Es war, als hätte ich plötzlich eine Tür aufgestoßen, die vorher fest verriegelt war. Nein, die ich vorher noch nicht mal
gesehen hatte.
Ich war wieder und wieder gegen eine Wand gelaufen, ohne zu wissen, dass es eine Tür gab und sie einen Riegel hatte.
Es erinnerte mich an damals, als wir Kinder waren und Brayan versucht hatte, mir das Ohrenwackeln beizubringen.
Er hatte auf mich eingeredet und es mir genau erklärt, wieder und wieder; aber es wollte mir einfach nicht gelingen.
02
Weil ich keine Vorstellung davon gehabt hatte, kein Konzept, wie Ohrenwackeln funktionierte.
Ich hatte die Muskeln, die ich benutzen sollte, nie vorher gespürt, nicht mal gewusst, dass sie da waren; also hatte ich auch nicht gewusst, was ich tun musste und wie.
Solange, bis es auf einmal - nur durch Zufall - geklappt hatte.
Und genau in dem Moment, als sich meine Ohren das erste Mal bewegt
hatten, hatte ich gewusst, wie ich sie bewegen
konnte.
Worte waren nutzlos gewesen, das Wissen war mit dem Tun entstanden.
Und genauso war es jetzt.
Auf einmal war es ganz leicht. Ich brauchte nur wenige Anläufe, um eine Sicherheit zu erlangen, von der wir noch gestern nicht mal zu träumen gewagt hatten.
Elaria riss die Arme hoch.
03
„Jaaaaaaa!“, schrie sie und begann, vor Begeisterung auf und ab zu hüpfen.
Ihre Freude war ansteckend; ich spürte, wie sie unaufhaltsam in mir aufstieg und meinen ganzen Körper überrollte und sich einen Weg bahnte, und ich begann zu lachen.
04
Wir fielen uns um den Hals, lachten und lachten, bis uns die Tränen kamen und hüpften herum wie kleine Kinder.
Schließlich ließen wir uns erschöpft auf den Boden fallen, zufrieden und erleichtert.
05 Alternativbild
Endlich konnten wir einen Schritt weiter gehen und üben, was Shainara und Noreia uns aufgetragen hatten.
Als ich abends in meinem Zimmer war, legte ich mich nicht ins Bett, sondern setzte mich auf eine Bank, schloss die Augen und wanderte zu Runcals Festung.
06
Auch in den letzten beiden Nächten hatte ich mehrfach versucht, zu der Seelenkugel zu gelangen, aber jedes Mal erfolglos - Runcal war dort gewesen, und ich hatte deshalb den Raum nicht betreten können.
Und obwohl ich mich nicht manifestiert hatte, hatte ich bei meinem letzten Versuch gestern Nacht das Gefühl gehabt, als schiene Runcal meine Anwesenheit zu spüren.
Was mich mehr verunsicherte, als ich mir selber eingestehen wollte.
Und langsam wurde die Zeit mehr als knapp.
So stieß ich ein Stoßgebet aus, als ich mich auf den Weg machte. Und offenbar schienen die Götter mir heute hold zu sein.
Ich landete nicht in der Kammer, sondern auf dem Gang vor Runcals Räumen.
Ich atmete tief ein, um mich zu beruhigen; dann schloss ich erneut die Augen und konzentrierte mich.
Ja. Es war eindeutig. Runcal war hinter dieser Tür, und er schlief.
Und auch von Meduria weit und breit keine Spur.
Ich stellte mir die Kammer mit der Seelenkugel vor, und in weniger als einem Wimpernschlag war ich dort.
09
Ich sah mich um, aber sie schien leer zu sein.
Vorsichtig ließ ich zu, dass ich Gestalt annahm, und trat in den Raum ein.
Das Herz schlug mir bis zum Hals.
10
Einen Moment lang war mir wieder schwindelig, aber das Gefühl legte sich rasch.
Erneut sah ich mich um, ich war misstrauisch.
Hatte Runcal mich gestern wirklich bemerkt? Hatte er Verdacht geschöpft? War dies eine Falle?
Aber alles blieb ruhig; nur das Feuer knisterte im Kamin, und der Kessel über dem Feuer summte leise vor sich hin.
Behutsam setzte ich einen Fuß vor den anderen und trat zu der Kugel.
Immer noch absolute Stille.
Sanft legte ich meine Hände um die Kugel und holte tief Luft.
12
Jetzt ließ es sich nicht länger umgehen. Ich musste meine Aufmerksamkeit von der Umgebung abwenden und sie ganz auf die Kugel richten.
Zögernd begann ich, mich auf das pulsierende Gefäß unter meinen Händen zu konzentrieren; und ich spürte es sofort.
Ein glatter, undurchdringlicher Schutzschild.
Ich schloss die Augen und ließ meine Wahrnehmung über die Oberfläche wandern; langsam und behutsam, in winzigen Schritten.
Such nach kleinsten Unebenheiten, hatte Shainara gesagt.
Sie sind nicht physischer Natur, hatte Noreia ergänzt.
Aber da war nichts.
Und ich hatte, ehrlich gesagt, auch nicht die blasseste Ahnung, was Noreia damit meinte.
Ich vertraute einfach darauf, dass ich es schon bemerken würde, wenn es mir begegnete.
Ich wanderte nochmal zurück; versuchte, meine ganze Aufmerksamkeit, mein ganzes Sein auf die Kugel zu richten und auf nichts sonst.
14
Als gäbe es nichts außer dir und dieser Kugel im ganzen Universum.
Und plötzlich hatte ich das Gefühl, als ob ich tief in die Essenz der Kugel hineingleiten würde.
Als wären wir eins.
Und da war es.
Eine winzige Schwachstelle in dem so undurchdringlichen schützenden Schild, als sei die Magie dort nicht so fest verwoben wie an allen anderen Stellen.
Ich krallte mich fest, verankerte meinen Geist in diesem kaum wahrnehmbaren Riss, und ließ die Worte, die mir Shainara genannt und die ich mit Elaria geübt hatte, in mir aufsteigen.
Eine machtvolle Woge pulste durch meinen Körper, sammelte sich in meinen Fingerspitzen und sprang auf die Kugel über.
Ein hoher, klarer Ton schwebte durch den Raum, und kurz hatte ich Angst, dass jemand ihn hören könnte; aber dann verstummte er schon wieder, und die Kugel vibrierte fast unmerklich unter meinen Händen.
16
Ein winziges Netz feinster Risse breitete sich über die Oberfläche aus.
Sie glühten feurig auf, aber dann verblassten sie, mehr und mehr, bis sie komplett verschwanden und keinen Hinweis auf ihre Existenz zurückließen.
Ich löste die Hände von der Kugel und trat einen Schritt zurück.
Erleichtert atmete ich aus.
Der erste Schritt war getan.
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