Kapitel 95 – Der Mensch denkt, Gott lenkt
Kapitel 95 – Der Mensch denkt, Gott lenkt
Naike hatte nur noch eines im Kopf, die Frage nach dem tatsächlichen Vater ihres Kindes. Das Gespräch mit Jessica hatte sie endgültig mürbe gemacht, aber wie Adam Joseph gegenüber bereits richtig vermutet hatte, wollte sie ihre Sicherheit und Geborgenheit auf keinen Fall aufgeben.
Als sie wieder einmal zu lernen versuchte und es ihr keine fünf Minuten gelang, sich zu konzentrieren, fasste sie einen Entschluss. Sie zog sich die Winterjacke über, informierte kurz Jessica, dass sie zum Einkaufen wolle und verließ dann schnellen Schrittes das Haus zu Fuß Richtung Hafen.
*
Mit vor Aufregung wild klopfendem Herzen erklomm sie die Stufen zum Haus von Voodoo Mom.
"Hallo Naike, ich habe dich schon erwartet." - "Dann weißt du auch warum ich hier bin?" - "Setz' dich schon mal an den Tisch", forderte Voodoo Mom sie auf, ohne auf ihre Frage einzugehen.
Naike wusste, dass es bei der Voodoo-Hexe keinen Sinn machte, um den heißen Brei herumzureden, und fiel deshalb gleich mit der Türe ins Haus.
Voodoo Mom schloss ihre Augen und bewegte sich minutenlang nicht, murmelte nur ab und zu ein paar unverständliche Worte. Dann riss sie plötzlich die Augen weit auf und starrte in ihre Kristallkugel. Obwohl Naike Trance-Zustände nicht fremd waren, fühlte sie in diesem Moment einen eiskalten Gruselschauer ihren Rücken entlang kriechen, wahrscheinlich lag dieses Empfinden aber weniger an der geheimnisvollen Situation, als an dem, was sie gleich hören würde.
Als sich die schwarze Dame wieder geerdet hatte, hielt sie die Anspannung nicht mehr aus: "Und, hast du ihn gesehen???" Voodoo Mom nickte. Unter Naikes rechtem Auge zuckte es seltsam, und auch ihr Unterkiefer setzte sich wie von allein leicht zitternd in Bewegung. "Ich habe ihn gesehen, ja. Aber meine Intuition sagt mir, dass ich es dir verschweigen soll." - "Waaas?" "Komm, ich mach dir mal einen Beruhigungstee, deine Aura ist unschön verformt. Entgeistert starrte Naike in die Kugel, sah aber nichts außer durchsichtigem Glas. Kein Paul, kein Adam, kein Joe und auch kein Ramon - einfach nur gähnende Leere.
"Es tut mir leid, Kind, aber ich sah, dass es besser für dich ist, wenn du den weltlichen Weg gehst und dadurch
allen Beteiligten reiner Wein eingeschenkt wird. Wenn ich dir jetzt und hier sage, wer der Vater deines Sohnes ist, wirst du die Antwort in dir einmauern und sie wird vor sich hin gären und eines Tages ... du weißt sicher, wie ich das meine. Tue das dir und niemand anderem an!" Naike trank ihren Tee und mit jedem Schluck wurde sie ein wenig ruhiger, die Tasse schien etwas zu beinhalten, was befähigt war, Affen zu domptieren. Wenn die hellbraune, seltsam riechende Flüssigkeit sie auch nicht gänzlich verscheuchen konnte."
"Du bist mir nicht böse, oder?!" Naike verneinte. "Ich danke dir, Voodoo Mom, und werde über alles noch einmal nachdenken." - "Gut so, meine Liebe, ich wünsche dir viel Kraft, höre auf dein Herz! Und vergiss nie, wie Salomon einst so treffend formulierte: Der Mensch denkt, Gott lenkt."
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An Seans erstem Geburtstag wurde Paul wieder befördert. Nun trennte ihn nur noch ein Dienstgrad von seinem Ziel, General zu werden. In Platinlaune kam er nach Hause und wurde stürmisch von seiner Familie begrüßt. Dann warfen sich alle in Schale, denn schon bald würden die ersten Gäste eintrudeln. Naike war ultranervös, denn es war klar, dass sie heute Adam das erste Mal nach Julias Abflug wiedersehen würde. Ihre Hand zitterte beim Wimpern tuschen so sehr, dass sich die schwarze Paste letztlich überall befand, nur nicht auf den Wimpern. Aber was auch immer kommen mochte, sie wollte glänzen an diesem Abend, und so cool wirken wie nur irgend möglich. Die aufgesetzte Coolness hielt allerdings keine fünf Minuten, denn bereits die ersten Gäste brachten sie völlig aus dem Konzept.
"Naike, bestätige mir bitte, dass
das wirklich unsere Julia ist, sonst glaube ich noch an Gespenster", stammelte Jessica. Aber auch Naike konnte kaum glauben, wie stark sich ihre ehemalige Mitbewohnerin, Adams Tochter, sich in den vergangenen Monaten verändert hatte. Nur noch ihr fröhliches Lachen erinnerte an das Teenager-Mädchen, dass sie im Frühsommer verabschiedet hatten, sie hatte sich in eine wunderhübsche junge Dame verwandelt.
Aber noch mehr staunte Naike über Ramon Alvarez, der seine Freundin überraschend begleitete. Er hatte nichts mehr von dem schüchternen Jungen von damals, die Zeit hatte ihn zu einem attraktiven jungen Mann reifen lassen. Und dann kam gleich die nächste Überraschung ...
"NICOLAS!!!" Naike stieß einen Schrei aus, sprang ihrem alten Freund auf den Arm und drückte ihn so sehr, dass es ihm beinahe den Atem verschlug.
"Das ist einfach wunderbar, dass du kommen konntest“, jubelte sie, „hast du in der Nähe zu tun?!" - "Nein, meine Liebe, ich bin extra angereist. Erstens hatte ich Sehnsucht nach euch und zweitens wollte ich es mir nicht nehmen lassen, endlich deinen Sohn kennen zu lernen. Die MJN werden mich wahrscheinlich degradieren, aber das nehme ich in Kauf", witzelte Nicolas.
"Und das hier ist der junge Mann, hm?! Hallooo, ich bin der Onkel Nic", flötete er und kitzelte Sean am Kinn. Dieser sah ihn etwas scheu an und versteckte sein Köpfchen an Julias Schulter, grinste aber keck. "Ich freue mich auch
dich wieder zu sehen, Julia, du bist eine Traumfrau geworden! Ach was, das warst du schon immer!" Die beiden strahlten sich so zärtlich an, dass sich Ramon erstaunt am Kopf kratzte. Aber dann erinnerte er sich daran, dass Nicolas einige Zeit lang wie ein Vater für Julia gewesen war. Naike ließ die beiden turteln und übernahm Sean, um ihn schnell frisch zu machen, denn zur Feier des Tages hatte er ein ordentliches Geschäft in seine Windel produziert.
Beinahe wäre sie mit Adam zusammengestoßen, denn sie hatte im Trubel gar nicht bemerkt, dass weitere Gäste eingetroffen waren.
"Er ist ordentlich gewachsen." Die junge Mutter nickte und hielt ihren Sohn wie ein Schutzschild vor ihren Körper.
Eva begrüßte Naike relativ kühl, aber mit einem höflichen Lächeln. Dem Geburtstagskind schenkte sie ein herzliches. "Hast du das Geschenk, Joe?!" - "Äh ... nee, Mist, das liegt noch im Auto, ich hole es gleich."
"
Ich hole es, Liebling, du hast dir soviel Mühe damit gegeben", sagte Adam und sah seine Freundin liebevoll an. In Naikes Hals bildete sich ein fieses Kloßgefühl und sie spürte im Nacken, dass sie von Joseph genau beobachtet wurde.
"Du siehst toll aus. Und dir gratuliere ich ganz herzlich zum Geburtstag, kleiner Sean. Wo ist sein Vater eigentlich?" Naike erkannte sofort am Tonfall, dass Joe diese Frage doppeldeutig meinte, doch für eine passende Antwort ergab sich keine Gelegenheit ...
... weil Julia sich gerade lautstark in die Arme ihres Vaters stürzte, der ihrer sichtlich stolz geäußerten Ansicht nach "endgeil" aussah.
"Julchen, verteilst du bitte schon mal den Kuchen, ich mache Sean eben frisch, ja?!" - "Gerne", sagte Julia, und Naike wankte auf Puddingbeinen Richtung Kinderzimmer.
Kurze Zeit später waren alle gut versorgt und mampften Naikes Spezial-Mandarinentorte, die ihr auch in dieser Welt jedes Mal perfekt gelang und zu jeder Feierlichkeit einfach dazu gehörte. Nur Eva verzichtete dankend mit dem Hinweis auf ein wichtiges Foto-Shooting am nächsten Tag.
Inzwischen waren auch noch Dr. Blythe, Voodoo Mom und Carla eingetroffen, stürzten sich begeistert auf die Torte und schnatterten wild durcheinander.
Sogar Halina kam mit ihrer kleinen Susanne vorbei, die ebenfalls in den vergangenen Wochen einen ordentlichen Schuss gemacht hatte.
"Hey, Halina! Toll, dass ihr gekommen seid, Sean wird sich sicher über eine Spielkameradin in seinem Alter sehr freuen. Sollen wir mal ausprobieren, ob die beiden miteinander klar kommen?" Naike hatte das nicht ganz uneigennützig vorgeschlagen, denn so hatte sie die Gelegenheit, Adams Blicken wenigstens für ein paar Minuten zu entkommen.
Susanne und Sean hatten sich gleich begeistert auf das Puppenhaus gestürzt und so konnten die beiden Mütter für einen Moment in Ruhe ein paar Worte wechseln. Halina ging es gut, sie wohnte zwar noch immer bei Kappes, hatte aber inzwischen ein kleines Häuschen für sich und ihre Tochter in Aussicht, die MJN hatten sie dabei in jeglicher Hinsicht unterstützt. Armin hatte man den Prozess gemacht und aufgrund der eindeutigen Beweislage würde er wohl für eine lange Zeit hinter Schloss und Riegel bleiben müssen.
"Und wie geht es dir, Nai?" Ich kann dich nur beglückwünschen, dass du so schnell wieder abgenommen hast, das war mir leider bisher nicht vergönnt." - "Ach Halina, du siehst doch auch toll aus, ich finde die paar Kilo mehr stehen dir hervorragend, ganz ehrlich." Halina freute sich über das Kompliment, bemerkte aber einen Schatten im Blick ihrer Freundin. Naike sah keinen Grund, ihr die Situation zu verschweigen und erzählte deshalb frei heraus, dass sich gleich vier Männer unter den Gästen befänden, die alle Seans Vater sein könnten. Halina war völlig überrascht und wusste zuerst gar nicht was sie dazu sagen sollte. Sie nahm Naikes Hand und drückte sie liebevoll. "Lass es bitte testen, kann ich dir nur raten. Es ist ungeheuer befreiend, wenn man die Wahrheit weiß, auch wenn sie einem nicht in den Kram passt. Du wirst dich sicher mit jeder Antwort über kurz oder lang arrangieren können, ich habe es doch auch geschafft und Armin inzwischen verziehen. Ich habe ihn auch schon einige Male besucht, er hat furchtbar geweint, als er Susanne sah." - "Und was treibt Melissa?" - "Sie hat geschworen, sich nie wieder in ihrem Leben mit einem Kerl einzulassen", grinste Halina schmunzelnd.
"Papa!", rief Susanne plötzlich, als hätte sie genau verstanden, über wenn ihre Mutter gesprochen hatte, und biss herzhaft in ein Püppchen, welches Sean ihr sofort entriss, um es ebenfalls mal zu probieren. Die beiden Mütter lachten. "Komm, wir schauen mal, was der Rest der Bande macht!"
Der Rest der Bande lungerte von der Kuchenfutterei offenbar völlig entkräftet im Wohnzimmer herum und schaute Fernseh-Nachrichten. Das wollte Naike nun schnell ändern.
"Zeit für ein Tänzchen!", rief sie laut, ich will hier ein bisschen Stimmung in der Bude, sonst gibt es nachher noch eine schlechte Partybewertung!" Keiner kapierte, was Naike damit meinte, aber die Salsa-Rhythmen, die nun aus der Stereoanlage klangen, motivierten zumindest einen Teil der Gästeschar zur Bewegung.
"Los Paul, hoch die Beine!" - "Aber ... äh ... ich kann gar nicht tanzen, lediglich Klammerblues." - "Na, der kommt zur Belohnung dann später dran", lachte Naike und schaffte es inzwischen nun doch wieder, cool und locker zu wirken. Es fragte sich bloß, wie lange …