Kapitel 18: Tribut
Ciel starrte mich fassungslos an. Doch ich war nicht
fähig, ihr auf ihre offensichtlichen Fragen zu antworten.
All meine Kraft war aus mir gewichen. Ich fühlte mich so unglaublich
leer und mein Inneres brannte fürchterlich. Doch ich rief mir meinen
einzigen unerbittlichen Antrieb wieder ins Gedächtnis- Crone. Ich musste ihn retten. So drückte ich mit aller Macht die riesige
Tür vor mir auf. Crones Stimme drang an mein Ohr, ein Schrei, ein
Keuchen, ein Knall.Ich warf mich gegen die unglaublich schwere Tür,
drückte dagegen und endlich gab sie mir nach. Ich stürmte in
den Raum vor mir,riss meine Augen weit auf, doch das,
was ich sah, war nichts, was ich hatte sehen wollen.
Da lag Crone, blutend, bewusstlos
auf dem Boden.

Ich wollte zu ihm, wollte ihn versorgen,
doch mein Körper versagte seinen Dienst. Da
bewegte er sich, wollte sich aufraffen, stützte sich auf seine
Arme und sah mich an. Sein Gesicht war geprägt von unendlichem
Entsetzen, als er mich sah. Es brach mir das Herz, ihn so zu sehen,
blutüberströmt, kraftlos, verwundbar. Doch da schoss mir etwas
ins Gedächtnis- Crone konnte nicht bluten.
Es konnte nicht sein Blut sein, das sich über ihn ergossen haben konnte.
Da schoss Ciel hinter mir hervor. Sie rannte zu Crone,
fiel vor ihm nieder und umarmte ihn. Doch mein
Blick wanderte umher. Da stand er,
sichtlich überrascht, aber doch
triumphierend grinsend
- Gervon.

Meine Augen weiteten sich noch mehr,
doch Crone zog meine Aufmerksamkeit wieder auf
sich. „Brianna, was…“ seine Stimme brach weg und war so
unglaublich rau und verwundet, insofern Samt rau sein konnte.
Endlich gehorchte mir mein Körper wieder. Ich rannte auf ihn zu, den
schier endlos scheinenden Weg. „Bleib, wo du bist!“ scharf wie eine
Klinge durchschnitt Gervons Stimme den Raum. Reflexartig
gehorchte ich und fuhr herum. Ich unterdrückte meine
Angst, wollte autoritär wirken und schob mein Kinn
hervor, als ich ihn anblickte. Ich versuchte
stolz zu wirken, furchtlos, doch
es gelang mir nicht.
„Was?“

wenigstens meine Stimme klang so,
wie ich es beabsichtigt hatte- wütend. Das Lächeln
auf seinem Gesicht kehrte zurück. „Ich dachte, du bist wegen mir
gekommen.“ Antwortete er zynisch. Meine Erinnerungen daran,
was ich vorhatte, schossen zu mir auf. Ich durfte
mir keinen Fehler erlauben, meinen
Gefühlen nicht nachgeben.
Ich warf einen Blick auf Crone und
mein Herz zog sich zusammen, angesichts dessen, was
ich gerade begann zu tun. „Das bin ich.“ Ich senkte meinen
Kopf und meine Stimme glich der eines kleinen Kindes, das gegen seinen
Willen seiner Mutter gehorchte. Crone bellte wütend
auf, doch Ciel hielt ihn. „Dann komm zu mir.“
Hielt mir Gervon auffordernd
seine Hand entgegen.

Ich atmete tief ein, fasste mich und machte
einen Schritt auf ihn zu. „Nein!“ schoss Crone blitzartig
hinter mir auf. Ich gefror. Er stürzte auf Gervon zu und wollte
sich auf ihn werfen, doch er prallte an einer unsichtbaren Wand ab.
„Gib endlich Ruhe!“ Ein unsichtbarer aber dennoch schmerzlich präsenter
Druckwall erfasste Crone und warf ihn erneut gegen
eine der Wände. Er blieb regungslos liegen.
„NEIN!!!!“ ich stürzte auf ihn zu, ungeachtet der
Schmerzen, die mich durchzogen, als ich denn Energiewall durchquerte.
„Bleib wo du bist, Brianna, oder er ist tot!“ Gervon giftete hinter
mir auf und ich gehorchte, so vielBeherr-schung es mich
auch kostete. Ciel rettet ihn, sie wird ihn retten,
ganz sicher, Du kannst nichts tun. Redete ich mir ein.
Den Weg, den ich einschlug, würde ich ganz allein gehen
können, mit dem Preis, Crone aufzugeben, aber mit dem
triumphalen Gewinn seines Lebens.
„Komm endlich zu mir. Das ist es doch, was du willst.“
Gervons Sarkasmus lies mich würgen. Ich hätte mich am liebsten übergeben.
Doch ich hielt meine Fassung aufrecht. Er würde das bekommen, was er
wollte- mich, doch meinen Stolz würde er nicht brechen, nie. Ich schritt
weiter auf ihn zu, diesmal ohne Crones Unterbrechung.
Mich trennten nur noch ein paar Meter von Gervon
und ich ging weiter.

„Na also. Das hätte doch auch so viel
einfacher gehen können. Aber ihr Menschen müsst ja erst
zu eurem Glück gezwungen werden.“ Immer noch selbstgefällig
grinsend zog er mich mit sich, zog mich durch eine Tür, schloss sie.
Ich fand meine Stimme wieder. „Warum?“ er sah mich verblüfft an. „Warum
willst du mich sosehr?“ ich presste die Worte aus mir heraus. „Hat er dir
das nicht gesagt?“ „Oh doch, das hat er. Ich meine, ich werde dich nie lieben.
Ich werde nie ganz dir gehören.“ Er lachte auf. „Oh, das meinst du.
Natürlich. Aber du gehörst doch jetzt schon ganz mir. Ich werde dich nicht
noch einmal gehen lassen, wenn du das meinst. Ich wüsste
außerdem keinen Anreiz mehr dazu.“ Er hob die Hand
zu einer unverständlichen Geste. Da durchschnitt Ciels
Schreidie Stille. Ich verkrampfte mich erneut. Doch ich musste um
jeden Preis meine Fassade aufrechterhalten.
Er lebt, er wird überleben. Du kannst ihm nur so helfen,
nur so. „Lass ihn gehen. Ich bleibe. Ich werde
nicht fliehen. Lass ihn nur gehen.“

„Oh, er kann gehen. Jederzeit.“ Ich atmete auf, bemerkte
den zweischneidigen Sinn seiner Worte nicht. „Also gut.“ Ich schloss
die Augen, versuchte den Brechreiz zu unterdrücken, der sich in mir anbahnte, angesichts dessen, was ich im Begriff war zu tun. „Es geht doch.“ Gervon
zog mich zu sich, nah an sich heran- zu nah. Doch ich konnte mich nicht
wehren, die Verzweiflung hatte mich bereits gepackt. Mein Lebenswille war gewichenund ich kämpfte nicht mehr gegen das an, was mit mir geschah.
Ich würde den Preis zahlen, den Cones Leben kostete, egal wie viele
Schmerzen es mir auch bringen würde.

Gervon zog mich an sich heran, drückte mich gegen seine Brust.
Doch anders als bei Crone fühlte ich mich nicht geborgen. Im Gegenteil,
mein Herz begehrte auf, wollte weg, wollte zu ihm, doch ich konnte ihm nicht nachgeben, nicht mehr, nicht jetzt, da ich meinen Weg einfach nur noch gehen musste. Ich hatte mir meine Route gesteckt und ihr würde ich folgen, bis zum
Ende, nur damit er leben konnte, ganz allein für Crones Leben. „Mach
dir keine Sorgen.
Auch du wirst mich eines Tages lieben.“

Erst realisierte ich gar nicht, was Gervon gerade
gesagt hatte, ich begriff nicht, was seine Worte in mir
auslösten. Doch dann entbrannte es in mir, eine ungeheure Wut,
der Wille, ihn zu töten, egal wie, ich wollte ihn tot sehen und ich hatte
auch eine Idee, wie. Ich sah zu ihm auf, die lodernde Wut unterdrückend.
Ich musste alles in mir heraufbeschwören, was ich konnte. Ich musste
den Ekel unterdrücken, die Abneigung, ich musste, so gut ich konnte, ich MUSSTE
einfach. Es war der einzige Weg, meinem Schicksal zu entrinnen und
vielleicht würde ich ihn eines Tages lieben. „Wer sagt denn, dass
ich fähig bin, Liebe zu empfinden?“ hauchte ich, seinen Blick such-
end. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und näherte meine
Lippen seinem Ohr. „Ich bin nicht fähig zu lieben.
Das einzige, was ich empfinde, ist Zuneigung.
Ich bin ein Geschöpf der Nacht- ein
Vampir- genau wie du. Ich geben
mich nicht solchen törichten Dingen
wie Liebe hin.“
Flüsterte ich, bemüht, verführerisch zu klingen.
Erstaunte Blicke waren mein Lohn. „Aber…?“ Gervon verstand
nicht, auf was ich hinaus wollte. „Crone? Vergiss ihn. Er war ein nettes
Spielzeug als ich mich weigerte, das Los anzunehmen, was mir zugedacht wurde. Ich wollte nicht das sein, was ich nun einmal bin, aber warum sollte ich etwas
daran ändern wollen? Ich kann haben, was ich will und nach was ich jetzt
begehre, weißt du doch, oder?“ ich strich vorsichtig mit meinen Fingern über Gervons Lippen, deutete ihm mit meinen Augen, was er nicht begriffen hatte. Schließlich leuchtete Erkenntnis in ihnen auf. Ein triumphierendes Lächeln erhalltesein Gesicht. „Ich wusste, du kommst zur Vernunft.“
„Ich warimmer vernünftig.“ Hauchte ich, bevor ich mich auf die Zehenspitzen stellte
und zu seinem Gesicht aufschloss.

„Ich werde dir zeigen, wie vernünftig.“ Meine
Lippen brannten, mein ganzer Körper begehrte auf, gegen das,
was mein Verstand ihm befahl. Selbst mein Herz rebellierte, doch mein
Verstand hielt alles in Schach. Ich würde ihm zeigen, was ich wollte. Etwas
in mir, ich konnte es nicht definieren, vielleicht ein Instinkt, schob sich an
die Spitze meines Bewusstseins. Er steuerte mein Handeln.
Ich glitt mit meinen Händen an Gervons Hals entlang, kam mit meinen Lippen von seinem
Mund ab. Einen Augenblick wollte er protestieren, doch dann begriff
er, was ich vorhatte. Er seufzte leicht, als ich von seinem Kinn an seinen
Hals küsste. Eine Gänsehaut folgte meinen Lippen. Meine
Hände ruhten auf seinen Schultern. „Das ist es,
was ich will“ hauchte ich.
