch
Gefahr vom Objekt aus! Oh!“
„Warte…“ Gyras starrte konzentriert auf den Bildschirm.
„Warum klickst du das weg!?“
„Weil… da war noch was… Moment…“
„
ZUGRIFF VERWEIGERT!“
Die klare Stimme des Computers schnitt Gyras das Wort ab.
Namakihas Gedanken rasten. Eine versteckte Datei?
„So ein Mist!“ stöhnte Gyras.
„
ZUGRIFF VERWEIGERT!“ wiederholte der Computer emotionslos.
„Kiha? Du…“ Gyras zögerte und legte dann einen Arm um ihre Hüfte. „Du weißt, dass du das kannst, oder?“
„Dass ich
was kann?“
„Dich ins System hacken.“
Namakihas Gesicht verdunkelte sich, aber sie wusste, dass Gyras Recht hatte. Er schob sie sanft in die Mitte des Bildschirms. Sie holte tief Luft und setzte dann ihr dämonisches Lächeln auf. Ihr Beruf war es, die Maschinen auf dem Schiff am Laufen zu halten, aber vielleicht wäre es taktisch klüger gewesen, wenn man sie als Sicherheitsbeauftragte eingestellt hätte.
Es dauerte nur eine kurze Zeit, bis Namakiha die versteckten Dateien öffnen konnte. Es waren zwei weitere Nayim-Akten.
„Wer ist Elana Nayim?“ fragte Gyras.
Namakiha zuckte mit den Schultern. „Leylas Schwester heißt glaub ich so ähnlich. Aber warum…?“
Als sich die Datei öffnete, und eine dunkelhaarige Frau auf dem Bildschirm auftauchte, war Namakiha sofort klar, dass es sich nicht um Leylas Schwester handeln konnte.
Ein Blick auf das Geburtsdatum reichte, um festzustellen, dass es sich um eine andere Generation handelte.
„Da!“ Gyras deutete mit dem Finger auf einen Abschnitt in der Mitte. „Verschwunden… wieder aufgetaucht… Trauma… psychische Instabilität… nach Terra zurückgekehrt…
schwanger!“ Gyras wirbelte herum und starrte Namakiha an. „Verstehst du das?“
Statt zu antworten, öffnete sie die nächste Datei.
Carlos Nayim.
„Mutter Elana Nayim, Vater unbekannt...“ Namakiha biss sich auf die Unterlippe. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie war sich sicher, dass dieser Mann Leylas Vater war. Die Ähnlichkeit war verblüffend - während Carlos seiner Mutter kein bisschen ähnlich sah.
Verwirrt starrte Namakiha in die blauen Augen von Leylas Vater.
Gyras versteifte sich plötzlich. „Er wurde
gelöscht!“
Namakiha warf ihrem Freund einen fragenden Blick zu.
„Das bedeutet“, erklärte Gyras, „dass er nicht mehr existiert – und nie existiert hat. Er wurde komplett gelöscht.“ Er verzog den Mund. „Hier steht, dass seine Rassezugehörigkeit ungeklärt ist. Nach seinem Verschwinden hatten sie wohl Angst, jemand könnte davon erfahren, dass er eben kein echter Terraner war – und sie haben ihn gelöscht.“
„Aber das macht doch keinen Sinn!“ widersprach Namakiha. „Alles nur wegen einer ungeklärten Rassezugehörigkeit?“
„Hier steht außerdem, dass er allein im Doka-System unterwegs war, und nicht mehr zurückkam. Hm, das ist ja schon fast suizidal, da allein hineinzufliegen.“
Namakiha schnappte nach Luft, als ihr klar wurde, zu welcher Rasse Carlos Nayims Vater wohl gehört haben musste. Zu welcher Rasse Leyla gehörte – und in wessen Händen sie sich befand.
Diese Erkenntnis schnürte ihr die Kehle zu. Ob es wohl einen Weg gab, Leyla zu retten? Oder war es schon zu spät? Und warum hatten sie sie entführt? Jemanden ihrer eigenen Art? Warum hatten sie Elana Nayim entführt? Warum war sie schwanger zurückgekehrt? Warum war sie überhaupt zurückgekehrt? Würde Leyla wieder zurückkehren?
„Kiha?“
Namakiha warf Gyras einen traurigen Blick zu. Er griff nach ihrer Hand und nahm sie zwischen seine.
„Wir werden sie finden.“
„Wenn sie noch lebt…“ Namakiha schluchzte und legte ihren Kopf auf Gyras Schulter. Was war einfacher: Ins Doka-System zu fliegen und nach Leyla zu suchen – oder auf „löschen“ zu klicken, so als wäre nichts geschehen?
Bei diesem Gedanken knurrte sie leise.
Politik war so einfach.