„Was ist geschehen?", sagte er hastig.
Ich sah zu ihm auf und blinzelte verwirrt. Er ließ sich neben mir auf den nicht vorhandenen Boden fallen.
„Eure Schwester?", fragte er leise, und ich nickte.
„Es war mir nicht möglich, das Leben Eurer Schwester…", begann er, brach aber dann ab und sah mich lange an.
„Ich versuche schon seit Tagen, zu Euch zu gelangen", sagte er ruhig.
Ich ließ meinen Blick über ihn gleiten. Er hatte klare, warme, graue Augen; das schwarze Haar war schmutzig und zerzaust, sein Bart struppig. Seine Kleider waren nur noch Fetzen, er trug keine Schuhe, und seine Hände und sein Gesicht starrten vor Schmutz. Auf der linken Wange hatte er eine Reihe schmerzhaft aussehender Kratzer.
2
„Wer seid Ihr?", wollte ich wissen.
Er zuckte die Achseln.
„Ich habe meinen Namen vor langer Zeit verloren", erwiderte er.
Ich schwieg eine Weile und sah ihn abwartend an, aber er sagte nichts mehr.
„Habt Ihr Meduria von mir fern gehalten?", versuchte ich es mit einer anderen Frage.
Wieder zuckte er die Achseln, er wirkte erschöpft.
3
„Sie ist stark", sagte er.
„Man kann sie nicht lange von etwas… abhalten."
Er lachte bitter. Dann beugte er sich vor und sah mich eindringlich an.
„Nichts auf der Welt ist größer als mein Hass auf diese Zauberin", sagte er, und ich erschrak. Deutlich konnte ich diesen Hass in seinen Augen sehen.
„Ich verfolge alles, was sie tut", fuhr er fort.
„Sie war lange Zeit fort. Ich weiß nicht, wo sie all die Jahre war, aber jetzt ist sie plötzlich wieder da, mit ungebrochener Kraft und machtvoller denn je. Und Ihr habt ihr Interesse erregt."
Mich fröstelte plötzlich.
„Woher wusstet Ihr von meiner Schwester?", fragte ich dann.
„Ich konnte Euch heute erreichen. Etwas hat Euch so erschüttert, dass Eure Abwehr brüchig geworden ist und Ihr Euch geöffnet habt. Und ich kann in gewisser Weise… sehen, was Meduria plant. Ich wusste, was sie mit Eurer Schwester vorhatte."
Ich schüttelte den Kopf.
„Runcal hat meine Schwester getötet", erwiderte ich.
„Man hat sein Zeichen in der Asche des Kamins gefunden."
„Ja, ich weiß", gab er zurück.
„Aber es geht nicht ohne Meduria."
Er senkte den Kopf. „Wenn es mir nur gelungen wäre, Euch früher zu erreichen…" Seine Stimme erstarb.
„Wie…", begann ich, doch ich konnte den Satz nicht zu Ende führen, meine Stimme brach.
Aber er verstand mich auch so.
„Shainara hat Rhiannons gesamte Familie mit einem Schutzzauber umgeben, dem gleichen Zauber, der auch Artair schützt", erklärte er.
„Aber wenn eine Frau einem Kind das Leben schenkt, dann wirkt dieser Zauber für eine kurze Zeit nicht, weil die Seele des Kindes nach der Seele der Mutter sucht, um eine Verbindung einzugehen. Und das ist mächtiger als jeder Zauber. In jener kurzen Zeitspanne sind Mutter und Kind offen, um sich erkennen zu können. Und diesen Moment hat Meduria abgepasst."
6
Erschüttert schloss ich die Augen. Ich hatte schon vieles gesehen auf den Schlachtfeldern, hässliche und furchtbare Dinge; aber ich war fassungslos angesichts dieser Grausamkeit. Es verging eine ganze Zeit, bis ich wieder sprechen konnte.
„Und der Mann meiner Schwester?", wollte ich dann wissen.
„Aber das wisst Ihr doch", sagte er, und ich nickte langsam.
Wir verfielen wieder in Schweigen.
„Warum erzählt Ihr mir das alles?", fragte ich ihn nach einer Weile, „Wollt Ihr, dass ich Euch helfe? Ihr seht nicht aus, als ginge es Euch gut."
Ein trauriger Zug lag um seinen Mund.
„Ihr könnt mir nicht helfen", sagte er dann.
7
„Es gibt keine Hilfe für mich, denn dass ich bin, wo ich bin, habe ich nur mir selbst zu verdanken."
Er machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.
„Die Frage ist doch eher: was sollen wir tun?"
Ich sah ihn aufmerksam an. „Warum sollte ich Euch trauen?"
„Ich erwarte nicht, dass Ihr mir traut", entgegnete er.
„Ihr wäret dumm, würdet Ihr es tun, und Ihr seid alles andere als dumm. Deshalb mache ich Euch einen Vorschlag."
Er stockte.
„Ich habe gesehen, was den Kindern der Cul´Dawr widerfahren ist. Auch ich habe einst, vor langer Zeit, die Kunst der Magie studiert."
9
Einen Moment lang glitt sein Blick ins Leere.
„Es kommt mir vor, als sei das Jahrtausende her", flüsterte er.
Dann wandte er den Kopf und sah mich erneut eindringlich an.
„Geht zu Mártainn und Shainara und erzählt ihnen von mir. Berichtet ihnen, was ich gesagt habe. Und dann sagt ihnen Folgendes: der oberste Druide der Königreiche verwahrt ein Buch, von dem es angeblich nur ein einziges Exemplar gibt. Es ist den Druiden bei Todesstrafe verboten, dieses Buch auch nur zu öffnen. Sagt ihnen, in diesem Buch werden sie die Lösung finden."
Ich nickte langsam.
„Und dann ist es an Euch", sagte er leise.
„Wenn Ihr mir nicht trauen wollt, verschließt Euch vor mir, und ich werde nicht versuchen, Eure Abwehr zu überwinden. Aber wenn Ihr Euch entschließt, Euch zu öffnen…"
Er lächelte mich an.
„Dann werden wir das nächste Mal den Raum unserer Begegnung mit etwas Ansprechenderem füllen als dem hier."
Er stand auf und machte eine ausholende Geste in Richtung der weißen Nebel.
10
„Mit etwas, das uns mehr entspricht und das angenehmer ist."
Er lächelte mir nochmal zu.
„Ich hoffe sehr, dass wir uns bald wieder sehen", sagte er sanft, dann wandte er sich um und verschwand einfach im Nichts.
Der Nebel begann, wieder um mich herumzuwirbeln, die Übelkeit kehrte zurück, und dann konnte ich das Gras unter meinen Händen spüren und blinzelte ins Sonnenlicht.
11
Mein Kopf schien fast zu zerspringen.
Personenverzeichnis ~
Stammbaum