Kapitel 87: Auf dem Spielplatz
Die Mathestunde zog sich noch endlos hin. Doch irgendwann erlöste die Schulglocke die Kinder und das Wochenende konnte beginnen. Trotz der Unterbrechung durch Frau Abel war die Nachricht, dass man sich nachher auf dem Spielplatz treffen wollte, erfolgreich unter das Volk gebracht worden. Karlotta kam kurz nach Hause, schlang hastig ein Butterbrot hinunter und erzählte mir, dass sie zu Shamika gehen werde und spätestens um 21 Uhr wieder zurück wäre. Da es Freitag war, hatte ich nichts dagegen einzuwenden. Aber natürlich ging sie nicht zu Shamika, sondern ging wie verabredet zu Spielplatz, wo sie und ihre Freunde sich schon des Öfteren getroffen hatte. Alle anderen waren auch schon da. Es fehlte nur noch Julian. Also rief Karlotta ihn an, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen „Hast du das Bier besorgt? Wir warten alle schon.“ „Ich bin gleich da, Liz. Mein Bruder hat uns zwei Sixpacks besorgt, aber ich musste erst meine Eltern los werden. Ich bin in ein paar Minuten bei euch.“
Julian hatte nicht gelogen. Mit den beiden Sixpacks in der Hand kam er auf die Gruppe zu. „Du bist echt der Beste, Julian“, lobt Karlotta ihren Freund und sofort scharte sich die gesamte Gruppe um ihn. „Habt ihr Plastikbecher dabei?“, frage er in die Runde. „Klar“, grinste Annabelle, „wir sind schließlich keine Barbaren, die aus der Flasche trinken.“
Während die anderen bereits die Plastikbecher hervorholten und die ersten Bierflaschen öffneten, nahm Thassilo seine Cousine unauffällig beiseite. „Liz, meinst du wirklich, dass das hier eine gute Idee ist? Bier? Und dann auch noch auf einem Spielplatz? Was wenn wir erwischt werden?“
Zu Erwiderung machte Karlotta nur eine wegwerfende Handbewegung. „Thass, was bist du denn für ein Schisser?“, fragte sie. „Bist du zwölf, oder was? Bei ein bisschen Bier ist doch nichts dabei. In zwei Jahren können wir es sogar ganz offiziell überall kaufen. So schlimm kann es also nicht sein. Außerdem sieh dich um, hier ist doch keiner. Wir haben uns in dieser Ecke schon öfter getroffen und hierhin verirrt sich nie jemand. Sei also ganz unbesorgt.“
So wie das bei Teenagern nun einmal ist, konnte Thassilo dem Gruppenzwang nicht lange standhalten. Als alle ihren Becher Bier in der Hand hatten, griff auch er zu. Der erste Schluck schmeckte noch widerlich. Als er aber sah, dass die anderen trotz des bitteren Geschmacks keine Miene verzogen, selbst die Mädchen nicht, riss er sich zusammen und trank das Bier. Und mit jedem Schluck wurde der Geschmack weniger unangenehm.
Und die Stimmung der Kinder wurde ausgelassener. Sie begannen zu scherzen, laut zu lachen und zu schreien. „Ich will aufs Trampolin!“, rief Karlotta plötzlich. „Wer macht alles mit?“ Ein lautes Gewirr aus „Ich“-Rufen ertönte und die Kinder lieferten sich einen Wettlauf zu den beiden Trampolinen auf der anderen Seite des Spielplatzes.
Der Lärm, den die Teenager-Horde auf dem Trampolin veranstaltete, blieb auch den anderen Besuchern des Spielplatzes nicht verborgen. So manch eine Mutter oder Großmutter schaute hinüber zu den Halbwüchsigen, die auf dem Trampolin randalierten. Aber da sie sich noch von den Spielgeräten für die jüngeren Kinder fernhielten, wagte keiner etwas zu sagen.
Nach einigen Minuten brauchte Karlotta eine Pause von dem Gehüpfe. Während also Annabelle ihren Platz auf dem Trampolin einnahm, sah Karlotta sich auf dem Spielplatz um. Ihr Blick fiel auf einen kleinen Jungen, etwa acht Jahre alt, der mit einer Pappkrone auf dem Kopf und einem Zepter in der Hand auf einem Stuhl stand und mit der Luft redete.
So ein Vollidiot, dachte Karlotta und ließ ihre Fingerknöchel knacken.
Wer sich so lächerlich verkleidet in die Öffentlichkeit wagt, der hat es doch auf eine Abreibung angelegt.
Kurzentschlossen ging sie auf den Jungen zu. „Was bist du den für eine Witzfigur?“, fragte sie provozierend. Verunsichert schaute sich der Junge um. Meinte das Mädchen etwa ihn? Er hatte doch gar nichts gemacht. „Ich…ich spiel hier nur“, stammelte er verschüchtert und stieg vom Stuhl hinunter. „Na, willst du jetzt zu deiner Mama laufen, du kleiner Schwächling“, setzte Karlotta ihre Drohungen fort. „Nein…ich…ich bin alleine hier. Ich wohne nicht weit weg“, stotterte der Junge. Und Karlotta grinste. Perfekt, wenn die Mutter nicht hier war, dann brauchte sie sich auch keine Sorgen zu machen, dass es Ärger geben könnte. Drohend baute sie sich vor ihm auf. „Kleine Trottel wie du haben eins auf den Deckel verdient.“ „Was habe ich denn gemacht?“, schluchzte der Junge. „Was du gemacht hast? Was du gemacht hast!? Es reicht das du mit deiner Anwesenheit meine Augen beleidigst!“
„Und jetzt scher dich zum Teufel! Das ist mein Spielplatz, damit das klar ist. Und ich will Typen wie dich hier nicht sehen. Los, verschwinde aus meinem Blickfeld!“ Das brauchte Karlotta nicht zweimal zu sagen. Mit Tränen in den Augen dreht der Junge sich um und lief zum Ausgang des Spielplatzes, so schnell ihn seine dünnen Beinchen tragen konnten.
Die anderen hatten von dieser Szene nichts mitbekommen. „Hey, wo warst du denn“, fragte Annabelle, als Karlotta wieder zu den Trampolinen zurückkehrte. „Wir haben dich schon vermisst.“ Es schmeichelte Karlottas Ego, diese Worte zu hören. Aber sie erzählte ihrer Freundin nicht von dem Vorfall. Dass war ihr ganz persönlicher Spaß gewesen. Die anderen brauchten davon nichts zu wissen. „Ich wusste mal für kleine Mädchen“, flunkerte sie deshalb. „Aber hier auf dem Trampolin ist es auf Dauer echt öde. Haben wir noch Bier da?“
Ja, es war noch Bier da. Sie hatten die restlichen Flaschen zuvor gut in einem Gebüsch versteckt. Also gingen sie alle wieder zurück, machten es sich auf der Parkbank in der hintersten Ecke des Spielplatzes gemütlich und tranken das restliche Bier.
Erst Bier, den Trampolin, dann noch mal Bier. Das konnte einem schon auf den Magen schlagen. Insbesondere wenn man seit dem Mittag nichts mehr gegessen hatte. Und so war Julian der erste, der sich an diesem Abend übergeben musste. Und wenn er auf die Hilfe und das Mitgefühl seiner Freunde gehofft hatte, so wurde er enttäuscht. Die machten sie nämlich lieber über das „Baby“ lustig, was keinen Alkohol vertrug. Zum Glück zückte niemand sein Handy, um dieses Ereignis für die Ewigkeit festzuhalten.
Doch Julian blieb gar nicht lange Zeit, sich über das Verhalten seiner Freunde zu ärgern. Zunächst hörten sie die Polizeisirene nur in weiter Ferne und dachten sich nichts dabei. Doch dann wurde diese lauter und durch das Gebüsch konnte man das Blaulicht gut erkennen. „Fuck, die Polizei!“, schrie Shamika panisch. „Die wollen uns bestimmt verhaften!“
Augenblicklich brach Panik unter den Kindern aus. „Wir müssen hier weg, sofort“, schrie jemand. „Klettert über den Zaun! Schnell!“, erklang eine andere Stimme. „Lauft alle in unterschiedliche Richtungen“, rief Karlotta ihren Freunden zu. „Dann können sie uns nicht alle erwischen.“ Das klang nach einem vernünftigen Plan und die Freunde verteilten sich in Windeseile in alle Himmelsrichtungen. Während die Jungs versuchten über den Zaun zu klettern und Annabelle und Shamika sich einen Weg durch das Gebüsch bannten, versuchte Karlotta es durch den Haupteingang…und lief dem wartenden Polizisten direkt in die Arme.
Der Polizist bekam sie am Arm zu fassen, drehte sie mit dem Rücken zu sich und schlang seine Arme um Karlotta. Er hatte sie fest im Griff. Alles Treten und Strampeln hatte keinen Sinn. Sie konnte ihm nicht entkommen. „Lassen Sie mich los!“, rief sie dennoch entrüstet. „Wissen Sie, wen Sie vor sich haben? Ich bin Lady Karlotta Hartfels, die Tochter von Lord Hartfels. Wenn Sie mich nicht sofort gehen lassen, dann werden Sie aber so richtig Ärger mit meinem Vater bekommen!“ Doch diese Worte beeindruckten denn Polizisten nicht. Er drückte sie auf den Beifahrersitz seines Wagens und verriegelte die Tür. Dann fuhr er los.